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Alt 07.03.2020, 22:55   #1
weiblich DieSilbermöwe
 
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Standard Wahre Demokraten oder Darauf haben alle gewartet 2

Leo Schultze genoß es, an diesem Samstag gemütlich am Frühstückstisch zu sitzen. Seine Frau war in die Stadt gefahren und hatte dort den ganzen Tag zu tun: Friseur, Kosmetikerin, Shoppen stand auf dem Programm und Schultze freute sich darauf, den Tag für sich zu haben, ohne dass sie ihm auf die Nerven ging. Doch seine Überzeugung, dass das nur ein guter Tag werden konnte, bewahrheitete sich nicht, denn er hatte kaum sein Frühstücksei verspeist, als es an der Tür klingelte.
Mit dem Gedanken „kann um halb zehn ja nur die Post sein" öffnete er die Tür und hätte sie danach am liebsten auf der Stelle wieder zugeschlagen. Vor der Tür stand Zacharias Zimmer, sein Kollege aus dem Karnevalsverein und seit der missglückten Wahl eines Ersatzprinzenpaares sein erklärter Erzfeind. Damals hatte Zimmer ihm „empfohlen", auf der Stelle zurückzutreten, da er „seinen Laden offensichtlich nicht mehr im Griff" habe. Natürlich war Schultze nicht zurückgetreten. Seitdem war Zimmer ein rotes Tuch für ihn.
„Was willst du denn?" blaffte er ihn an.
„Reg dich nicht gleich auf, Leo, ich will gar nicht hereinkommen, ich will dir nur etwas mitteilen. Ich dachte, es ist besser, das persönlich zu machen als dir einen offiziellen Brief zu schreiben."
Schultze stöhnte innerlich. Was wollte dieser Idiot von ihm?
„Was für einen Brief?"
„Also pass mal auf, Leo..... Ich habe mich entschieden, für die Wahl nächsten Monat zu kandidieren."
Schultze glotzte. Die Wahl des Vorsitzenden des Karnevalsvereins fand alle vier Jahre statt, das stand so in den Statuten des Vereins, war aber eher eine Farce, da sich seit Jahren noch nie jemand außer ihm zur Wahl gestellt hatte und er immer einstimmig wiedergewählt worden war. Und jetzt wollte Zimmer ihm dieses Amt streitig machen?
„Du spinnst wohl."
„Keineswegs. Ich habe nachgeschaut, es ist absolut legitim, wenn sich ein Gegenkandidat zur Wahl stellt. Und du musst ja wohl zugeben, dass du verdammt viel Mist gebaut hast. Wegen dir hatten wir dieses Jahr kein Prinzenpaar!"
„Wegen mir? Was kann ich dafür, wenn sich Kramers Sohn zu fein ist, um sich von Flanke wählen zu lassen?" Schultze war so laut geworden, dass sich zwei Passanten auf der gegenüberliegenden Straßenseite umdrehten und ihn mit verwunderten Blicken bedachten.
„Siehst du", sagte Zimmer mit einem vielsagenden Kopfnicken in Richtung der Spaziergänger. „Die Leute schauen schon. Du hast ja sogar dich nicht im Griff."
„Weißt du was, Zimmer, du kannst mich mal..." und damit warf er Zimmer die Tür vor der Nase zu.

Aber das Schicksal ließ sich nicht aufhalten. Zacharias Zimmer hatte nicht geblufft: Er kandidierte tatsächlich einen Monat später für die Wahl des Vorsitzenden.
„Aber das macht nichts", sagte sich Schultze. „Den wählt sowieso keiner." Trotzdem fühlte er sich am Wahltag nicht so wirklich wohl. Würden seine Karnevalsfreunde ihm die Treue halten oder zu Zimmer überlaufen?
Es herrschte geradezu gespenstische Stille, als die Wahlzettel ausgezählt wurden. Schultze hielt die Spannung kaum aus und ein Blick auf Zimmer überzeugte ihn, dass es seinem Konkurrenten genauso ging: Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
Wieviel Wahlgänge würden benötigt werden? Und wer würde ihm anschließend gratulieren? Schultze hatte längst den großen Blumenstrauß bemerkt, der gut sichtbar für alle im Vorzimmer des Wahllokals in einer Vase, die offensichtlich aus der Ming-Dynastie stammte, sein Dasein fristete. Natürlich war dieser Blumenstrauß für den Gewinner der Wahl reserviert. Schultze stellte sich vor, wie ihm mit diesem Blumenstrauß gratuliert werden würde. Und wenn Zimmer tatsächlich die Wahl für sich entscheiden würde? In diesem Fall, so nahm er sich vor, würde er Zimmer den Blumenstrauß vor die Füße werfen, ehe ihm jemand damit gratulieren könnte ... Erbittert schaute er auf seinen Konkurrenten. Was fiel dem eigentlich ein? Konnte er sich nicht um sein eigenes Leben kümmern? Am besten, er würde ihm jetzt an Ort und Stelle die Meinung sagen. Er stürmte auf ihn zu....

„Leo! Leo!" Schultze bemerkte, wie an seiner Schulter gerüttelt wurde, öffnete die Augen und schaute in das ängstliche Gesicht seiner Ehefrau. Die neue Frisur steht ihr wirklich gut, stellte er fest.
„Was ist los, du hast ganz laut geschrien? Ich habe mich so erschreckt! Alles in Ordnung?"
„Ich glaube, ich habe geträumt. Entschuldige, Liebling. Ich wollte dich nicht wecken. Ich habe geträumt, Zimmer wäre zum Vorsitzenden vom Karnevalsverein gewählt worden. Sowas Blödes."
„Ja, das ist wirklich Unsinn." Seine Frau seufzte erleichtert auf. „Gut, dass es nur ein Traum war. Das kann ja sowieso nicht passieren. Die werden dich wählen. Schließlich sind das alles wahre Demokraten."
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