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Alt 02.10.2012, 19:35   #1
männlich Desperado
 
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Dabei seit: 03/2012
Ort: Erde, Europa, Deutschland, Bayern
Beiträge: 1.747


Standard Schneegänse

Und eines Morgens hörst du den Gesang der Schneegänse.

Was haben Schneegänse in der Wüste zu suchen, wird mancher sich fragen, nun, sie ziehen hier durch, orientieren sich an den Schluchten des Grand Canyon, an den Giganten im Monument Valley, nutzen jeden Aufwind und fliegen ihren ewigen Kurs gen Norden, Jahr für Jahr für Jahr.

Das kleine Fenster ist blind vom Wüstenstaub und die Sanduhr hat sich seit Tagen nicht mehr bewegt, weil du sie vergessen und nicht mehr umgedreht hast, mit dem letzten Sandkorn, das durch die schmale Öffnung gerieselt ist, blieb die Zeit stehen, der Whiskey ist schal geworden und die Zigarillos schmecken dir nicht mehr. Aus dem Spiegel blickt dir eine verlebte Visage entgegen, die du nie zuvor gesehen hast und der Fremde murmelt: What am I doin’ here?- Who is I, fragst du verwirrt, oh well, it’s me, stellst fest, dass dein Dreitagebart zum Dreiwochenbart angewuchert ist und suchst erst mal nach dem Rasierpinsel in dem wüsten Durcheinander über dem Waschtrog. So fängt es an.

Mein Grandpa hat seine Farm verspielt und versoffen, Frau und Kinder verlassen und ist in die Welt hinaus gezogen, vielleicht hab ich’s ja von dem, wer weiß das schon zu sagen? Mein Pa sagte, sein Alter hätte nichts getaugt, kann ich nichts zu sagen, jeder hat seine Gründe, das eine oder andere zu tun, und für sowas brauchst du wohl ziemlich triftige, ich war nicht dabei. Hat mich auch nie besonders interessiert, hab aber nie was gehabt gegen den Mann, kannte den ja garnicht.

Die Farm gibt es noch, wird jetzt in der zweiten Generation von fremden Leuten betrieben, was schert es mich, das Farmerleben war noch nie mein Ding, und meine Family ist sowieso in unendlich weite Ferne gerückt, mir irgendwann abhanden gekommen, weiß auch nicht warum, das hat sich einfach so ergeben. Die meisten Leute können sich ein Leben ohne Familie gar nicht denken, grade im Westen und aufm Land, die Family ist alles, was die armen Schlucker haben, und wenn sie ihre Farm verlieren, verliert die Familie ihren Zusammenhalt und der ganze Lebensmut schwindet davon wie der alte Schnee auf den Berggipfeln in der Frühlingssonne.

Ich hab das nie so recht verstanden. Ich meine, klar, du kommst aus dem selben Stall, aus einem Wurf gewissermaßen, wirst im gleichen Nest ausgebrütet und hochgefüttert, aber wenn du flügge bist, machst du den Abflug und suchst dir eben neue Geschwister und Familien, da musst du noch nicht mal eine eigne gründen, einfach weil du die Gesichter nicht mehr sehen kannst, die dich von klein an traktiert und drangsaliert haben oder die du wie Kletten am Halse hattest, als sie noch in die Windeln machten. Was daran bitte soll unnatürlich sein, du bist die Bande leid und über, die stehen dir nur noch hinderlich im Weg herum und Abgang. Aber diese Siedler hängen irgendwie zusammen wie eine ineinander verflochtene Kaktusstaude, ich werde wohl nie so ganz dahinterkommen.

Klar bist du traurig, wenn einer aus dem Rudel vorzeitig die Fliege macht, sehr traurig sogar, das beschäftigt dich ein Leben lang. Aber gleichzeitig kannst du nie sagen, wie’s denn mit dem Kontakt zu ihm aussehen würde, weilte er noch unter den Lebenden. Ist schon eine verrückte Sache, das mit der Family. Es gibt Leute, die lieben ihre adoptierten Findelkinder über alles und hassen die eigenen dafür umso grimmiger, aber nun, ich muss nicht jeden Abersinn kapieren müssen, wird schon alles seine Ursachen haben, denk ich mal, und ist ja nun nicht mein Problem.

Durchs freigewischte und gekratzte Sichtloch im Fenster seh ich die Einspänner, Kutschen und Fuhrwerke die Straße auf und ab fahren, wenn man diesen Acker Straße nennen kann, und irgendwie hab ich sie schon viel zu lange gesehen, so jedenfalls kommt es mir vor, seit Ewigkeiten kutschieren sie da draußen auf und ab und her und hin, ich hab mich nie gefragt, wo sie hinwollen und von wo sie herkommen, wozu auch, hätte nichts geändert. Die Leute sind unterwegs, darum geht’s, und solange sie das sind, rollen sie eben so vor sich hin, drehen sich die Räder und klappern die Hufe, sie sagen, das sei so im Leben und müsse so sein, nun denn, wenn sie’s sagen, ich misch mich da nicht ein.

Es ist schon seltsam irgendwie, aber es gibt kaum ein Village und schon gar keine City, in der ich mich länger als ein paar Tage aufgehalten habe, deren Jail ich nicht von innen kennenlernen durfte, das gehört wohl zur erweiterten Gastfreundschaft, ist ja auch keine Sache, du lungerst eben so rum und hängst leidlich versorgt die Tage ab, Hauptsache, dein Pferd ist gut versorgt, der Rest erledigt sich mit jedem Stundenschlag um ein kleines Stück, das immer größer wird und die Zeit immer kleiner bis zum letzten, dem mit dem schlürfenden Schritt des Sheriffs das Klirren der Schlüssel folgt, alles eine Frage der Gewöhnung.

Die Schneegänse ziehen.
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Alt 02.10.2012, 19:47   #2
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.089


Du hast einen frischen Stil, Desperado, liest sich gerade so von der Leber weg und wäre bestimmt ausbaufähig. Jedenfalls sehe ich da ein starkes Potential, und ich bin beeindruckt, wie Du in dieser kurzen Ich-Erzählung einen Charakter von Kopf bis Fuß dargestellt hast, dessen Mentalität an einen Straßenköter denken läßt.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.10.2012, 22:30   #3
weiblich Poetibus
 
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Beiträge: 562


Hallo, Desperado,

um es ganz direkt zu sagen: Dein Schreibstil "läuft mir richtig rein". Dir gelingt es, sowohl Charaktere als auch Gegebenheiten, irgendwie alles in deinen Geschichten so darzustellen, dass es "lebendig wird". Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll - es "nimmt vor meinem inneren Auge Gestalt an", wird "real".

Daher, und das ist absolut wahr, schätze ich deine Geschichten sehr. Du hast, meiner Meinung nach, ein außerordentliches Erzähltalent. Es gibt viele "Erzähler", aber nur wenigen gelingt es, ihre Worte "zum Leben zu erwecken".

Ich sag's mal so: Wenn ich ein Verleger wäre, würde ich deine Geschichten stante pede herausgeben.

Danke für einen weiteren Lesegenuss.

Freundlichen Gruß,

Poetibus
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Alt 02.10.2012, 23:09   #4
weiblich Lux
 
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Beiträge: 839


Lieber Herumtreiber,

ich beginne nach deinen Geschichten süchtig zu werden. Sie werden immer besser. Schön, wie du das Motiv der ziehenden Gänse mit dem Inhalt verbunden hast.

Bin, wie immer, ein Stück mitgeritten!

LG
Deine Lux
Lux ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.10.2012, 12:06   #5
männlich Desperado
 
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Beiträge: 1.747


Hallo Ihr Lieben,

Geschichten erzählen ist seit meiner Kindheit ein Teil meines Wesens, der nicht wegzudenken ist.

Vor der Erfindung der Schrift war der Erzähler ein unersetzlicher Pfeiler menschlicher Gesellschaften, alles später Festgehaltene hat eine lange, bis in die Frühzeit zurückreichende Tradition mündlich weitergetragenen Gutes hinter sich, menschliche Kultur, Religion, Mythologie und Geschichte gab's schon unendlich lange vor dem Buchstaben, sehr viel länger als denselben.

Tja, Poetibus, einen Verleger zu finden, wer liebäugelt nicht ab und zu mit dem Gedanken, grundsätzlich hätt ich wirklich nichts dagegen, meine Geschichten einem großen Publikum zugänglich zu machen. Aber wenn sie in Foren wie diesem gelesen werden, und noch dazu mit Begeisterung, bin ich's auch zufrieden.

Ursprünglich hieß der Federhut "Lonely Ride", und Lux, ganz offenbar lädt er wirklich zum Mitreiten ein, aber Puscher will ich nun wirklich keiner sein.

Und, Ilka-Maria, ich liebe Straßenköter. Das Sozialgefüge ihrer Rudelbildungen gleicht dem von Wölfen, sie sind clever und überlebenstüchtig, und sie gehören zu den Geächteten und Gejagten.

Herzlich Danke für Eure ermutigenden und aufbauenden Zuschriften, es gibt im Grunde nichts Schöneres für einen Erzähler als die Bestätigung, dass seine Geschichten gefallen.

Lieben Gruß
Desperado
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