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Alt 06.07.2010, 16:23   #1
Aporie
 
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Beiträge: 151

Standard Unterwegs am unvoraussagbaren Tag (Erster Teil)

Meine Mutter hatte die Gabe, jede Art von Prognosen in den Wind zu schlagen. Das ging so weit, dass sie auch einen Befund mit einer Prognose verwechseln konnte. „Der Herrgott bestimmt, wann ich zu gehen habe, nicht der Ultraschall“, sagte sie. Ihr Freiheitsdrang lag in einem lebenslangen Kampf mit einer einschmeichelnden Bereitschaft zum Gehorsam. Sie ging dann doch ins Spital zwecks einer genaueren Abklärung ihres Magengeschwürs.
Als ich sie besuchte, hatte sie die Augen schon an der Tür, durch die ich eintrat, und winkte fröhlich, als fände hier eine Party statt. Aus ihrer Miene strahlte eine übertriebene Schalkhaftigkeit -jederzeit bereit, in Lachen auszubrechen, als stünde dieser Ort nicht in Verbindung mit Schicksal und Unglück. Der bevorstehende Untersuch und die Ungewissheit, wie er ausgehen würde, schien sie nicht zu beschäftigen. Sie hatte sich Fröhlichkeit verordnet, um es - nach ihren Worten, nicht als Zumutung zu empfinden, in ein Zimmer mit Schwerkranken gebettet und auch selbst so behandelt zu werden.
„Siehst du die Frau dort drüben?“ Sie zeigte mit dem Finger auf ein Bett, das von medizinischen Geräten umstellt war. Von der Frau, die im Bett lag, war nichts zu sehen. „Sie liegt den ganzen Tag da, als wäre sie bereits tot, macht keinen Mucks, keine Bewegung, sie wird künstlich ernährt.“ Mutter warf einen Blick auf den halbleer gegessenen Teller, der auf dem schwenkbaren Tischchen neben ihr lag.“ Mir bringt man das Essen ans Bett“, sagte sie. „und pissen soll ich in eine Flasche. Dabei habe ich überhaupt kein Problem aufzustehen und auf die Toilette zu gehen. Was soll schon passieren?“ Sie machte ihre Geste des Abwinkens mit der Hand. „Natürlich gehe ich trotzdem“, sagte sie in vergnüglich wegwerfendem Ton.
Ich griff nach ihrer Hand. „In zwei Tagen kannst du schon wieder zurück ins Heim.“ Ich hielt es für besser, gar nicht darüber zu reden, weswegen sie hier war. Mutter hievte sich am Handbügel in Sitzlage und rückte ihr Haar zurecht. Es war sorgfältig frisiert. Bestimmt nicht von Schwesternhand, sie hatte das vor dem Toilettenspiegel gemacht. „Hast du Zigaretten bei dir?“ Sie wartete die Antwort gar nicht ab, schlug die Decke zurück und schwang ihre dürren Beinchen über den Bettrand.
Ich blickte verunsichert zur Tür, bevor ich ihr beim Aufstehen half. „Wo willst du denn hin?“ Sie griff nach dem Stock, den sie hinter dem Nachttischchen versteckt hatte und zeigte mit ihm auf das Fenster, hinter dem ein paar dünne Sträucher im Wind zitterten. Etwas weiter weg sah ich eine rote Parkbank. „Wenigstens hat man mir ein Bett am Fenster gegeben“, sagte Mutter, „da muss ich mir nicht immer diese kranken Frauen anschauen. Ich dreh mich einfach auf die linke Seite, aber die Aussicht ist nicht so schön wie im Stift.“
Ich war mir unschlüssig. Wenn man sie nicht auf die Toilette gehen lässt, darf sie natürlich auch nicht ins Freie. Aber sie hatte schon ihren Morgenmantel mit beiden Händen gepackt, ich musste ihr jetzt beim Reinschlüpfen helfen. „Und was, wenn eine Schwester kommt?“ „Pah“, sagte sie und machte erneut die Geste des Abwinkens. Sie hing sich bei mir ein und trabte los wie ein eingespanntes Pferdchen. Ich fühlte mich eher gezogen, als ob nicht ich sie, sondern sie mich führen würde.
„Ich muss jetzt eine rauchen“, erklärte Mutter, als sie über den mit hässlichen grauschwarzen Kieselplatten belegten Parkweg zur roten Bank drängte. Wir setzten uns, und Mutters Blick ruhte erwartungsvoll auf meiner Jackentasche, aus der ich das Zigarettenpäckchen kramte. Mit spitzen Fingern fischte sie eine heraus und zog schon gierig daran, bevor ich ihr Feuer gab. Ihre hohlen Wangen schienen im Mund zu verschwinden.

Wie tapfer und unverzagt meine Mutter ihre letzten Jahre schulterte, denke ich heute. Nur hin und wieder hatte sie, wenn sie mir gegenübersaß, diesen bei ihr eher gekünstelt wirkenden Zug des Leidens aufgesetzt und im Niederschlagen der gespielt traurigen Augen mit der Hand über den Rock gestrichen, als müsse sie etwas wegwischen.

„Ich mache es kurz“, sagte der Chefarzt, als er mich zwei Tage später anrief, „der Befund ist eindeutig. Auch wenn im Labor bösartige Metastasen gefunden werden sollten, könnte eine Operation beim Alter ihrer Mutter zu größeren Komplikationen führen, als wenn wir den Dingen ihren Lauf lassen.“ Als ich mit nichts als einem betretenen Schweigen antwortete, sagte er: „Ihre Mutter wird an diesem Magengeschwür sterben, das kann in drei Monaten sein oder in drei Jahren. Genau lässt sich das nicht voraussagen.“
„Weiß sie es?“ fragte ich, „ich meine, dass sie daran sterben wird?“
„Nein“, sagt der Arzt, „ich dachte, es Ihnen zu überlassen, ob sie mit Ihrer Mutter darüber sprechen wollen.“

Ich tat es nicht, weil ich dachte, das wäre so, wie wenn ich ihr die Haut abziehen würde. Sie schluckte Tabletten und rührte ein graues Pulver in ein Glas Rotwein, das sie in einem Zug austrank. Im Sitzen schlug sie die Beine angeberisch übereinander. Manchmal klagte sie über Bauchweh und legte die Hand auf ihr schrumpelndes Gewebe, aber eher wie eine schwangere Frau, die in ihrem Innern nach Lebenszeichen sucht. Als sie auf einem Spaziergang, den wir im Quartier machten, ein Hüpfspiel entdeckte, das Kinder mit blauer Kreide auf das Trottoir geriffelt hatten, zeigte sie mit dem Stock auf das oberste Rechteck, in dem HIMMEL stand. Sie fasste nach meinem Handgelenk, um sich abzusichern und schaffte auf einem Bein drei Hüpfer. Erst als sie nach den Regeln des Spiels in die Grätsche hätte hüpfen müssen, gab sie auf und ging auf beiden Beinen weiter. „Ich will doch in den Himmel kommen!“ schnaufte sie und streckte das Kinn vor auf dem Weg zum letzten Viereck.
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Alt 07.07.2010, 12:15   #2
weiblich Aquaria
 
Dabei seit: 02/2010
Alter: 42
Beiträge: 521

Hallo Aporie,

deine Erzählung gefällt mir sehr und hat mich bewegt. Die Rubrik bedrückt mich, ich versuche trotzdem den Text nur als Text zu behandeln.

Gutes Handwerk bin ich von deinen Texten gewohnt, aber hier finde ich die Beschreibungen der Mutter wirklich bemerkenswert, weil du sie in dieser sterilen und todesnahen Umgebung so lebendig, mutig und echt sein lässt.
Das Hüpfspiel am Ende krönt diesen Eindruck der Verbindung von Lebenslust und Schicksalsergebenheit. Gänsehaut beim letzten Satz. Ich bin sicher, sie schafft es!
Hier noch ein paar Kleinigkeiten, habe alles zusammengetragen, was ich nicht so gut fand. Ist bei längeren Texten so meist nicht drin, also auch noch mal ein Kompliment zur Sorgfalt:


Der bevorstehende Untersuch (die bevorstehende Untersuchtung)


Mutter warf einen Blick auf den halbleer gegessenen Teller, der auf dem schwenkbaren Tischchen neben ihr lag (stand).

und pissen soll ich in eine Flasche. (sachlich bei Frauen meines Wissens nicht richtig)

Ich war mir unschlüssig. Wenn man sie nicht auf die Toilette gehen lässt (ließ), darf (durfte) sie natürlich auch nicht ins Freie.

Insgesamt ein wunderbarer Text.

Aquaria
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Alt 07.07.2010, 16:08   #3
Aporie
 
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Ort: Bülach (CH)
Beiträge: 151

Vielen Dank, Aquaria. Nicht nur für das Lob, auch für das genaue Lesen. Ich sollte das auch tun, bevor ich einen Text hier reinstelle. „Untersuch“ und „stand“ muss es natürlich heißen.
Und bei „pissen“ habe ich schon beim Schreiben gestockt Mutter sagte (schweizerdeutsch)“bisle“. Ich kann das jetzt nicht mehr ändern.“ Urinieren“ oder „Wasser lassen“ wäre besser
Der letzte Satz hingegen ist Innerer Monolog und deshalb im Präsens. Ich gehe ja beim Schreiben ziemlich frei mit den Zeiten um, wechsle auch aus andern Gründen oft vom Imperfekt ins Präsens. Ich mag einfach nicht ständig „dachte ich“ oder „da erinnerte ich mich“ und ähnliche ¨Überleitungen einfügen.

Den zweiten Teil stelle ich gesondert rein. Sonst klicken ihn viele gar nicht an, weil sie denken, sie hätten das ja schon gelesen.
Aporie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.07.2010, 10:40   #4
weiblich Aquaria
 
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Beiträge: 521

Ah, ok mit dem inneren Monolog bin ich natürlich einverstanden

Aber ich glaube nicht, dass Frauen in eine Flasche pinkeln, darum ging es mir. Aber gut, geschenkt. Dann lese ich jetzt mal den zweiten Teil...

Grüße,
A.
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