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Alt 04.05.2015, 12:53   #1
weiblich Weltenwandlerin
 
Dabei seit: 05/2015
Alter: 36
Beiträge: 3

Standard Gefangene des Puppenkabinetts

Ich bin die Gefangene eines Puppenkabinetts. Umgeben von emotionlosen Marionetten, die zu einem lautlosen Rhythmus tanzen. Ich befinde mich gefesselt auf der Bühne. Das Scheinwerferlicht fällt auf mich, macht meine Fesseln transparent. Ich schließe meine Augen, sehe meine Träume und beginne für sie zu tanzen. Die anderen Marionetten werden durch die Aufführung geleitet, doch ich verstehe nichts davon. Sie bewegen sich und sprechen mit mir, aber es sind nur leere Gesten für mich. Ich verstehe ihre Bedeutung nicht. Sie sagen etwas, doch meinen sie vollkommen andere Dinge, als ich verstehe. Mein Tanz gerät ins Stocken, weil meine Träume schwinden. Erkaltete Holzfiguren lachen mich aus, zeigen auf mich, treten mich zu Boden.
Ich liege am Boden, blicke auf das Publikum und sehe nur leere Gesichter. Niemanden, der meine Perspektive kennt. Ich suche in den vielen Gesichtern jemanden, der mich versteht, mir die Hand reicht und mich führen kann. Doch sie applaudieren, obwohl ich am Boden liege. Applaudieren den Marionetten zu, die mich stürzten. Zeigen auf mich, sehen nur eine bunte Marionette in mir. Emotionslos, ohne Herz und kalt.
Ich versuche meine Fesseln zu lösen, möchte hinter dem Vorhang verschwinden. Mich zurückziehen und ein Leben führen, wie ich es benötige. Doch das Publikum ruft nach einer Zugabe. Ein lauter Chor, der mir im Nacken sitzt.
Ich schließe wieder meine Augen, führe meine Hand an mein Herz. Möchte fühlen, dass es noch lebt. Dass es mein Feuer weiterhin am Brennen hält - meine Seele nicht zu Eis wird. Ich nicht an der Kälte zerbreche.
BUMM – BUMM – BUMM.
Es schlägt und es schmerzt mit jedem Schlag mehr. Ich hole tief Luft, sammle Kraft, um nicht aufzugeben. Langsam beginnen meine Beine wieder zu tanzen. Mein Körper dreht sich, mein Geist blendet alles um mich herum aus und meine Seele schreit nach Erlösung. Ich tanze blind und ohne Kontrolle durch die Vorführung. Auf der Bühne lebe und tanze ich, doch hinter den Kulissen erkämpfe ich mir meine Freiheit.
Der Vorhang fällt – wieder einmal ist eine Vorführung beendet. Das Publikum erhebt sich, bewegt sich in Freiheit. Ich werde wieder in meine Kammer gedrängt, bis die nächste Aufführung beginnt.
Ich höre von draußen Stimmen. Stimmen, die sich fragen, was ich bin, wie ich so sein kann, wie ich so leben kann. Kein Mensch ist so emotionslos, keine Puppe so lebendig.
Ich betrachte mich im Spiegel und weiß nicht, wer mich ansieht. Das bin nicht ich! Es zeigt eine emotionslose Puppe. Mein innerer Spiegel ist schon vor langer Zeit in tausend Splitter zerbrochen, weil meine Emotionen ihn zerschlagen haben. Zu überwältigend prasseln sie immer wieder auf mich ein. Machen mich lebendig, verwundbar und menschlich.
Mein Käfig ist aus Stahl der Hilflosigkeit geschmiedet worden. Er scheint meine Gefühle zu absorbieren und nicht nach außen zu lassen. Niemand hört meine verzweifelten Schreie, niemand sieht meine qualvolle Trauer, niemand fühlt meinen zerrissenen Schmerz.
Die Türe öffnet sich – eine Solovorführung wartet am Ende des Ganges auf mich.
Ich versuche dem Publikum durch meine Schritte zu zeigen, was ich empfinde. Doch keiner von ihnen erkennt Empfindungen in meinem Tanz. Aus den Lautsprechern ertönt nur Stille und dennoch bewegt sich das Publikum einheitlich im Rhythmus. Es passt nicht zur Melodie meines Herzens. Ich tanze zu einem anderen Rhythmus. Höre andere Töne, erkenne andere Muster, fühle andere Emotionen.
Meine Seele spricht eine andere Sprache. Einsam strandete ich in einer fremden Welt. Umgeben von Marionetten und Zuschauern, die meine Vorführungen begleiten, aber nicht verstehen.

Mir bleibt nur der Schlüssel zu meiner Seele.
Das Drehbuch meines Selbst.
In ihm finde ich meine Liebe.
Doch niemand kann es lesen.
Es bleiben für andere leere Seiten.
Weltenwandlerin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.05.2015, 22:32   #2
männlich Sylvester
 
Benutzerbild von Sylvester
 
Dabei seit: 11/2005
Ort: Nördliche Hemisphäre
Alter: 55
Beiträge: 438

Hallo Weltenwandlerin,

zunächst mal willkommen auf poetry.de.

Dein Text vermittelt eine beklemmende Atmosphäre. Die Protagonistin / der Protagonist scheint mit seinen Empfindungen völlig isoliert von seiner Umwelt, schlimmer noch, gezwungen zu einer Vorführung, die sie / er nicht will, für ein Publikum, das nicht versteht (nicht verstehen kann ?).

Ein Alptraum, aus dem nur das Aufwachen Rettung versprechen könnte, falls es möglich ist.

Sehr unheimliche Bilder, die mich beeindruckt haben.

Gruß,

Sylvester
Sylvester ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.05.2015, 23:00   #3
männlich Ex derfunke
abgemeldet
 
Dabei seit: 05/2015
Beiträge: 23

Es gibt Menschen, die deine Sprache sprechen....
Viele Grüße!
Ex derfunke ist offline   Mit Zitat antworten
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Lesezeichen für Gefangene des Puppenkabinetts



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