Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 20.12.2005, 21:21   #1
Von Hutten
 
Dabei seit: 10/2005
Beiträge: 2


Standard Von der Unfähigkeit des Dietrich S.

Von der Unfähigkeit des Dietrich S.

Als ich letzten Sonntag erwachte war ich schon tot. Ich bemerkte es nicht. Verschlafen, mit einem Brummschädel und einem lauen Magen stand ich auf, machte mir Kaffee und versuchte mich zu sammeln; keine große Lust auf den kommenden Tag. Nahm ein Aspirin ein und frühstückte gemächlich und las die Sonntagszeitung: Mord und Totschlag, Intrigen, Korruption, Politik. Im Grunde gab es nichts neues. Ich legte die Zeitung nieder und schaltete das Radio an, es lief gerade die „Morning-Show“ mit diesem quietschenden Moderator, ich haßte ihn; er sprach immer so schnell und in einer solch hohen Tonart, daß ich fast wahnsinnig wurde und trotzdem hörte ich mir diese Sendung jedes mal an und wenn an manchen Tagen ein anderer diese Sendung moderierte, dann hörte ich meist nicht mehr hin. Ja irgendwie faszinierte mich dieser quietschige Moderator und dennoch haßte ich ihn. Dann war’s neun Uhr und die Nachrichten wurden gesendet: Mord und Totschlag, Intrigen, Korruption, das neueste von den Kriegen in Übersee und natürlich Politik. Im Grunde auch im Radio nichts neues. Ich schaltete ab.
Ich überlegte: Was könnte ich heute alles machen? Ich hatte eigentlich keine Lust irgendwas zu tun, aber weil ich auch schon die beiden Tage zuvor nur faul herumgelegen bin, nahm ich mir vor heute etwas sinnvolles zu tun.
Ich ging ins Wohnzimmer und griff in meinen Bücherschrank: „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoi. „Hmm“ dachte ich, das ist mir zu unverdaulich; allein der Titel schon „Krieg und Frieden“, diese Gegensätze, fürchterlich. Nach kurzem Suchen im Bücherschrank fand ich nichts interessantes und ich nahm mir die Fernsehzeitung vor: Mord und Totschlag, Intrigen, Korruption, Kriege, seichte Unterhaltung, Talkshows, Richtersendung und Politik. Nichts interessantes und vor allem schon gar nichts neues.
Ich überlegte weiter. Mir fiel absolut nichts ein, was ich hätte sinnvolles tun können. Vielleicht raus gehen? Spazieren und frische Luft schnappen? Oder etwas Kultur? So schnell diese Gedanken kamen so verwarf ich sie auch schon wieder. Ich wollte nicht rausgehen. Es war kühl.
Ich ging wieder ins Wohnzimmer und warf mich in meinen Sessel. Der Fernseher lief bereits. Eine Talkshow. Gebannt folgte ich dem Thema, welches schon hundertmal gestellt war. In mir regte sich ein ungutes Gefühl und die Zeit verstrich. Ich wollte nicht mehr länger diesen Mist ansehen und schaltete ab. Ich stand auf und ging in mein Arbeitszimmer, um ein bißchen im Internet zu surfen. Nach einer Weile war es mir auch langweilig geworden, ich fand nur Mord und Totschlag, Intrigen, Korruption, Politik, Werbung und noch mal Werbung. Vielleicht habe ich auch auf den falschen Seiten gesucht. Ich verbrachte einige Minuten in sinnlosem Drücken der Vor- und Zurückknöpfe, las Bruchstücke der dargestellten Internetseiten und wieder stieg in mir ein Gefühl der Langeweile, der Sinnlosigkeit auf.
Ich schloß den Internetbrowser und öffnete meinen Musikspieler. Einige Minuten lauschte ich meiner Lieblingsmusik. Ja kurzzeitig kam in mir sogar ein Gefühl der Freude auf, ich lächelte in mich hinein. Doch schon nach kurzer Zeit wieder dieses Gefühl, wie wenn ich mich gleich übergeben müsste. Es war grauenhaft. Ich machte den Rechner aus und ging in die Küche. Obwohl ich keinen Hunger hatte machte ich mir eine Tiefkühlpizza und trank dazu ein, zwei Bier. Ich war voll. Ein Grund mehr sich nun vor dem Fernseher zu entspannen. Ich ging in den Keller um mir noch ein Bier zu holen und setzte mich dann in meinen Sessel. Es lief gerade eine Tiersendung: Uninteressant. Als ich so durch die verschiedenen Programme zappte, fand ich eine leichte, seichte, aber gut verdauliche Sendung: Big Brother. Ich trank mein drittes Bier und schon wurde mir leichter ums Herz. Doch Big Brother langweilte mich schon nach kurzer Zeit, so schaltete ich um. Es kam jedoch nirgends was besonderes und als ich mein drittes Bier ausgetrunken hatte, schaltete ich ab und überlegte. Eigentlich mußte ich ja noch ein paar Dinge für die Arbeit vorbereiten; dazu hatte ich keine Lust: „Mach ich später“ dachte ich mir und überlegte weiter.
Wieder stand ich auf und griff in den Bücherschrank: „Der zerbrochne Krug“ von Kleist; sollte zwar eine Komödie sein, dachte ich, aber das hat mir in der Schule schon nicht zugesagt. Es war wahnwitzig. Doch das Gefühl der Sinnlosigkeit und Langeweile wurde doch, Gott sei Dank, durch die drei Bier abgeschwächt. Ich ging raus vor die Tür: es war kühl und heiter, die Sonne schien. „Für mich nicht“ sagte ich leise und ging ein Stück in den Garten. Meine Nachbarin Frau S arbeitete im Garten, sie sah mich, ich grüßte sie nicht.
Ich ging zur Zauntür. Dort schaute ich ein paar Minuten auf die Straße. Es langweilte mich.
Ich ging wieder ins Haus zurück. Ich dachte mir vielleicht könnte ich ja mal meine Familie anrufen oder Bekannte. Ich verwarf diesen Plan wieder, meine Familie lebte am anderen Ende der Welt, sozusagen. Und Bekannte oder gar Freunde, na die habe ich nicht. Das erschreckte mich. Ich dachte noch mal darüber danach. Eigentlich kennt mich niemand und ich kenne auch niemanden, zumindest außerhalb der Arbeit. Ich ging etwas nervös durch den Flur, überlegte weiter und ich war traurig. Naja, dachte ich mir, das ist jetzt auch uninteressant und ging wieder in den Keller um mir noch ein Bier zu holen. Ich versuchte es noch mal mit dem Fernsehen: Wieder nichts. Nur langweiliger Kram, kein interessanter Film, keine interessante Sendung. Nur wieder die Nachrichten mit Mord und Totschlag, Intrigen, Korruption, Krieg und Politik. Aber das war ja – bekanntlich – nichts neues mehr. Ich versuchte mich für die Nachrichten zu begeistern, versuchte ihnen zu folgen, ja in einem Moment fast glaubte ich etwas neues zu sehen und zu hören, doch Fehlanzeige: hatte mich nur zusehr in die ganze Sache hineingesteigert. Ich schaltete wieder ab. Ich seufzte und trank mein Bier aus. Langsam regten sich meine Gefühle wieder, Bier wirkt wunder, dachte ich.
Doch auch Schuldgefühle regten sich in mir; es war gerade einmal Mittag und ich hatte schon zuviel Bier getrunken. Andererseits vertreibt das die Langeweile. Ich war in einem Konflikt. Mit Bier ist das Leben nicht so schwer, aber die Gefahr der Abhängigkeit ist größer, dachte ich noch so naiv. Doch wenn ich mich zurückerinnerte: Das letzte mal als ich kein Bier getrunken hatte, das war Dienstag vor zwei Wochen, Dienstausflug.
Ich war nervös, zitterte. Doch dann überkam mich wieder der Durst; ich ging in den Keller und holte mir ein neues Bier. Währenddessen hatte ich meinen Rechner wieder gestartet und wollte wieder etwas im Internet surfen. Die Frage war nur was ich denn überhaupt wollte; doch diese Frage konnte ich mir nicht beantworten. Glücklicherweise waren die Langweile und die Sinnlosigkeit fast verflogen. Gefühle regten sich wieder. Ich griff zum Telefon und rief meinen Bruder an, doch der war nicht zuhause. Naja, dachte ich mir, auch egal.
Dann packte ich meinen Mantel und ging aus dem Haus. Ich fuhr mit meinem Auto in die Bachmayerstraße. Zum alten Wirt. Ich setzte mich an den Tresen und bestellte ein Bier. Später aß ich auch noch etwas und saß noch lange da bis die Langeweile und Sinnlosigkeit endgültig verschwunden waren. Am Abend sah ich noch ein paar Leute, die ich aus der Arbeit kannte: Sie setzten sich an den Stammtisch, sie waren jeden Sonntag da. Ich grüßte sie nicht. Sie erkannten mich nicht. Obwohl ich schon einige Bier und auch Schnaps getrunken hatte überfiel mich wieder dieses Gefühl der Sinnlosigkeit. Dieses Gefühl wurde, je länger ich die fröhliche Stammtischrunde betrachtete, größer und größer, bis es zum Gefühl des Selbsthasses wurde. Ach wie schön wäre jetzt eine Vernichtung, dachte ich und bestellte noch einen Doppelten und dazu zwei Bier. Ich dachte an nichts mehr, nur an das Bier, den seligmachenden Alkohol und daran, daß ich in Zukunft auch so eine Stammtischrunde haben werde; jawohl, dachte ich nervös, fast selbstverachtend.
Wenig später bin ich gerade noch mit dem Auto nach Hause gekommen. Ich konnte mich zwar nicht mehr erinnern, aber am nächsten Tag stand das Auto in der Garage. Ich erwachte mit einem Brummschädel. Nahm ein Aspirin, las schnell die Zeitung: Mord und Totschlag, Intrigen, Korruption, Kriege und Politik. Nur die Art und Weise und das Datum unterschieden sich vom Vortag.
Ein neuer Tag war nun angebrochen. Ich hatte große Angst, wie jeden Tag eigentlich; ich mußte zur Arbeit, die einzige Ablenkung, Gott sei Dank. Ich merkte nicht, daß ich im Grunde schon tot war. Aber auch die anderen Menschen merkten es nicht, denn Mord und Totschlag, Intrigen, Korruption, Kriege, Talkshows, seichte Unterhaltung, Oberflächlichkeit und Politik: Es gab im Grunde nichts neues.
Von Hutten ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.12.2005, 18:43   #2
Yve
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 756


Gut beschrieben und ich glaube jeder kennt diese Tage. Im Grunde also nichts Neues Gefällt mir sehr gut
Yve
Yve ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.12.2005, 00:24   #3
TobiL.
abgemeldet
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 280


Standard RE: Von der Unfähigkeit des Dietrich S.

Hey, coole Geschichte.

Hast du mich die letzte Woche heimlich beobachtet? ;-)

Weiter so! Gruß, Tobi.
TobiL. ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Von der Unfähigkeit des Dietrich S.




Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.