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Alt 31.05.2014, 02:13   #1
Amens
 
Dabei seit: 05/2014
Alter: 36
Beiträge: 1

Standard Daisy

Hallo, ich bin neu.

Meine Geschichte:

"Daisy". "Daisy". Ich wache auf. "Daisy". Ich weiß nicht wo ich bin. "Daisy", flüstert jemand erneut. Ich öffne meine Augen. Ich sehe einen Baum direkt vor mir. Wieder diese Stimme. "Daisy". Wer ist Daisy? Stille. Ich höre nichts.

Der Baum ist uralt. Ich erkenne es an den Rinden. Sie sehen aus wie die Falten einer alten Frau. Eine alte Frau, die ich kenne. Ich habe öfters mit ihr gesprochen. Ich habe eine Beziehung zu ihr. Sie ist mit vertraut, sehr vertraut. Wir haben viele gemeinsame Erinnerungen. Ich habe ihren Namen vergessen. "Daisy", erklingt es wieder. Das ist er. Das ist ihr Name. Aber wer ist sie? Wer ist Daisy?

Ich nähere mich dem Baum. Es fühlt sich gut an. Der Baum ist magisch. Ich fühle mich, als hätte ich eine tiefe Verbundenheit zu dem Baum. Ich habe viel mit diesem Baum erlebt. Ich versuche mich an Details zu erinnern. Nichts. Ich brauche Anhaltspunkte. Wann habe ich diesen Baum das erste mal gesehen? War es, als ich noch ein Kleinkind war? War es, als ich zur Schule ging oder war es im Berufsleben? War es vor oder nach meiner Hochzeit? Ich versuche mich zu erinnern.

Ich höre wieder ein leises flüstern: "Daisy". Ich weiß nicht, mit wem ich verheiratet bin. Ich weiß nicht mal, ob ich überhauüt verheiratet bin. Habe ich eine Schulausbildung? Wie ist mein Name? "Daisy" höre ich wieder. Ist das mein Name? Kann das sein? Ich fasse mir in den Schritt und finde einen Penis vor. Ich heiße nicht Daisy, ich bin männlich. Ich erinner mich, ich heiße Amens. Ja, ich habe eine Schulausbildung und ja, ich bin verheiratet. Sie ist wunderschön, aber sie meckert viel. Zu viel. Ich wollte die Scheidung einreichen... was ist daraus geworden?

Mir wird schwindelig bei dem Gedanken. Ich komme mir beklemmt vor. Irgendetwas nimmt mir die Luft. Irgendetwas versperrt mir die Sicht. Es ist dieser gottverdammte Baum. Dieser elendige, abscheuliche Baum. Ich will die Landschaft sehen. Ich will den Vögeln beim Fliegen zuschauen. Dieser nichtssagende, alte, verkommene, betrübende, grässliche Baum. Zu Papier verarbeiten sollte man ihn. Ich verspüre einen Drang, auf den Baum zu klettern. Ich ziehe mich an einem Ast hoch, als ich die Stimme wieder höre: "Daisy". Zur Hölle mit Daisy. Ich klettere weiter den Baum hinauf, aber kann das Ende nicht sehen. "Daisy, oh Daisy", erklingt es. Sei still. Ich fühle mich eingengt, verfolgt, belästigt.

Ich schaffe das, ich werde nicht fallen, nicht zurück nach da unten, ich muss es schaffen - einfach weiterklettern. "Daisy", höre ich wieder. Halt deine verdammte Schnauze. Ich kann den Namen nicht hören. Für die Kinder tat ich es. All die Jahre, nur für die Kinder, damit sie nicht ohne Vater aufwachsen.

Ich klettere weiter und sehe das Ende des Baumes. Keine Blätter, wen wundert es? Der Baum ist tot und alles in der Nähe dieses verfluchten Baumes stirbt. Ich kann den Baum nicht fällen, niemand kann das. Es ist so einfach, aber warum kann das niemand? Sie fällen Bäume überall auf der Welt - warum nicht diesen? Ausgerechnet dieser Baum kann nicht gefällt werden. Schwachsinn. Sinnlos. Amens, gib nicht nach. Kletter weiter.

"Daisy...Daisy...Daisy", ertönt es jetzt alle paar Sekunden. Egal wer du bist, ich werde dich töten, Daisy. Ich werde dich finden Daisy und dann werde ich dich töten, ich kann deinen Namen nicht mehr hören. Ich blicke nach oben. Geschafft. Ich bin fast da. Ich kann das Zwitschern der Vögel hören. Ich schließe die Augen. Irgendetwas trägt mich diese letzten paar Meter.

Als ich meine Augen wieder öffne kann ich die gesamte Landschaft sehen - eine Augenweide. Dieser Anblick. Unglaublich. Ich fühle mich frei, befreit. Es ist so friedlich und still. Die Geräusche, so natürlich. Weit und Breit sehe und höre ich nichts, was von Menschenhand geschaffen wurde. Ich bin froh, nicht mehr an meine Ehefrau zu denken. Eva, die Hexe. Ihr Name ist Eva, oder er klingt zumindest so ähnlich. Mir ist es egal, ich vergesse sie. Ich versinke in diesem Moment, ich habe mich selten so frei gefühlt. Diese Aussicht ist einfach wundervoll.

Ich sehe nochmal nach unten und ich muss lachen. So lange war ich dort unten gefangen. Lächerlich. Hier oben ist es schöner, viel schöner. Ich verweile noch einen Augenblick in diesem Zustand des Glücks, dann kommt mir der Gedanke. Wer zum Teufel ist Daisy? Ich krieg mich vor Lachen nicht mehr ein. Was für ein bescheurter Name. Wieso habe ich meine Zeit damit verschwendet, über so einen Namen nachzudenken? Meine Augen tränen, so krampfhaft muss ich lachen. Ich lache noch einige Minuten bis ich wieder zu mir komme.

Irgendwie lässt es mich doch nicht los. Niemand in meiner Familie heißt Daisy. Auch meine Ex-Frau nicht. Wer ist sie? Ich fasse mir nochmal in den Schritt. Penis. Danach fasse ich mir ins Gesicht. Ich bin jung. Meine Haut ist so zart. Ich strahle förmlich vor Jugend. Etwas stimmt nicht. Ich bin zu jung. Zu jung, um verheiratet gewesen zu sein. Ich fühle mich immer jünger, ich will springen. Alles sieht so witzig aus. Ich muss alles ausprobieren, ich will den ganzen Tag rumhüpfen und sinnfreie Lieder vor mich hinträllern.

Es ist so langweilig hier oben, hier muss es doch irgendwas zum Spielen geben. Ich sehe mich um und ein Apfel fängt meinen Blick. Er sieht unglaublich köstlich aus, den muss ich essen! Ich klettere so lange, bis der Apfel in meiner Reichweite ist. Ich strecke meine Hand aus und - hab ihn! Den werd ich sowas von genießen! Ich beiße in den Apfel und der Geschmack verbreitet sich in meinem ganzen Körper. So frisch, so köstlich. Ich kann nicht genug davon kriegen. Ich wünschte, ich könnte jede Sekunde meines Lebens damit verbringen diesen Apfel zu kosten. Ich sehe soviele Farben. Es ist so anders als normalerweise! Ich kann die Farben einfach nicht beschreiben. Alles ist Grot, Blün und Rlau. Zirkus! Lalalalalalala!

Ich war so sehr in meinem Rausch versunken, dass ich die Hilferufe im Hintergrund garnicht bemerkt habe. Plötzlich tritt die Realität wieder ein. Ein beängstigendes Wetter. Es hagelt, blitzt und donnert und ich sitze hier wie ein Idiot auf einem Baum. Ich höre wieder die Hilferufe, sie kommen von unten. Nach unten ist es, wo ich hin muss. Schutz vor dem Unwetter finden und der Person helfen. Ich klettere in Eile herunter, die Person klingt verzweifelt. Ich rutsche aus und der Ast, auf dem ich Stand bricht ab. Ich falle tief nach unten, die Landung ist angenehm.

Ich steh auf und sehe die um Hilfe rufende Person an. Es ist ein Mädchen. Sie ist unschuldig, ich kann es in ihrem Gesicht sehen. Sie ist verzweifelt, irgendetwas schreckliches muss passiert sein. "Was ist mit dir?", frage ich sie. "Ich habe getötet", jammert sie. "Warum", frage ich. Ich habe Angst. Sie ist angsteinjagend. Ich will mit ihr sprechen. Ich weiß, sie hat auch Angst. Ich erinnere mich an meine Hochzeit. Eva und ich waren sehr jung und haben den Bund für das Leben geschlossen. Wir waren beide ängstlich, weil wir eine tiefe Bindung mit unserem Gegenüber eingehen würden. Zu solch einer Beziehung gehört Aufopferung, Vertrauen und Hingabe.

Dieses weinende Mädchen, das vor mir steht erinnert mich an Eva. Wie sie sich wohl fühlt? Ich muss ihr zeigen, dass sie mir vertrauen kann, ich muss meine Angst überwinden. "Du brauchst keine Angst zu haben, ich werde dir helfen. Was ist passiert, wen hast du getötet?", frage ich einfühlsam.
Ein Blitz schlägt ein und trifft den Baum, von dem ich runter gekommen bin.
"Ich habe Amens getötet, Papa", sagt sie mit trockener Mine.

Sie hat mich Papa genannt. Ich habe keine Tochter. Der Baum wird wieder von einem Blitz getroffen und fängt diesmal an zu brennen. Das ist kein normaler Baum, er hätte längst umfallen müssen. Das Mädchen sieht mich mit gespenstischen Augen an. Sie starrt direkt in meine Seele. Die Flammen vom Baum verbreiten sich. Es wird heiß.

"Aber ich bin Amens, ich lebe doch noch?", frage ich. "Nein, Adam. Amens ist tot. Weißt du denn nicht, wer ich bin?", fragt sie. "Bist du Daisy?", frage ich. Sie reist mit ihrem Blick in den innersten Kern meiner Seele und sagt emotionslos: "Nein.". Sie ist nicht Daisy. Ich bin aus unerklärlichen Gründen erleichtert. Sie ist nicht mehr gruselig. Ihre Art hat etwas an sich. Sie ist besonders. Ich habe dieses Gefühl. Ein Gefühl, als würde ihre Persönlichkeit alle Eigenschaften dieser Welt vereinen. So frei von dem Schwachsinn der Menschen, sie ist so real.

Der Baum brennt immernoch. Ich glaube sogar, dass ich auch brenne. Aber die Flammen sind mir egal. Sie interessieren mich nicht. Beim Verbrennen geht nichts verloren, die Materie verändert einfach nur ihre Form. Vor Veränderung habe ich keine Angst. Vor Feuer fürchte ich mich nicht. Ich fürchte mich vor der Leere. Vor dem Nichts. Aber nicht vor diesem Mädchen. Sie rührt sich nicht, sie gibt keinen Ton von sich, aber doch spricht sie mit mir. Sie erzählt mit milliarden Geschichten und alle sind so interessant. So bin ich glücklich. Ich lasse den magischen Baum, die schöne Landschaft, meine wunderschöne Frau Eva, die köstlichen Früchte dieser Welt hinter mir, lasse sie in Flammen aufgehen. Alles, um dieses Mädchen in mein Herz zu lassen.

Ich frage nach ihrem Namen. "Ich habe unendlich Namen", antwortet sie. Ich verliebe mich. Ich erinnere mich, wie ich mich morgens von Eva verabschiedete. Das war keine Liebe, das war diese Sinnlosigkeit. Im Zug, auf dem Weg zur Arbeit las ich Zeitung. Wirtschaft, Politik, Kultur. Alles hat mich interessiert. Dieses Mädchen kennt sowas nicht und mir fällt kein Grund ein, warum sie das müsste. Sie ist jenseits von Geld und Familie. Jenseits von Religion und Moral. Jenseits von Emotionen und Wissen. Ich fühle mich durch ihre Anwesenheit vollkommen. Nein, nicht volkommen. Etwas fehlt. Eine Sache fehlt. Ich weiß, dass es vermutlich unwichtig ist. Ich habe in diesem Mädchen alles gefunden, wonach ich gesucht habe, aber trotzdem lässt mich der Name Daisy nicht los. Ich bin schwach. Ein einfacher Mensch. Nicht wie das Mädchen. Ich muss wissen wer oder was Daisy ist, ich werde es herausfinden. Alles andere kann warten.
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