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Alt 07.06.2018, 20:17   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Der Hund - Teil 3

Gerit fuhr auf den Hof eines Fachwerkhauses, stellte den Motor ab und öffnete die Wagentür. Von einem Kirchturm in der Nähe ertönte Glockengeläut: zwölf Uhr mittags. Bevor er ausstieg, schaute er sich um. Nichts hatte sich verändert, seit er zum letzten Mal hier gewesen war, alles war ihm vertraut, außer dass es jetzt einen Carport gab, in dem das neueste Modell eines Audi A4 stand. Er drehte sich zu Terence um. „Du wartest hier.“

Gerit löste den Sicherheitsgurt, stieg aus dem Wagen und ging zur Haustür. Er brauchte nur einmal zu klingeln, denn schon nach wenigen Sekunden wurde ihm geöffnet. Hinter der Schwelle stand ein älterer Mann mit weißen, kurzen Naturlocken und einem grauen Vollbart. Schweigsam musterten sich die beiden Männer, dann machte sich auf dem Gesicht des Bärtigen ein Grinsen breit. Er trat heraus und nahm Gerit kurz, aber fest in die Arme.

„Mensch, alter Knabe, wenn du nicht vorher angerufen hättest, hätte ich dich nicht wiedererkannt. Wie lange ist es her?“

Gerit zuckte die Schultern. „Weiß nicht. Sechs Jahre, vielleicht acht.“

„Komm rein, darauf brauchen wir einen Begrüßungstrunk. Ich habe einen schönen Frankenwein kaltgestellt. Ich weiß, du trinkst lieber einen Roten, aber ich habe ein besonders köstliches Tröpfchen für dich ausgesucht.“

Gerit hatte im Leben keinen Menschen kennengelernt, der so offen und herzlich war wie Leo. Für den Einstieg in sein Berufsleben hätte er sich keinen besseren Mentor wünschen können. Nachdem Leo die Flasche entkorkt, zwei Gläser gefüllt und den Wein in den Kühlschrank zurückgestellt hatte, setzten sich die beiden Männer an den Küchentisch unter dem Fenster. Eine Weile plauderten sie über vergangene Zeiten und tauschten Anekdoten aus, über die sie lachen mussten, doch die Stimmung fand nicht zu der gewünschten Lockerheit. Schließlich nahm Leo eine ernste Miene an.

„Ich kenne dich gut genug, Gerit, um dir an der Nasenspitze anzusehen, dass du etwas auf dem Herzen hast. Also, von welchem Problem konntest du diesmal die Finger nicht lassen?“

Gerit hatte Leos Menschenkenntnis immer bewundert. „Mein Problem liegt draußen auf dem Rücksitz meines Wagens.“

Leo hob die Augenbrauen.

„Ich habe einen Hund geklaut, Leo, einen ziemlich wertvollen Hund. Ich will ihn behalten. Deshalb musste ich mit ihm abhauen.“

Leo schüttelte den Kopf. „Mensch, Gerit …“. Er ging zum Kühlschrank, holte den Wein heraus, füllte die Gläser nach und stellte die Flasche auf den Tisch. „Jetzt erzähl hübsch der Reihe nach.“

Als Leo die Geschichte zu Ende gehört hatte, wühlte er mit Daumen und Zeigefinger nachdenklich in seinem Bart. „Hm, so einfach ist das nicht, Gerit. Ob Terence wirklich zur Zucht taugen wird, muss überprüft werden, wenn er die Reife dafür erreicht hat. Ein Stammbaum allein macht’s nicht, damit ist dein Nachbar Bungert längst nicht auf der sicheren Seite. Wie alt ist der Hund?“

„Keine Ahnung, scheint noch ziemlich jung zu sein.“

„Mit Hunden hast du null Erfahrung, stimmt’s?“

Gerit nickte stumm.

„Hol das Goldstück rein, ich mache ihm eine Schüssel Wasser zurecht und schau mal, was ich an Fressen auftreiben kann.“

Innerhalb von zwanzig Minuten hatte Leo aus dem, was er in seinem Kühlschrank vorfand, ein kleines Begrüßungsmahl für Terence gezaubert, das dieser gierig verschlang.

„Du kannst mit dem Hund hierbleiben, wenn das deine Arbeit erlaubt.“

„Ich will dir nicht zur Last fallen, Leo. Aber wenn du die Spessart-Hütte noch hast, könnte ich mich dorthin verdrücken und in Ruhe arbeiten.“

Leo grinste. „Das also war der Plan, der dich aus dem umtriebigen Hessen in mein beschauliches Frankenland geführt hat. Nicht schlecht. Allerdings: Es gibt keinen Strom in der Hütte, der alte Generator tut’s nicht mehr.“

„Das lass meine Sorge sein.“

Leo schlurfte in den Hausflur und kam mit einem Schlüsselbund zurück.

„Hier ist der Schlüssel zur Eingangstür. Der kleine ist für die Toilette, der mittelgroße für den Schuppen. Findest du den Weg zur Hütte noch allein?“

„Denke schon.“

„Gut. Handtücher und Bettwäsche findest du in der Bettkammer …“

„Wie? Die Hütte ist noch in Betrieb? Du gehst noch auf die Jagd?“

Leo brach in Lachen aus. „Was für ein Gedanke! Schau mich an und sage mir, welches Eichhorn bei meinem Anblick nicht spöttisch zu keckern begänne. Ich nutze die Hütte dann und wann, um mich am See von der Gemeindearbeit zu erholen.“ Er legte die Schlüssel vor Gerit auf den Tisch. „Apropos Gemeinde … ich kenne jemanden im Ort, der Hunde ausbildet. Vielleicht kann ich ihn überreden, rauszufahren und mit dir ein Trainingsprogramm für Terence durchzugehen. Der Hund braucht Erziehung und eine feste Hand.“

Mit einem Schlag wurde Gerit die Einsamkeit seiner letzten Jahre bewusst, und ihm stiegen Tränen in die Augen. „Ich weiß nicht, wie ich dir für alles danken soll, Leo.“

„Schon gut, keine Rührseligkeiten, dafür bin ich zu alt. Sag mir lieber, wann du morgen losfahren willst, damit ich das Frühstück beizeiten auf dem Tisch habe.“

.*.*.*.*.*.

„Terence, wir sind da.“

Gerit überkam eine seltsame, fast mystische Stimmung, als er den Wagen vor der Jagdhütte anhielt und ausstieg. Ihm war, als sei er erst gestern hier gewesen, so unberührt von den vielen Jahren, die in Wahrheit seit seinem letzten Besuch vergangen waren, stand sie in ihrer Robustheit vor ihm. Auch der See, der am Fuße des Hangs lag, schien unverändert zu sein. Nur die Vegetation war dichter und höher geworden.

Er ließ die Umgebung, die ihm wie der verwunschene Ort in einem Märchen anmutete, eine Weile auf sich einwirken, ehe er Terence aus dem Wagen half. Gespannt, ob die Hütte auch innen noch wie früher aussah, steckte er den Schlüssel in das Schloss der Eingangstür, öffnete sie und trat ein. Terence humpelte ihm hinterher.

Gerits Herz machte einen Freudensprung: Nichts aus seiner Erinnerung schien zu fehlen. Das rustikale Mobiliar, das unverzichtbare Rehbockgehörn über dem Kamin, die Landhausgardinen, das Kochgeschirr über der Feuerstelle, alles hatte die Jahre überdauert. Er sog den Duft des längst verbrannten Holzes ein, den der Kamin im Laufe vieler Winter verströmt und der sich für immer mit dem Raum verbunden hatte, und fühlte sich zu Hause.

Ein kurzer Blick in die Schlafkammer überzeugte ihn, dass auch sie von Veränderungen verschont geblieben war. Dann begab er sich wieder nach draußen, um sein Gepäck und den Supermarkt-Einkauf, den er am Vormittag getätigt hatte, aus dem Kofferraum zu holen.

Er brauchte drei Tage, bis er in der neuen Umgebung zu einem Rhythmus gefunden hatte und wieder konzentriert an seinem Manuskript arbeiten konnte. Am fünften Tag schickte er die neugeschriebenen Seiten per E-Mail an sein Lektorat und erhielt die Rückmeldung: „Prima, du scheinst in Hochform zu sein. Weiter so!“

Gerit fühlte eine Schaffenskraft in sich wie schon lange nicht mehr. Jeden Tag fuhr er zweimal in den nächstgelegenen Ort, um in einem Gasthaus seinen Laptop und sein Smartphone mit Strom aufzuladen. Der Wirt hatte nichts dagegen, weil er sich eines Stammkunden sicher wusste, der regelmäßig zum Mittagessen oder auf ein, zwei Gläser Wein am Abend bei ihm einkehrte. Zurück in der Hütte arbeitete Gerit meistens bis Mitternacht, ehe er todmüde ins Bett fiel.

Terence erholte sich spürbar schnell. Wenn das Wetter mitmachte, holte Gerit den Campingtisch aus dem Schuppen und stellte ihn vor der Sitzbank neben der Eingangstür der Hütte auf, um draußen zu arbeiten, so dass Terence, der Gerit nicht von der Seite wich, viel Zeit an der frischen Luft verbringen konnte. Noch ehe die erste Woche vorüber war, stellte Gerit zufrieden fest, dass Terence nur noch unmerklich humpelte und die Striemen auf seiner Haut nahezu verheilt waren.

Nach zehn Tagen machten sie zusammen erstmals einen Spaziergang um den See. Der Weg hätte sich locker in einer Stunde Fußmarsch bewältigen lassen, wäre Terence im Vollbesitz seiner Beweglichkeit gewesen. So aber brauchten sie gut eine halbe Stunde länger. Sie hatten den See beinahe umrundet, und Gerit freute sich schon auf den Kaffee, den er sich gleich zubereiten würde, da schlug Terence an. Etwas schien bei der Hütte vorzugehen. Gerit hastete vorwärts, bis er eine Stelle am Fuß des Hangs erreichte, von wo aus er freie Sicht nach oben hatte. Neben seinem Wagen stand ein kleiner, offener Jeep, aber von dem Fahrer war weit und breit nichts zu sehen. Gerit wartete mit klopfendem Herzen, während ihm tausend Gedanken durch den Kopf schossen, was los sein könnte. Außer Leo wusste niemand von seinem Versteck, aber dass der Jeep zufällig auf die Hütte gestoßen sein könnte, glaubte Gerit nicht.

Inzwischen hatte Terence ihn eingeholt und bellte wieder los. „Schscht, Terence.“ Gerit fasste den Hund am Halsband, zog ihn hinter ein Gebüsch und kauerte neben ihn. Als eine Gestalt um die Hütte herumkam und Terence abermals losbellen wollte, hielt ihm Gerit die Schnauze zu. Er blickte angestrengt durch die Blätter des Strauches und gewahrte den schlanken Körper einer Frau. Sie schien von der Toilette zu kommen, die Gerit tagsüber nicht abschloss. Jetzt ging sie zu dem Jeep, holte einen Gegenstand heraus, den Gerit für ein Smartphone hielt, und ließ sich damit auf der Sitzbank vor der Hütte nieder.

„Wir können uns nicht ewig verstecken, Terence. Komm, wir sehen nach, was sie will.“

Wohl war Gerit nicht, während er den Hang hinaufstieg. Als die Frau ihn kommen sah, stand sie auf und ging ihm ein paar Schritte entgegen.

„Hallo, Sie sind Gerit Haase, nicht wahr?“

„Warum?“

Die Frau ließ sich von seiner barschen Gegenfrage nicht beeindrucken. „Ich bin Mary Astor.“

Gerit ignorierte die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. Sie nahm es mit einem Lächeln zur Kenntnis. „Ich dachte, Schriftsteller hätten Humor.“

„Nicht jeder. Was wollen Sie von mir?“

„Das mit Mary Astor war natürlich ein Scherz, tut mir leid. Mein richtiger Name ist Lisbeth Zacharias. Ich bin gekommen, um mir den Hund anzusehen.“

Gerit fühlte sein Herz auf den Boden des Ozeans sinken. Er hatte sich zu sicher gefühlt. Offensichtlich war die Idee mit der Spessart-Hütte doch nicht so perfekt gewesen, wie er gedacht hatte.

„Wie haben Sie mich gefunden?“

„Leo hat mich hergeschickt.“

Gerit war, als habe ihn der Blitz getroffen. „Das kann nicht sein.“

Lisbeth sah ihn verwundert an. „Weshalb nicht? Ist er nicht ein guter Freund von Ihnen?“

„Das dachte ich - bis heute.“

„Verstehe. Sie sind enttäuscht, weil Sie jemand anderen erwartet haben. Also, die Sache ist so: Mein Boss, das ist der Chef vom Hundedressurverein, hat einen Terminkalender, der ihm die Luft abschnürt. Er kann sich nicht selbst um Ihren Hund kümmern, und deshalb hat er mich gefragt, ob ich das übernehmen könnte.“ Sie ging vor Terence in die Hocke und wuschelte ihm mit beiden Händen das Fell. „Das ist ein hübscher Kerl. Wie heißt er denn?“

Gerit starrte auf sie nieder, keines Wortes fähig. Von nichts anderem als einem Trainer war die Rede gewesen, wie konnte er also mit dieser Frau gerechnet haben, die ihn gerade die Qualen der Hölle durchleiden ließ?

Lisbeth erhob sich und sah ihn an. „Was haben Sie denn? Sie sind ja ganz blass geworden?“

Gerit hätte vor Erleichterung in die Knie gehen können, aber er zwang sich, Haltung zu bewahren. „Alles in Ordnung. Er heißt Terence. Möchten Sie eine Tasse Kaffee mit mir trinken?“

„Gerne. Danach werde ich mich ausgiebig mit Terence befassen, wenn es Ihnen recht ist. Ich muss mir einen Eindruck von ihm verschaffen, damit ich das richtige Programm für ihn zusammenstellen kann.“

"Sagen Sie, Lisbeth, warum haben Sie mich nicht angerufen, bevor sie gekommen sind? Ich hätte noch ewig unterwegs sein können."

"Hab's auf dem Weg hierher versucht, aber Sie sind nicht rangegangen."

Gerit zog sein Smartphone hervor und grinste verlegen. "Vergessen, einzuschalten."

Lisbeth blieb fast zwei Stunden, ehe sie in ihr Fahrzeug stieg und davonfuhr. Gerit winkte ihr nach, nicht sicher, ob sie in den Rückspiegel sehen würde.

.*.*.*.*.*.
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Alt 08.06.2018, 18:11   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
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Ein schönes Thema, ein Mann und sein Hund, die Freundschaft zwischen Mensch und Tier und wie sie entsteht. Außerdem eine interessante Kulisse am See.
Die bisherigen Teile sind durchgehend packend geschrieben und ich bin neugierig, wie es weiter geht.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.06.2018, 19:52   #3
weiblich Ilka-Maria
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Tiere funktionieren meistens gut in Geschichten.

Die beiden letzten Teile folgen in Kürze.
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