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Alt 25.12.2021, 01:51   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Die Hexe

„Aufhören!“ Mit ihren Ellbogen hatte sich Katharina eine Gasse durch die gaffende Menge geschlagen und war bis zum Schafott durchgedrungen. Es war nur drei Stufen hoch, gerade so, dass jeder Umstehende auf dem Versammlungsplatz eine gute Sicht auf die Zeremonie haben konnte. In Windeseile war Katharina oben und klammerte sich an den Arm des Scharfrichters, der die Garotte anspannte.

„Lass ihn los!“

Doch der Scharfrichter schüttelte sie mit kräftigen Armen ab und zog die Garotte enger. „Was willst du hier, Katharina? Du hast hier nichts verloren.“ Mit einem Seitenblick auf die Schergen der Obrigkeit, die das Schafott vor der Menge abschirmten, bellte er sie an, so dass alle Gaffer es hören konnten: „Geh auf deinen Hof zurück, Katharina! Sorge dich um deine Kinder und um das Grab deines Gatten.“ Leise, dass nur Katharina es hören konnte, fügte er hinzu: „Mädel, du riskierst dein Leben. Geh!“

Katharina ließ sich nicht einschüchtern. Mit spitzem Finger zeigte sie auf den Mann, um dessen Kehle sich das Seil spannte. „Adam ist unschuldig!“

„Das hast du nicht zu entscheiden, Katharina“, erwiderte Wilhelm, der Scharfrichter, und schraubte die Garotte enger.

„Oh doch. Weil ich es besser weiß.“ Und sie verpasste Wilhelm einen Schlag ins Gesicht, so dass er zurücktaumelte und die Garotte losließ. Adams Kehle und Nacken waren blutunterlaufen, und aus der Tiefe seines Brustkorbs löste sich ein erbarmungswürdiges Röcheln, als Katharina den Strick von seinem Hals zu lösen begann. Augenblicklich war sie von Schergen umringt, die bereit waren, sie festzunehmen. Der Richter, der ihrem Eingreifen wie erstarrt zugesehen hatte, trat an sie heran. „Du stellst dich gegen das Gesetz, Katharina. Weißt du, welche Konsequenzen das für dich hat?“

Sie verzog ihre Lippen in Trotz. „Das weiß ich wohl. Aber Adam hat nichts verbrochen.“

„Dein Mann hatte ihn wegen Diebstahls verklagt.“

„Hans hat jeden verklagt, der ihm auf fünf Schritt zu nah kam. Er hat euch immer gut bezahlt oder ein fettes Schwein geliefert für jeden, dem ihr dafür die Luft abgedreht habt.“ Sie zeigte auf den Priester, der Adam den letzten Segen gegeben hatte. „Und der da kam auch nicht schlecht dabei weg. Schaut euch diesen feisten Prediger an, der jedem Bauern und seiner Familie die Hölle prophezeit, der ihm kein Butterfass, einen Ochsen und seine jüngste Tochter zur Kebse gibt.“

Katharina wandte sich den Gaffern zu. „Aber damit ist jetzt Schluss! Wollt ihr wirklich, das eure Männer, Brüder und Söhne von euch gerissen werden, weil sie aus Habsucht verleumdet werden. Wollt ihr, dass eure Töchter im Namen Jesu geschändet werden von geilen Predigern, die ohnehin wie Geißböcke jede Nonne besteigen?“ Sie deutete auf Adam, dem sie aufgeholfen hatte und der sich auf sie stützte. „Dieser Mann hatte nichts als Hunger, als er auf unseren Hof kam. Dürr und ausgemergelt. Er suchte nach Arbeit, weil er essen musste. Wir konnten ihm keine geben. Aber ich schenkte ihm zwei rohe Eier, gerade genug zu essen, um das nächste Dorf zu erreichen und dort um Arbeit zu ersuchen. Aber Hans nahm es mir übel und zeigte ihn des Diebstahls an.“

„Der Teufel soll dich holen, Katharina!“ Aus der Menge reckten sich ihr Fäuste entgegen. „Du hast uns die Hinrichtung verdorben!“

„Lasst euch doch selbst hinrichten, wenn ihr dieses Schauspiel braucht! Dann seid ihr wenigstens mit jeder Faser dabei! Vielleicht hat jeder von euch genug auf dem Kerbholz, dass er es verdient.“

Sie wandte sich dem Richter zu. „Du weißt, dass sich die Sachlage geändert hat. Hans ist gestern verstorben. Jetzt bin ich Herrin auf dem Hof, und mein Wort steht gegen seins. Adam hat nicht gestohlen. Außerdem brauche ich einen Knecht. Allein kann ich den Hof nicht bewirtschaften.“

„Du reitest ein wildes Ross, Katharina. Aber wie du willst. Wir werden den Fall neu verhandeln.“ Er gab den Schergen und dem Prediger einen Wink, Katharina und Adam vom Schafott steigen zu lassen. Sie geleitete Adam die Stufen hinunter, und während sie mit ihm durch die Menge der Gaffer ging, wischte sie sich mit ihrer Schürze die Spucke weg, die man ihr ins Gesicht und in die Haare spie.

Sie hatte den größten Hof im Umkreis von zehn Dörfern, und die benachbarten Bauern schickten ihre Söhne los, um sie zu werben und den Hof in Besitz zu nehmen. Sie wies alle ab. Es bedurfte nur weniger Monate, um sie zu verdächtigen, eine Hexe zu sein und mit dem Teufel im Bunde zu stehen. Und dieser Teufel konnte nur Adam sein, ein Verführer, der gegen Sitte und Moral verstieß.

„Du musst fort“, sprach Katharina und gab ihm sein Bündel. „Du bist hier nicht mehr sicher.“

„Und du? Sie verhandeln neu über dich.“

„Scher dich nicht drum. Geh einfach. Ich habe dich einmal gerettet, ein zweites Mal schaffe ich das nicht.“

Er ging.

Sieben Monate später brachte Katharina einen Sohn zur Welt und nannte ihn Johannes. Er war zwanzig Jahre alt, als ein Fremder an die Tür seiner Hütte klopfte. „Hier muss eine Frau leben, die Katharina heißt. Ich will zu ihr.“

Johannes führte den Fremden auf den Kirchhof und zeigte ihm Katharinas Grab. „Warum starb sie so früh? Woran?“, fragte der Fremde.

„Am Feuer. Man machte ihr den Prozess. Danach ging ihr Hof an Martin. Er hatte um sie geworben, aber sie wollte ihn nicht.“

„Aber du …“

„Ich bin nur noch Knecht auf dem Hof. Es geht mir gut. Ich habe meine eigene Stube und jeden Tag zu essen. Aber warum interessiert dich das alles?“

„Ich dachte, es sei ein Teil von mir. Aber es war ein Fehler, zurückzukommen.“

Johannes nickte. „Mutter sagte immer: Hoffentlich kommt er nicht zurück, es wäre ein Fehler. Man würde ihn umbringen.“

„Wen meinte sie damit?“

„Meinen Vater.“

„Wie hieß dein Vater?“

„Adam. Sie sagte Adam.“

Der Fremde nickte gedankenvoll. „Genau wie ich.“ Dann ging er davon, ohne nochmal zurückblicken.

Er war schon weit gegangen, nur noch ein Punkt in der Ferne, als Johannes plötzlich begriff und loslief, um ihn zurückzuholen.
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Alt 27.12.2021, 18:22   #2
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Hallo Ilka-Maria,

sehr spannend geschrieben! Mir hat es sehr gut gefallen.

Viele Grüße
Noro

PS. Deine Geschichten verstehe ich besser als deine Gedichten, vielleicht weil alles viel klarer für mich, als "nicht Muttersprachler", ist.
Noroelle ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.12.2021, 20:13   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Noroelle Beitrag anzeigen
sehr spannend geschrieben!
....

PS. Deine Geschichten verstehe ich besser als deine Gedichten, vielleicht weil alles viel klarer für mich, als "nicht Muttersprachler", ist.
Freut mich, wenn du dich gut unterhalten gefühlt hast.

Ich lege großen Wert darauf, in einer klaren, verständlichen Sprache zu schreiben.
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Alt 29.12.2021, 13:37   #4
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... tja, du kannst es eben, gern und leicht verwundert gelesen. Meines Wissens wurde das Würgeisen bzw. die Garotte im deutschen Raum nicht verwendet. Für diese gute Story grundsätzlich egal, mich interessiert nur, ob du denn andere Infos hast.(?)
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.12.2021, 13:52   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
Meines Wissens wurde das Würgeisen bzw. die Garotte im deutschen Raum nicht verwendet. Für diese gute Story grundsätzlich egal, mich interessiert nur, ob du denn andere Infos hast.(?)
Weiß ich nicht, da müsste ich nochmal in meinem Katalog nachschauen, den ich aus dem Kriminalmuseum in Rothenburg mitgebracht habe. Ist aber egal, es könnten auch Pferde gewesen sein, die an einem Körper zerrten.

Vom Brüllenden Ochsen bis zum Radflechten war damals alles möglich.

Stephen King sagte einmal über seine Schreiberei, was er nicht wisse, erfinde er einfach.
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Alt 29.12.2021, 14:57   #6
männlich dunkler Traum
 
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... aus meinem alten Leben als Schinder kenne ich noch genug.

Die Garotte war hier auch bekannt, wurde aber eher mobil in Gaunerkreisen verwendet. Pferde werden in deinem Fall wohl eher nicht genommen, war nur ein kleiner Diebstahl auf dem Dorf, normalerweise Züchtigung und/oder körperliche Zeichnung (Finger/ Ohr ab).
Die gesellschaftliche Stellung des Betroffenen spielte bei der Wahl des Prozedere auch eine Rolle, Adelige wurden meist nicht gehängt.

Dies spielt in deiner Geschichte aber wohl eher eine untergeordnete Rolle, hier ging es um Neid, Macht, Stolz, Gier und andere "Todsünden", vermutlich auch um die Durchsetzung des Patriarchats und um das damalige Unterhaltungsprogramm der öffentlich rechtlichen...
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.12.2021, 15:10   #7
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
... und um das damalige Unterhaltungsprogramm der öffentlich rechtlichen...
Zum Glück haben wir heute die Fernsehprogramme. Was dort abgeliefert wird, ist an Gottesprüfungen mehr als genug.
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