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Alt 02.04.2019, 18:54   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Irish Coffee

„Können Sie nicht aufpassen!“ Britta bückte sich nach dem Päckchen, das ihr entglitten war, nachdem ein ungeschickter Passant sie angerempelt hatte. Doch der Verursacher war schneller als sie, pflückte das Päckchen vom Boden und hielt es ihr demütig unter die gekräuselte Nase. „Entschuldigung, das war keine Absicht.“

Britta brauchte ein paar Sekunden, um ihren Ärger abzuschütteln. Sie war lange genug auf der Jagd nach dem kostbaren Stück Porzellan gewesen, das sie Doris, ihrer beste Freundin, zum Geburtstag schenken wollte und von dem sie hoffte, dass es bei der Rempelei nicht zu Bruch gegangen war. Wenn doch, war es nicht mehr zu ändern, und ihr Ärger machte einer schicksalhaften Ergebenheit Platz.

„Danke.“ Sie nahm das Päckchen und wollte weitergehen, doch da fasste sie der Fremde an der Schulter: „Mensch, Britta, bist du immer noch in diesem Kaff unterwegs?“

Seine Stimme weckte in ihr eine alte, tief schlummernde Vertrautheit. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihm in die Augen. „Lars?“

Er grinste breit. „Kann nicht wahr sein, Britta. Du bist der letzte Mensch, den ich hier erwartet hätte. Du mit deinen Ambitionen.“

„Und du? Was machst du hier? Ich dachte, du seist in Amerika.“

„War ich auch. Ist eine lange Geschichte.“

Britta sah das Leuchten in Lars' Augen. Das gleiche Leuchten wie damals, als sie auf der Parkbank saßen und er sie gefragt hatte, ob er sie küssen dürfe, und sie, statt zu antworten, die Augen schloss und ihn gewähren ließ.

„Mensch, Britta,“ sagte Lars noch einmal, weil ihm nichts Besseres einfiel. Beide standen sich gegenüber, überwältigt von dem unerwarteten Zusammentreffen und völlig planlos, was sie damit anfangen sollten.

Lars fand zuerst zur Sprache zurück. „Komm, lass uns einen Kaffee trinken gehen.“

Sie setzten sich ins nächstgelegene Café, das mit Rokokomöbeln ausgestattet war und die Atmosphäre eines untergegangenen Bürgertums verbreitete. In dieser verstaubten Gemütlichkeit tranken sie statt normalen Kaffees dreimal hintereinander Irish Coffee, der ordentlich viel Rum enthielt, bis sie locker genug waren, sich den Wahrheiten der Vergangenheit zu stellen.

„Ich war fürchterlich in dich verliebt gewesen.“

„Ich in dich auch.“

„Du warst das hübscheste Mädel an der Schule. Alle nannten dich einen heißen Ofen.“

Britta kicherte. „Ja, so redete man damals. Wir waren das Traumpaar, über das sich alle die Mäuler zerrissen.“

Lars langte über den Tisch und nahm ihre Hand. „Warum hat es nicht mit uns geklappt?“

Britta schwieg, bis der vierte Irish Coffee serviert war. Sie spürte, dass ihr Schwips an der Schwelle zur Trunkenheit stand und sie besser hätte aufstehen und gehen sollen, aber da war etwas in den dunklen Tiefen ihres Seins, das sie festhielt und versprach, etwa in Petto zu haben. Irgendwo auf den Schuttbergen ihrer Vergangenheit lag noch etwas herum, das sortiert und erledigt werden musste.

„Weil …“, begann sie schließlich, stockte kurz, atmete durch und gab sich einen Ruck. „Weil meine Eltern dich nicht wollten. Weil sie meinten, du seist nicht gut genug für mich. Weil ich zu schwach war, mich gegen sie durchzusetzen. Weil ich feige war. Weil meine beste Freundin dich schlecht machte. Weil mir jeder einredete, was für ein Charakterschwein du seist, und weil viele Mädchen mir erzählten, was du mit ihnen …“

Ihre Stimme verlor sich. Hastig griff sie nach der Tasse mit dem Irish Coffee und nahm einen Schluck, um zu verbergen, dass sie den Tränen nahe war.

Lars strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Ich weiß, ich weiß. Und obendrein war ich jünger als du. Ein pickeliger Typ mit hässlichem Gesicht, zu großer Nase und dünnem Haar, nicht gerade das Ideal eines Schwiegersohns.“

Britta schüttelte den Kopf. „Du warst nicht hässlich – nicht für mich. Die Mädchen an der Schule hatten mich um dich beneidet.“

„Bist zu verheiratet?“

„War ich. Ein Flop.“

„Kinder?“

„Keine. Was ist mit dir?“

Er hielt seine Tasse in beiden Händen, als wolle er sie daran wärmen, und tauchte den Blick in die bräunliche Flüssigkeit, als könne er die philosophische Weisheit der ganzen Welt darin lesen.

„In letzter Zeit fühle ich mich sehr allein, und es ist ein Wunder, dass ich dich gerade jetzt wiedergefunden habe. Als ob das Schicksal mir einen Wink sendet, dass es eine Lücke in meinem Leben zu schließen gibt. Britta, ich will nachholen, was wir damals versäumt haben. Ich will mit dir schlafen.“

Britta war bewusst, dass Lars ihrer Frage ausgewichen war. Aber er hatte ausgesprochen, was auch in ihr brannte, nämlich das Verlangen zu stillen, das sie jahrzehntelang wie eine Fackel vor sich hergetragen hatte.

Er begleitete sie nach Hause. Sie legten Blues auf, küssten sich, zogen sich gegenseitig aus, tranken Cognac und Sekt durcheinander, alberten herum, tanzten nackt aneinandergeschmiegt, versuchten sich sanft und hart zu stimulieren, versuchten es mit Finger und Zunge – aber der erhoffte Zauber wollte sich nicht einstellen.

Als die Uhr auf Mitternacht zuschritt, kleidete Lars sich an. „Ich muss gehen, sonst wird sich meine Frau Sorgen machen. Außerdem muss ich früh raus, die Kinder zur Schule bringen. Meine Frau kann das nicht, weiß du, sie ist seit fünf Jahren querschnittsgelähmt.“

Britta schwieg, als er sich zum Abschied über sie beugte. „Vielleicht komme ich mal wieder vorbei.“

Sie schloss die Augen, wie damals auf der Parkbank, als er sie küsste und beide noch an die große, einzigartige, überwältigende, niemals endende Liebe glaubten. Als sie die Wohnungstür zuschlagen hörte, war die Fackel erloschen.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.05.2019, 11:18   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
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Beiträge: 6.687


Zitat:
.versäumt haben. Ich will mit dir schlafen.“

Britta war bewusst, dass Lars ihrer Frage ausgewichen war. Aber er hatte ausgesprochen, was auch in ihr brannte, nämlich das Verlangen zu stillen, das sie jahrzehntelang wie eine Fackel vor sich hergetragen hatte.

Er begleitete sie nach Hause. Sie legten Blues auf, küssten sich, zogen sich gegenseitig aus, tranken Cognac und Sekt durcheinander, alberten herum, tanzten nackt aneinandergeschmiegt, versuchten sich sanft und hart zu stimulieren, versuchten es mit Finger und Zunge – aber der erhoffte Zauber wollte sich nicht einstellen.
Auf die Art bestimmt nicht.... Damals wurde etwas versäumt und das muss nun auf Biegen und Brechen nachgeholt werden und zwar schnell, schnell, denn morgen könnte es zu spät sein. Aber erzwingen kann man das nicht und statt eine schöne Erinnerung zu haben, ist Britta um eine Illusion ärmer. Zumal auch die Romantik hier völlig fehlt. "Du bist mal gerade gut zu fassen, deswegen muss das jetzt ausgenutzt werden." Von jetzt auf gleich in den Begehrmodus schalten, das funktioniert nicht, auch wenn die zwei in früheren Zeiten mal sehr verliebt waren.

Die Geschichte spiegelt das gut wider.

Zitat:
Als die Uhr auf Mitternacht zuschritt, kleidete Lars sich an. „Ich muss gehen, sonst wird sich meine Frau Sorgen machen. Außerdem muss ich früh raus, die Kinder zur Schule bringen. Meine Frau kann das nicht, weiß du, sie ist seit fünf Jahren querschnittsgelähmt.“
Dass mit "Frau im Rollstuhl" noch eines drauf gesetzt wird, finde ich für die Geschichte übertrieben, aber das ist vermutlich Geschmackssache.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.05.2019, 22:34   #3
männlich Heinz
 
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Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879


Liebe Ilka-Maria,
ich habe tatsächlich einen Minifehler entdeckt: "...ihrer beste Freundin..." müsste "ihrer besten Freundin" heißen.
Zur Story selbst: Der verständliche Wunsch " Ich will mit dir schlafen" kommt mir zu unvermittelt und ich hätte ihn wahrscheinlich (den Wunsch) auch gehabt, ihn aber irgendwie anders geäußert.
"Ich war fürchterlich in dich verliebt gewesen.“ ist korrekt, aber im Zwiegespräch hätte meiner Meinung nach: "Ich war so fürchterlich in dich verliebt" genügt.
Dass der "der erhoffte Zauber" sich nicht einstellen wollte, liebe Ilka-Maria: Nach vier Irish Coffee, dann noch "Cognac und Sekt durcheinander" hätte - zumindest bei mir - auch kein Zauber mehr geholfen.
Ansonsten: Gern gelesen und verstanden.
Liebe Grüße,
Heinz
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