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Alt 29.10.2009, 23:10   #1
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
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Standard Oma holt Milch

Vater trommelte mit den Fingerkuppen auf die Tischplatte. "Wo bleibt Oma nur? Sie müßte längst zurück sein."

"Du hast Recht, eigentlich wollte sie nur Milch holen." Mutter blickte auf die Küchenuhr. Der kleine Zeiger kroch auf Vier. Das alte Radio auf dem Küchenschrank übertrug eine Sondersendung zu Konrad Adenauers Moskaureise. Zehn Jahre nach Kriegsende war es dem deutschen Kanzler gelungen, den Russen die letzten zehntausend Kriegsgefangenen abzutrotzen. Eine Meisterleistung! Doch Vater war zu nervös, um hinzuhören und stellte den Lautsprecher ab.

Oma hatte sich ihre Aluminiumkanne geschnappt und sich auf den Weg zum Milchmann gemacht. Das war gegen halbdrei. Ein Weg von fünf Minuten: an der Ecke Frankfurter Straße in die Herrnstraße einbiegen, ein paar Schritte, und man war da.

Der Laden war eine Goldgrube. Innenstadtlage, in direkter Nähe alles was Woolworth, Kaufhof und Salamander hieß. Dazu "Kaiser's Kaffeegeschäft", Schuhläden und jede Menge Kinos, zwei davon direkt neben dem Milchgeschäft, "Rex" und "Gloria" geheißen. Gegenüber die Gastwirtschat "Zum weißen Rößl", in dem man auch Billiard spielen konnte. Und an der Ecke Frankfurter und Herrnstraße die Eisdiele "Delaidotti", ein früher italienischer Zuwanderer.

Zum Milchmann war ich mit Oma immer gerne gegangen. Ein Abschnitt seiner Verkaufstheke bestand aus einer Klappe, und wenn er sie hochhob, konnte ich den Bottich sehen, in dem die frische, fette Milch schwamm. Oma reichte ihm dann die Kanne, die er mit einer Kelle sorgsam füllte. Das waren dann in etwa eineinhalb Liter.

Heute war Oma alleine zum Milchmann gegangen – und sie war nicht zurückgekommen.

"Ich gehe mal nachsehen." Vater verschwand, und wir waren alle dankbar, daß etwas geschah. Warten - einfach gräßlich!

Eine halbe Stunde später war er zurück Und er sah nicht glücklich aus. "Beim Milchmann war sie nur fünf Minuten. Keine Zeit für Schwätzchen, zuviel Kundschaft. Dann habe ich im "Rößl" nachgeschaut – nichts. Bei Kaiser's war sie nicht. Bei den Nachbarn wollte ich nicht fragen, die hätten nur komisch geguckt. Vielleicht ist sie noch zum Kaufhof, um was zu besorgen ... aber wie soll ich in dem Riesenladen nach ihr suchen?"

"Zum Kaufhof? In Kittelschürze und Pantoffeln? Nie im Leben, vergiß es!" Mutter schien Oma besser zu kennen als ihr eigener Sohn.

"Na, das macht mir jetzt auch keinen Mut! Was soll ich denn jetzt tun?"

Fünf Uhr. Da begann Mutter für gewöhnlich das Abendessen vorzubereiten. Daran war heute nicht zu denken. Schweigend sinnierten wir über Omas Schicksal und wähnten sie massakriert und skelettiert, im besten Falle verschollen und in anderer Form wieder auffindbar – und horchten auf, als aufgeschlossen wurde. Wir stürzten in den Flur. Da stand Großmutter. Unversehrt, mit verklärtem Blick und sichtlich glücklich. In Kitttelschürze und Pantoffeln. Und in der rechten Hand hielt sie die gut verschlossene Aluminiumkanne.

"Hach jeh, da war der Aushang, na ja, von dem neuen Film mit Heiz Rühmann ... Stimmt was nicht? Gibt's heute nichts zum Abendbrot?"

© Ilka-M., 29. Okober 2008
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.11.2009, 01:36   #2
weiblich Feuerlocke
 
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Alter: 47
Beiträge: 100


Liebe Ilka-Maria,

wundervolle Geschichte, gefällt mir richtig gut und es kommen mir so schöne Erinnerungen an meine Kindheit in den Kopf, als ich selbst Milch direkt vom Bauern für die Familie und meine Oma holen durfte und immer die Kälbchen bewundern und füttern.

LG
Mone
Feuerlocke ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.11.2009, 18:45   #3
weiblich Rollce
 
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Dabei seit: 11/2009
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Beiträge: 228


Standard Oma besucht Heinz Rühmann

eine sehr schöne Geschichte Ilka Maria!!
Komme jetzt mal so langsam dazu, in den Foren rumzustöbern.

schöne Grüße
Rollce
Rollce ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.11.2009, 20:57   #4
weiblich Ilka-Maria
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Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.089


Liebe Feuerlocke,
liebe Rollce,

danke für Eure Kommentare. Die Geschichte kenne ich nur aus den Erzählungen meiner Eltern, weil ich damals noch ein Baby war. Offenbach galt Anfang der 50er Jahre als die "Stadt der Kinos", ich kann mich erinnern, daß es in meiner Kindheit noch neun solcher Säle gab. Das war relativ viel für eine Stadt, die damals noch nicht den Status einer Großstadt hatte. Weil dadurch jede Woche viele neue Filme anliefen, war ich während meiner Schulzeit mindestens dreimal pro Woche im Kino. Das war eine tolle Zeit!

LG
Ilka-M.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
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