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Düstere Welten und Abgründiges Gedichte über düstere Welten, dunkle und abgründige Gedanken.

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Alt 15.05.2017, 21:27   #1
Stachel
 
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Standard Der Knabe am Markt

Zur Marktzeit am Mittwoch sind beide geeilt,
noch schnell ein paar Sachen zu holen.
Es fehlt nicht mehr viel, der Knabe verweilt,
so wie ihm die Mama befohlen,
am Rande des Marktes gleich neben dem Fisch.
Doch der kommt daheim heute nicht auf den Tisch.
Ach, hätt nicht die Mutter von ihm sich geteilt.
Das Kind harrt auf brennenden Kohlen.

Da naht eine Frau, ihr Gesicht nicht zu sehn,
es droht die dunkle Silhuette.
Sie schlendert vorbei, lässt ihn unverwandt stehn
an seiner verderblichen Stätte.
Was birgt dieser Frau unter fließendem Tuch?
Und ist es nicht gar eines Mannes Versuch,
den Augen der Kameras dreist zu entgehn
als eine abscheuliche Wette?

Da vorn an der Ecke steht einer und schifft
ganz schamlos an steinernen Wänden.
Der grinst schief, der sabbert, ist sicher bekifft
und wiegt schon obszön seine Lenden.
Er wird ihn mit allerlei Pest infizieren,
mit Pisse und Speichel ihn garstig beschmieren,
davon sind ihm Jacke und Hose versifft,
das klebt an den zitternden Händen.

Mit grimmiger Miene aus braunem Gesicht
erobert ein Nafri die Szene,
gesendet - kein Zweifel - vom jüngsten Gericht,
ein Sklave muslimischer Gene.
Er trägt einen Gürtel im weiten Gewand,
der knallt und setzt alles im Umkreis in Brand.
Der Knabe erzittert, sonst rührt er sich nicht.
Ihm friert das Blut in der Vene.

Auf einmal erfüllt ein Gekreische die Luft.
Es dringt durch die Bretterverschläge.
Dahinter, als Eingang zur Hölle, die Gruft,
die schließt mit Dämonen Verträge.
Getarnt mit dem Zeichen der bauenden Zunft
ruft Satan zur apokalyptischen Brunft.
Schon gleich spannt dem Knaben Mephisto, der Schuft,
den bibbernden Leib auf die Säge.

Und endlich, nach Stunden, nach Jahren gefühlt,
da kehrt die Mutter zurück.
Was immer auch grade die Seele durchwühlt,
verzagt hat, verblasst Stück für Stück.
Wie wärmt ihn die Stimme, die klar zu ihm spricht:
"Wir gehen nach Hause. Nun trödele nicht!"
Der Schauder verschwindet, wie von ihm gespült,
die Hand schenkt Vertrautes und Glück.
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Alt 15.05.2017, 22:17   #2
weiblich C.Alvarez
 
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Hallo Stachel,

in einer hochlyrischen Sprache beschreibst du anhand einer glaubwürdigen Szenerie die begründeten Ängste der deutschen Bevölkerung besser als es je eine der vielen politischen Talkshows im Staatsfernsehen konnte. Man könnte dir höchstens mangelnde "Political Correctness" vorwerfen. Aber die wiederum kann sich sehr schnell ändern.
Ich mag deinen Knaben.
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Alt 16.05.2017, 13:40   #3
Thing
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Standard Hallo, Stachel -

D a s nenn ich mir eine Ballade! Ich wurde regelrecht mitgerissen, sah das schaurig-schandbare Geschehen beinahe leibhaftig vor mir und wurde an einen SPIEGEL-Artikel über die Flüchtlinge in Athen erinnert. Die Knaben.
Anregung #1:
Da vorn an der Ecke steht einer und schifft
ganz schamlos an steinerne Wände.
(dann muß ein neuer Reim her).

Ih höre gerade, es wid zu Tisch geladen - später mach ich weiter.
Vorerst liebe Grüße
von
Thing
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Alt 17.05.2017, 07:34   #4
weiblich DieSilbermöwe
 
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Lieber Stachel,

im Hinblick auf den ersten Kommentar:
Bei mir kam das Gedicht eher so an:
Da macht sich ein Knabe verrückt vor Angst, weil ihm suggeriert wurde, wie gefährlich das ("die alle") wären und dass man sich angeblich nicht mehr sicher fühlen könne auf Grund der vielen Fremden, selbst auf einem normalen Markt und normalem Tag neben dem Fischstand nicht. Also eher ein vor Sarkasmus und Ironie triefendes Gedicht (mir gefällt's und eigentlich bin ich mir sicher, dass du es so und nicht anders gemeint hast).

Großartig gedichtet natürlich (das braucht man bei dir kaum hervorzuheben).
Was mir auch gefällt, ist die Beschreibung, wie geborgen sich der Knabe bei der Mutter fühlt - (aus welchem Grund, spielt ja für dieses Gefühl keine Rolle).

LG DieSilbermöwe
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Alt 17.05.2017, 07:53   #5
männlich Nöck
 
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Hallo Stachel,

du hast uns die begründeten und unbegründeten Ängste der Menschen in der heutigen Zeit sehr anschaulich geschildert. Die Form des Gedichtes tut ihr Übriges dazu, Goethe sei Dank.

Gefällt mir gut.

Liebe Grüße
Nöck
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Alt 17.05.2017, 11:27   #6
Thing
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Standard Hallo, Stachel -

da bin ich wieder.
Wie man heutzutage noch Vorurteile gegen Freimaurerlogen hegen kann, ist mir unbeschreiblich, aber es ist so.

Hier:
in garstig beschmieren,
ist Dir ein Tippfehler rausgerutscht (ihn).
So spricht Dein Gedicht von all den Ängsten, die den Kindern eingeimpft werden, nicht minder mahnend als der Struwwelpeter.Diese Ängste kommen überall in Europa hoch, wo die Rationalität dem Stumpfsinn weicht.

Sehr gelungen, meine Hochachtung!

Lieben Gruß
von
Thing
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Alt 17.05.2017, 14:42   #7
weiblich C.Alvarez
 
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
dass man sich angeblich nicht mehr sicher fühlen könne auf Grund der vielen Fremden
Wenn ich wie du, Silbermöwe, die täglichen Nachrichten nicht wahrnehmen würde, sie ignorieren würde oder von den Grünen schönreden lassen würde, ja dann würde ich auch "angeblich" schreiben...
Aber Menschen wie du verharmlosen auch die täglichen Scheusslichkeiten durch zugewanderte Intensivtäter als "bedauerliche Einzelfälle" und ignorieren die durch den Innnminister veröffentlichten Zahlen, dass nämlich der Anteil von Ausländern an Straftaten um über 50% (ohne Verstösse gegen Pass-, Melde-, oder Aufenthaltsgesetze, die wurden gar nicht mitgezählt) gestiegen ist.

Geändert von Ilka-Maria (02.08.2017 um 11:03 Uhr)
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Alt 17.05.2017, 17:23   #8
weiblich DieSilbermöwe
 
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Ich mache mir ein Bild über die Menschen, denen ich begegne. Da sind eine Menge Zuwanderer drunter. Und ich habe keine Angst, mich (oder auch ein Kind mitzunehmen und) auf den Markt zu stellen.

Aber auf so eine Diskussion habe ich eh keine Lust.
DieSilbermöwe ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 17.05.2017, 17:29   #9
Thing
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In meinem vorherigen Kommentar:
Statt unbeschreiblich lies unbegreiflich.
Zur Ausländerkriminalität: http://www.spiegel.de/lebenundlernen...-a-983536.html
Den Migrantenpohobikern ins Album geschrieben.
Wo hat denn der Innenminister Zahlen veröffentlicht? Hab nix gefunden.
Der Ausländerhaß sollte nicht noch geschürt werden - von Ewiggestrigen.
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Alt 17.05.2017, 18:59   #10
weiblich C.Alvarez
 
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Ich mache mir ein Bild über die Menschen, denen ich begegne. Da sind eine Menge Zuwanderer drunter.
Ich habe mir auch Bilder gemacht. Auch von Menschen. Ich habe eine sehr gute Kamera mit was weiss ich wieviel Gigapixeln. Da kann man sogar Poster von den Aufnahmen machen. Aber trotzdem die Bilder eine Super Qualität haben kann man nicht in die Menschen darauf hineinschauen.
Auf alle Fälle habe ich nichts gegen Zuwanderer und lehne Vorverurteilungen ab.
Bei mir ist jeder Zuwanderer gern gesehn,
manche beim Kommen, manche beim Gehen.
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Alt 17.05.2017, 20:47   #11
gummibaum
 
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Lieber Stachel,

sehr schön auf klassisch drapiert. Mir kommt aber der Erlkönig wahrscheinlicher vor. Ich sehe dort klar, dass Fieber nachts natürliche Dinge zu Geistern (aus Märchen) werden lässt.

Dass aber ein Kind mit freundlicher Mutter ohne Fieber und am hellen Tag die Ängste einer neurotischen Gesellschaft bündelt und in Menschen, die von der Norm abweichen, Dämonen, Apokalypse und Mephisto sieht, scheint mir konstruiert.

Dennoch gern gelesen.
LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.05.2017, 20:54   #12
Thing
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Standard Und alles wieder

auf dem Rücken eines Gedichts, das solche Entreacts gar nicht verdient hat.
Immer zu Lasten der Threads.
Diese unqualifizierten Kommentare sind wie schlechte Reklame in einem guten Film.

***





Tja, liebe Silbermöwe - die deutsche Sprache scheint wirklich für genuine Nichtdeutsche s e h r schwer zu sein, selbst wenn sie seit kurz nach der Geburt in Deutschland leben,

wenn sie zwischen
sich ein Bild machen
und
Bilder machen
nicht unterscheiden können.
Die können auch so manch andres Deutschsprachliche nicht wirklich unterscheiden. Fehlerquelle Nr. 1 für sie.
Aber Urteile über Deutsche maßen sie sich an.

LG
Thing
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Alt 18.05.2017, 07:39   #13
weiblich DieSilbermöwe
 
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Zitat:
Zitat von gummibaum Beitrag anzeigen
Lieber Stachel,

sehr schön auf klassisch drapiert. Mir kommt aber der Erlkönig wahrscheinlicher vor. Ich sehe dort klar, dass Fieber nachts natürliche Dinge zu Geistern (aus Märchen) werden lässt.

Dass aber ein Kind mit freundlicher Mutter ohne Fieber und am hellen Tag die Ängste einer neurotischen Gesellschaft bündelt und in Menschen, die von der Norm abweichen, Dämonen, Apokalypse und Mephisto sieht, scheint mir konstruiert.

Dennoch gern gelesen.
LG gummibaum
Lieber gummibaum,

so weit hergeholt ist das nicht, wenn man (wie ein Kind) relativ beeinflussbar ist und eben solche Ängste immer wieder geschürt werden.
DieSilbermöwe ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 18.05.2017, 22:06   #14
Stachel
 
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Zitat:
Man könnte dir höchstens mangelnde "Political Correctness" vorwerfen. Aber die wiederum kann sich sehr schnell ändern.
Das kann sie tatsächlich, aber worin siehst du hier die mangelnde PC?

Der Knabe dankt dafür, dass du ihn magst.
Stachel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.05.2017, 22:09   #15
Stachel
 
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
(mir gefällt's und eigentlich bin ich mir sicher, dass du es so und nicht anders gemeint hast).

Großartig gedichtet natürlich (das braucht man bei dir kaum hervorzuheben).
Was mir auch gefällt, ist die Beschreibung, wie geborgen sich der Knabe bei der Mutter fühlt - (aus welchem Grund, spielt ja für dieses Gefühl keine Rolle).
Dein Gefühl trügt dich nicht.

Vielen Dank für das tolle Lob. Es freut mich besonders, dass ich dich gerade mit der letzten Strophe erreichen konnte.
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Alt 18.05.2017, 22:12   #16
Stachel
 
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Liebes Thing, lieber Nöck,

vielen Dank für eure lobenden Beiträge. Der Tippfehler ist natürlich richtig gefunden worden. Ich werde eine Bitte an Ilka-Maria richten.

@Nöck: Was genau hat dich auf Goethe gebracht?
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Alt 18.05.2017, 22:27   #17
Stachel
 
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Zitat:
Zitat von gummibaum Beitrag anzeigen
sehr schön auf klassisch drapiert. Mir kommt aber der Erlkönig wahrscheinlicher vor. Ich sehe dort klar, dass Fieber nachts natürliche Dinge zu Geistern (aus Märchen) werden lässt.
Danke für deinen lobenden Beitrag, lieber Gummibaum. Fieber ist es tatsächlich nicht, was den Knaben plagt, anders als beim Erlkönig. Warum aber ist "Wahrscheinlichkeit" oder vielleicht besser "Realitätsbezug", denn darum geht es nach meinem Verständnis doch, eine sinnvolle Kategorie für einen fiktiven, lyrischen Text? Und unter dieser Prämisse betrachtet: Wie würde ein realistischer Text aussehen, der unrealistische Themen versucht zu behandeln?
Du hast einen Vergleich zum Erlkönig gezogen. Das finde ich gut. Was brachte dich darauf?

Zitat:
Zitat von gummibaum Beitrag anzeigen
Dass aber ein Kind mit freundlicher Mutter ohne Fieber und am hellen Tag die Ängste einer neurotischen Gesellschaft bündelt und in Menschen, die von der Norm abweichen, Dämonen, Apokalypse und Mephisto sieht, scheint mir konstruiert.
Natürlich ist es konstruiert. Der Text arbeitet mit dem Stilmittel der Übertreibung. Mir erscheinen die geschilderten Ängste in ihrer gesellschaftlichen Existenz als teilweise stark übertrieben. Viele halten sie für berechtigt. Was wäre, außer einer Verzerrung und Übertreibung, aus deiner Sicht ein gelungenes Mittel für dieses Thema? Ich frage aus großem Interesse, denn sicher gibt es andere interessante Zugänge.

Freundliche Grüße an dich und alle anderen freundlichen Teilnehmer dieses Fadens von
Stachel
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Alt 18.05.2017, 23:49   #18
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Thing Beitrag anzeigen
in garstig beschmieren,
ist Dir ein Tippfehler rausgerutscht (ihn).
Ist korrigiert.
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Alt 19.05.2017, 07:28   #19
männlich Nöck
 
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Zitat:
Zitat von Stachel
@Nöck: Was genau hat dich auf Goethe gebracht?
Rhythmus und Strophenaufbau erinnern mich sehr an den Totentanz, auch wenn deine Strophen jeweils eine Zeile mehr haben.

Zitat:

"Der Türmer, der schaut zu Mitten der Nacht
Hinab auf die Gräber in Lage;
Der Mond, der hat alles ins Helle gebracht;
Der Kirchhof, er liegt wie am Tage.
Da regt sich ein Grab und ein anderes dann:
Sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann,
In weißen und schleppenden Hemden."

LG Nöck
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Alt 19.05.2017, 20:23   #20
gummibaum
 
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Lieber Stachel,

mir kam wegen des Metrums und der Gruft auch der "Totentanz" in den Sinn, dann erst wegen des Knaben und seiner Einbildungen der "Erlkönig".

Ich habe dein Gedicht nochmals gelesen und denke ein bisschen anders: Die Ängste der Erwachsenen übertragen sich natürlich auf ein Kind, und wenn es hört, eine verschleierte Frau kann jederzeit ein Terrorist mit Sprenggürtel sein, den dieser am liebsten auf einem belebten Marktplatz zündet, fürchtet es sich. Dazu braucht es also weder Fieber noch Dunkelheit. Hier auch "Danke" an Silbermöwe.

Etwas anderes aber: In den Strophen 2 - 5 scheint sich das Kind als Erzähler auszusprechen: "Ist sicher bekifft", drückt ja seine Vermutung aus, und "auf einmal erfüllt ein Gekreische" zeigt seinen vom Bauzaun begrenzten Überblick.
Die Sprachform "Pest infizieren", "bauenden Zunft" gehört aber nicht in die kindliche Sphäre. Das irritiert mich etwas.

Ich werde das gute Gedicht, dessen Titel, Form und Inhalt auch an Drostes "Der Knabe im Moor" erinnern, gewiss so schnell nicht vergessen. Über deine Frage nach einem anderen poetischen Mittel, die irrationalen Ängste im aufgeklärten Europa zu verspotten, denke ich noch nach.

LG gummibaum
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Alt 19.05.2017, 21:07   #21
Stachel
 
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Zitat:
Zitat von Nöck Beitrag anzeigen
Rhythmus und Strophenaufbau erinnern mich sehr an den Totentanz, auch wenn deine Strophen jeweils eine Zeile mehr haben.
Zitat:
Zitat von gummibaum Beitrag anzeigen
mir kam wegen des Metrums und der Gruft auch der "Totentanz" in den Sinn, dann erst wegen des Knaben und seiner Einbildungen der "Erlkönig".
Ich finde das sehr spannend von euch zu lesen. Es sind euch die gleichen Assoziationen gekommen. Ich denke es liegt in der Ähnlichkeit der Balladenform begründet, der viele Gedichte folgen. Bei deinem Zitat des Totentanzes, Nöck, kamen mir wiederum Erinnerungen an Schillers Bürgschaft.

Zitat:
Zitat von gummibaum Beitrag anzeigen
Etwas anderes aber: In den Strophen 2 - 5 scheint sich das Kind als Erzähler auszusprechen: "Ist sicher bekifft", drückt ja seine Vermutung aus, und "auf einmal erfüllt ein Gekreische" zeigt seinen vom Bauzaun begrenzten Überblick.
Die Sprachform "Pest infizieren", "bauenden Zunft" gehört aber nicht in die kindliche Sphäre. Das irritiert mich etwas.

Ich werde das gute Gedicht, dessen Titel, Form und Inhalt auch an Drostes "Der Knabe im Moor" erinnern, gewiss so schnell nicht vergessen.
Da hast du genau die Quelle der Inspiration gefunden.
Das Gedicht ist eine Adaption von "Der Knabe im Moor" von Annette von Droste-Hülshoff. Ich habe Rhythmus, Vers- und Strophenzahl sowie das Reimschema aufgegriffen und die Thematik in eine moderne Welt transferiert. Genau wie bei Annette ängstigt sich der Knabe vor allerlei Dingen, die er nur aus den Erzählungen der Erwachsenen kennen kann und die seiner eigenen Sphäre nicht zu entstammen scheinen. Was weiß ein kleines Kind schon über gestohlene Hochzeitsheller, gebannte Spinnerinnen oder verzechte Torfe? Da hast du genau den wesentlichen Punkt aufgegriffen: Die Innenwelt des Knaben ist geprägt durch Ängste die so gar nicht zum eigenen Verständnis passen mögen. Es unterstreicht damit die Irrationalität und den extrinsischen Charakter.
Anders als bei Annette bewegt sich nicht der Knabe durch die ängstigende Umgebung, sondern diese sich stetig um ihn.
Aber was man bei der Diskussion um die Lebenswelt des Knaben natürlich nicht völlig unterschlagen darf, ist, dass die mögliche Alterspanne relativ groß ist. Selbst wenn ich die "Knabenschaft" mit dem Stimmbruch als obere Grenze betrachte und damit auf, sagen wir mal, 15 Jahre datiere, so haben moderne Jugendliche je nach Soziosphäre und Medienkonsum doch schon ziemlich viel erlebt und einige erstaunliche Ausdrucksweisen im Repertoire.
Ich halte da "Infizier mich gefälligst nicht mit deiner Pest! Mann, da krieg ich Plaque!" u.ä. nicht für soooo ungewöhnlich.
Sicher kannst du da berufsbedingt ein Liedchen singen, oder Gummibaum?

Aber es bleibt bei deinem schon im ersten Kommentar völlig richtig angeführten Punkt: Die ganze Szene ist konstruiert. Ich halte das für sinnvoll und notwendig, würde mich aber auch sehr über kontroverse Vorschläge dazu freuen.

Vielen Dank für eure Beiträge und freundlichen Grüße von
Stachel
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