Kindergarten bei Poetry.de

Ilka-Maria · 27.01.2013, 13:31

Jedes Kind hatte einen eigenen Kleiderhaken, geschmückt mit einem Erkennungsbild. Die Bilder stellten Tiere da. Mein Kleiderhaken war eine bunte Ente. Daß es ein Erpel war, ging mir erst später auf.

An diesen Haken hängte ich im Winter meine dicke Jacke, meine Pudelmütze und meine Kindergartentasche. Im Sommer war es nur die Kindergartentasche. Wozu ich sie brauchte, was in ihr drin war, weiß ich nicht mehr.

Wir sprachen unsere Kindergärtnerinnen mit „Schwester“ an, wie im Krankenhaus. Wir hatten zwei Kindergärtnerinnen, aber ich kann mich nur an einen Namen erinnern: Schwester Ruth. Sie sah aus, wie eine Krankenschwester: Graues Kleid, weiße Schürze, weiße Haube.

Schwester Ruth war beliebt. Denn sie war lieb. Auch die andere Schwester, an die ich mich nicht so gut erinnere, war lieb. Aber die beiden waren zu wenig. Es fehlte an Personal.

Wenn Mittagspause war und unsere beiden Schwestern den Kindergarten für eine Stunde verließen, war für uns Kinder Mittagsschlaf angesagt. Dafür gab es korbgewebte Liegestätten mit hauseigenen dunkelblauen Kopfkissen. Wer sich hervortuen wollte, brachte sein eigenes Kopfkissen mit, das größer und bunter war. Das war erlaubt.

Unerlaubt war, auf Kommando nicht zu schlafen. Aber am hellen Mittag zu schlafen konnte ich nicht. Das konnten auch andere Kinder nicht. Und das nutzte diese Vettel aus.

Die Vettel war die Putzfrau, die während der Mittagspause mangels Personal das Kommando hatte und sich jeden Tag ein Kind herauspickte, um es unter einem Vorwand zu demütigen. Es waren vorwiegend Buben.

Sie pickte das Kind heraus, zog ihm die Hose und den Schlüpfer runter und verwamste ihn vor den Augen aller Anwesenden.

Kein Kind sprach ein Wort darüber, als Schwester Ruth zurück kam. Was können denn Kinder sagen, deren Wortschatz noch begrenzt ist und die Tragweiten nicht ermessen können?

Jahre später kannte ich einen Jungen, der im selben Kindergarten war. Die Vettel gab es immer noch. Sagte er mir – stotternd.

Thing · 27.01.2013, 16:05

Ich lernte weder Kirderhärten noch Horte kennen,
kenne aber die Materie aus erster Hand, denn eine meiner Tanten war Kindergärtnerin,
"Tante Lydia".
Sie wurde von den Kindern heiß und innig geliebt, weil sie n i e ein Kind gestraft, bestraft oder geschlagen hat.

Das letzte Wort in Deiner Geschichte ist ein Schock!

27.01.2013, 13:31	#1
Ilka-Maria Forumsleitung Dabei seit: 07/2009 Ort: Arrival City Beiträge: 31.118 Meine Geschichten Meine Favoriten	Kindergarten Jedes Kind hatte einen eigenen Kleiderhaken, geschmückt mit einem Erkennungsbild. Die Bilder stellten Tiere da. Mein Kleiderhaken war eine bunte Ente. Daß es ein Erpel war, ging mir erst später auf. An diesen Haken hängte ich im Winter meine dicke Jacke, meine Pudelmütze und meine Kindergartentasche. Im Sommer war es nur die Kindergartentasche. Wozu ich sie brauchte, was in ihr drin war, weiß ich nicht mehr. Wir sprachen unsere Kindergärtnerinnen mit „Schwester“ an, wie im Krankenhaus. Wir hatten zwei Kindergärtnerinnen, aber ich kann mich nur an einen Namen erinnern: Schwester Ruth. Sie sah aus, wie eine Krankenschwester: Graues Kleid, weiße Schürze, weiße Haube. Schwester Ruth war beliebt. Denn sie war lieb. Auch die andere Schwester, an die ich mich nicht so gut erinnere, war lieb. Aber die beiden waren zu wenig. Es fehlte an Personal. Wenn Mittagspause war und unsere beiden Schwestern den Kindergarten für eine Stunde verließen, war für uns Kinder Mittagsschlaf angesagt. Dafür gab es korbgewebte Liegestätten mit hauseigenen dunkelblauen Kopfkissen. Wer sich hervortuen wollte, brachte sein eigenes Kopfkissen mit, das größer und bunter war. Das war erlaubt. Unerlaubt war, auf Kommando nicht zu schlafen. Aber am hellen Mittag zu schlafen konnte ich nicht. Das konnten auch andere Kinder nicht. Und das nutzte diese Vettel aus. Die Vettel war die Putzfrau, die während der Mittagspause mangels Personal das Kommando hatte und sich jeden Tag ein Kind herauspickte, um es unter einem Vorwand zu demütigen. Es waren vorwiegend Buben. Sie pickte das Kind heraus, zog ihm die Hose und den Schlüpfer runter und verwamste ihn vor den Augen aller Anwesenden. Kein Kind sprach ein Wort darüber, als Schwester Ruth zurück kam. Was können denn Kinder sagen, deren Wortschatz noch begrenzt ist und die Tragweiten nicht ermessen können? Jahre später kannte ich einen Jungen, der im selben Kindergarten war. Die Vettel gab es immer noch. Sagte er mir – stotternd.

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Thing R.I.P. Dabei seit: 05/2010 Beiträge: 34.998 Meine Geschichten Meine Favoriten	Ich lernte weder Kirderhärten noch Horte kennen, kenne aber die Materie aus erster Hand, denn eine meiner Tanten war Kindergärtnerin, "Tante Lydia". Sie wurde von den Kindern heiß und innig geliebt, weil sie n i e ein Kind gestraft, bestraft oder geschlagen hat. Das letzte Wort in Deiner Geschichte ist ein Schock!