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Gefühlte Momente und Emotionen Gedichte über Stimmungen und was euch innerlich bewegt.

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Alt 29.07.2011, 12:54   #1
Hans Werner
 
Dabei seit: 03/2008
Beiträge: 84

Standard Gläser mit Sprung

Gläser mit Sprung

Erzählung von
Hans Werner

Zwischen rostbraun und gelb gefleckten Blättern, die der Wind vor sich hertrieb, schaute verwaschener Kies mit hundert weißen und schwarzen Augen zu einer alten Frau empor, die müde und eingefallen auf einer Bank saß, den Kopf in die Hand gestützt, in der anderen Hand eine altmodische, schwarzglänzende Damenhandtasche, und mit leerem Blick in die endlose Weite der Parkallee starrte. Ein alter Krückstock lehnte an ihren Knien und gab beredtes Zeugnis von Alter, Gebrechlichkeit, Mühsal, Pflegebedürftigkeit, Unselbständigkeit und Abhängigkeit. Fuhr ein neuer Windstoß zwischen die welken Blätter, sodass sie knisternd und raschelnd auseinanderstoben, dann konnte es vorkommen, dass die Frau ihren Kopf geringfügig in der Stellung veränderte und zuweilen sogar in die Kronen der Buchen, Kastanien und Lindenbäume hinaufblickte, aus denen rauschend neue Blätter herunter regneten, wenn der Wind mit neuer Kraft Äste und Zweige schüttelte. An einer Wegbiegung, in gemessener Entfernung, stand ein Springbrunnen, der aber zu dieser Jahreszeit nicht in Betrieb war und dessen graues und schmutziges Wasser, gleich einem Tümpel, reglos im Becken lag. Inmitten des Beckens erhob sich eine weiße Statue, wohl eine junge Frau darstellend, die in anmutiger Pose eine weiße Schale über der einen Schuler hielt und die in ihrer steinernen Unvergänglichkeit einen auffälligen Gegensatz bildete zu der lebenden Vergänglichkeit der Natur um sie herum.
Die Frau hatte sich auf die Bank gesetzt, um sich von ihrem Spaziergang auszuruhen, den sie in gewohnter Gleichförmigkeit Tag für Tag zurücklegte, vom Altersheim über den Marktplatz zum Stadtpark und anschließend wieder zurück. Die Einsamkeit war für diese Frau Not und Erlösung zugleich. Ihr Alleinsein erfüllte sie mit Trauer, wenn sie an ihre Jugend dachte, an ihr inhaltsreiches und sinnerfülltes Leben, an ihre kinderreiche Familie, an ihren verstorbenen Mann, an ihren Aufenthalt in Amerika, an die sturmbewegten Zeiten des Krieges, an die vielen Abschiede und Wiedersehensfreuden, an das Glück ihrer heranwachsenden Kinder, die später, ausnahmslos, in weite Fernen ausflogen, so wie sich Zugvögel in den letzten Sommertagen scharenweise auf die Reise machen in südlichere und wärmere Gegenden.
Aber dieses Alleinsein, dieses Für-sich-sein, bedeutete für sie auch eine Erlösung, weil sie nach dem pflichtgemäßen Nachmittagsschlaf ihr Zimmer im Altersheim verlassen konnte und mit Hilfe ihres Krückstocks sich in die Welt der „normalen Menschen“ hinaus begeben konnte, ständig hoffend, mit jungen Menschen in Kontakt zu kommen, oder wenigstens Kindern beim Spielen zuzusehen, ihr frisches Lachen zu hören, ihre gesunde Munterkeit zu genießen und dadurch ihre junggebliebene Seele mit Erinnerungen aus der Vergangenheit zu laben. Manchmal konnte es auch geschehen, dass die alte Frau einem Liebespaar nachsah und heimlich, als ob sie sich ihrer Blicke schämen müsste, die Liebkosungen und Zärtlichkeiten der jungen Menschen beobachtete und im Schauen nachempfand.
Und Erlösung erlebte sie in diesem Alleinsein auch durch die Befreiung von ihrer Zimmerpartnerin, einer alten, aber relativ gesund gebliebenen Dame, deren Seele an Unzufriedenheit und Nörgelsucht krankte, und die durch dauerndes Quängeln ihre doch so feinfühlige Mitbewohnerin stets quälte und mit boshaften Gedanken traurig stimmte.
Die Parkallee schien ins Endlose zu verlaufen, ihr Ende verschwand im Nebel, der sich wie ein weiches, graues Tuch über Bäume und Sträucher legte. Plötzlich wurde der Nebel an einer Stelle dunkel, er geriet in Bewegung, bis sich im fernsten Fluchtpunkt des Parkweges eine Gestalt aus ihm herausschälte. Gleichzeitig drang knirschendes Geräusch von Schritten an die Ohren der alten Frau, die immer noch sehr scharf hörte. Es war ein junger Mann, Jugend näherte sich ihr. Als die alte Frau diesen Menschen gewahrte, ging ein leises Zittern durch ihren Körper und sie straffte ihre Haltung zu angespannter Aufmerksamkeit. Würde sich dieser Mensch neben sie hinsetzen oder achtlos an ihr vorübergehen. In mädchenhaft taktischer Berechnung rückte die Frau von der Bankmitte seitwärts etwas nach rechts, entnahm ihrer Handtasche ein weißes Tüchlein, das sie im geeigneten Moment fallenlassen würde, schob ihren Krückstock unauffällig hinter die Bank und sah dem jungen Mann erhobenen Hauptes und mit freundlich geöffnetem Blick entgegen.
Er kam heran. Seine Gangart war eher lässig und schlendernd und schien darauf hinzudeuten, dass auch sein Spaziergang vorwiegend seelischen Bedürfnissen entsprungen war. Plötzlich rutschte der alten Frau, ganz zufällig, das seidene Taschentuch aus den Händen. Weißrosa leuchtend lag es herausfordernd auf dem Kiesweg. Der junge Mann konnte es nicht übersehen. Eilends ging er hin, hob es auf und überreichte es der Frau mit aufmerksamer Geste.
Sie nahm es dankend entgegen.
"Ach, sehr freundlich, junger Mann. Ich bekomme so leicht Nasenbluten und getrau mich deshalb nicht, mich zu bücken."
"Ist Ihnen schlecht? Soll ich einen Arzt rufen oder Sie heimführen?"
"Ach nein, wissen Sie, manchmal wird mir auf meinen Spaziergängen leicht schwindelig und dann setze ich mich hin und warte, bis es vorbei ist. Dabei halte ich immer mein Taschentuch in Bereitschaft, wegen des Nasenblutens. Jetzt ist es mir hinuntergefallen. Meine Hände sind so zitterig."
Langsam und bedächtig hatte die alte Frau gesprochen. Während sie noch sprach, hatte sich der junge Mann zu ihr gesetzt. Er schien Zeit zu haben und ein mitfühlendes Herz zu besitzen. Sofort begann er, sich nach den Verhältnissen der alten Frau zu erkundigen.
Aber davon wollte sie nicht sprechen.
"Erzählen Sie von sich junger Mann. Was machen Sie? Wo gehen Sie jetzt hin?"
"Ich studiere noch und möchte Lehrer werden. Und weil Sie mich fragen, was ich mache, so will ich Ihnen rundheraus sagen, dass ich soeben von meiner Freundin komme, mit der ich in heftigen Streit geraten bin, weil sie in vielen Dingen so bestimmte Ansichten hat, dass ich selbst dazu gar nichts mehr sagen darf, geschweige denn, etwas dagegen vorbringen. Ich glaub, ich mach Schluss mit ihr."
Nun wurde die alte Frau lebhafter und begann sich für diesen jungen Menschen zu interessieren. Es lockte ein Gefühlserlebnis, spannend und taufrisch, das sich im Busen dieses Mannes verbarg, und dem sie unbedingt auf den Grund gehen musste.
„Worüber habt ihr euch denn gestritten?"
"Ach, das ist eine dumme Geschichte. Sie ist so dumm, dass man sie gar nicht weitererzählen sollte. Ein Unbeteiligter würde sie nie und nimmer verstehen und begreifen."
"Ach, jetzt machen Sie mich neugierig, junger Mann. Bitte, machen Sie mir die Freude und erzählen Sie."
"Ja, die Geschichte ist die...", begann er nun zögernd zu sprechen, "wir haben uns vor drei Wochen verlobt, und nun fängt meine Freundin an, zielstrebig Geschirr und Wohnungsinventar zu kaufen. Und bei allem hat sie ihre festen Vorstellungen und ich habe so ein beklemmendes Gefühl. Jedes Mal, wenn wir zusammenkommen, fühle ich mich bedrückt und empfinde eine wahre Angst vor ihrer dominierenden Art. Stellen Sie sich vor, nicht einmal Weingläser haben wir gefunden, die uns beiden gefallen hätten. Sie will partout Gläser ohne Stil, und ich möchte Weingläser mit Stil, so wie ich sie von Hause her kenne."
"Aber das ist doch mir eine lächerliche Kleinigkeit, eine Bagatelle. Darüber streitet man sich doch nicht. Da kann man sich doch einigen.“ Und dann wurde die alte Frau etwas melancholisch und ihre Augen schimmerten feucht.
„Denken Sie, ich habe alle meine Gläser in Amerika zurücklassen müssen, und … mein Mann ruht seit zwanzig Jahren in einem Vorstadtfriedhof von New York."
Sie wischte sich ein paar Tränen aus den Augen.
"Warum habt ihr euch denn gestritten? Konntet ihr euch denn nicht einigen?"
"Ach, wissen Sie, das ist alles so dumm. Wenn ich sage, ich hätte gern andere Gläser, dann ist sie beleidigt und wirft mir vor, ich würde ihr kein Urteilsvermögen zutrauen. Und dann sagt sie, sie hätte guten Geschmack und hätte sich schon viel mit Keramik- und Porzellanwaren beschäftigt. Sie kenne sich aus und wisse, was in einem modernen Haushalt modisch und chic aussieht. Außerdem seien konische Gläser viel praktischer für die Spülmaschine, und für den Haushalt sei ja schließlich sie zuständig."
"Ja, und was sagten Sie darauf?"
"Ich sagte zunächst gar nichts mehr, weil ich in mir eine Verstimmung emporkommen fühlte, die von der drückenden Angst begleitet war, ich hätte später bei diesem Menschen überhaupt nichts mehr zu sagen."
"Und was sagten Sie dann schließlich?"
"Ich sagte zu ihr, ich wollte nun meine Ruhe haben und allein sein. Und ich sagte auch, dass es wohl besser sei, wenn wir uns einige Tage nicht mehr sehen würden, um über unsere Beziehung nachzudenken."
"Und wie reagierte das Mädchen?"
"Sie fing an zu weinen und ist dann fortgegangen."
"Junger Mann", erwiderte die Frau nach längerem Schweigen, "Junger Mann. Gehen Sie zu ihrer Freundin zurück. Machen Sie ihr ein kleines Geschenk. Ein solches Mädchen, wie Sie mir ihre Freundin ge¬schildert haben, braucht Selbstbestätigung, Anerkennung und Liebe. Im Grunde ihres Wesens ist sie vielleicht unsicher. Lassen Sie ihr die Gläser, verzichten Sie überhaupt auf bewusste Mitsprache in Haushaltsdingen, und Sie werden sehen, Ihre Freundin kommt von selbst auf Sie zu und will Ihre Meinung hören. Wenn Sie selbst nichts mehr sagen, wird Sie ihre Freundin dazu auffordern, auch Ihr Urteil abzugeben. Denn Schweigen macht den Partner unsicher, und wenn Sie schweigen, gewinnen Sie dadurch die Möglichkeit zu sprechen."
Erstaunt blickte der junge Mann auf das kluge Gesicht der alten Frau. Es schien zunächst, als könne er sich in diesem Menschen überhaupt nicht zurechtfinden. Schließlich sagte er:
"Vielleicht haben Sie Recht. Von der Seite sah ich‘s nie. Tatsächlich hat meine Freundin manchmal Komplexe, weil sie nur Kindergärtnerin ist, und ich in die Kreise der Akademiker aufrücken werde."
"Sehen Sie", fiel ihm die alte Frau mit Lebhaftigkeit ins Wort, "So geht es doch den meisten von uns Frauen, wir müssen uns dem Mann gegenüber behaupten, weil wir ihm in vielen Dingen unterlegen sind. Aber im Grunde sind wir froh, wenn uns die Männer achten und wenn sie respektieren, was wir tun. Und nichts Schlimmeres gibt es für uns, als wenn wir aufhören, dem Mann etwas zu bedeuten. Nur sind die jungen Menschen oft noch so unbeholfen, und wissen so gut wie nichts über sich selbst."
Mit diesen Worten erhob sich die alte Frau, ergriff Tasche und Krückstock und verabschiedete sich von dem Studenten, der sich ebenfalls wieder auf den Weg machte, und ging den langen Parkweg zurück in Richtung Marktplatz und Altersheim, zurück in ihr Zimmer, das sie auch diesen Abend, wie an allen vorhergehenden und allen kommenden, mit ihrer unzufriedenen Zimmerpartnerim würde teilen müssen.
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