Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Kolumnen, Briefe und Tageseinträge

Kolumnen, Briefe und Tageseinträge Eure Essays und Glossen, Briefe, Tagebücher und Reiseberichte.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 19.12.2021, 08:25   #1
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.089

Standard Der Gretel

Wie in jedem Jahr bekommt der Nadelbaum auf dem Frankfurter Weihnachtsmarkt, aufgestellt direkt vor dem Römer mit der altehrwürdigen „Seufzerbrücke“, im Volksmund so genannt, weil hier die Trauungen stattfinden, nach denen die frischvermählten Paare Hand in Hand in das Freilufttheater ihrer Gefangenschaft heruntersteigen, einen Namen.

Der Parität wegen wechselt der Name von Jahr zu Jahr zwischen weiblich und männlich. Diversität war in dieser Tradition noch nicht angekommen, offensichtlich auch nicht das gleichberechtigende Gendern. Denn wer geglaubt hätte, den Nadelbaum (vermutlich eine Fichte, aber dafür könnte ich nicht die Hand ins Feuer legen, weil ich in Sachen Flora eine absolute Null bin) im politisch-korrekten Covid-19-Omikron-Dezember 2021 trotz seines der Grimm’schen Romantik entlehnten weiblichen Vornamens „Gretel“ als ein weibliches Wesen ansehen zu dürfen, hatte sich gewaltig geirrt. Die Stadtväter hatten sich nämlich darauf geeinigt, dass er nicht „die Gretel“, sondern „der Gretel“ heißen müsse, denn schließlich handele es sich um einen Baum, und der trüge einen männlichen Artikel.

Nun gut, überlegte ich, als ich vor einigen Tagen vor diesem schmuckträchtigen Wunderwerk stand, hätte man aber auch nicht von der Tanne, der Fichte, der Kiefer oder der Lärche ausgehen können? Und wie kann es sein, dass ein Lebewesen, das als „der Baum“ Alleen flankiert und im Rudel ganze Wälder bildet, im Moment der Konkretisierung einen weiblichen Artikel anstatt eines männlichen auf die Krone gedonnert bekommt: die Birke, die Kastanie, die Eiche, die Buche … Eibe, Esche, Espe, Pappel. Okay, dazwischen steht auch mal ein Kerl wie der Ahorn oder der Trompetenbaum, aber das sind Ausnahmen.

Etwas stimmt hier nicht. Wie kann es sein, dass im Zeitalter der tausend Messungen, in dem jedes Wort gewägt werden muss, bevor man es von den Stimmbändern schießt, ein Baum mit weiblichem Vornamen ohne jeglichen biologischen Beweis zu einem „Der“ gemacht wird? Misstrauisch nahm ich die Tanne beziehungsweise Fichte oder Kiefer in Augenschein, konnte aber keinerlei sexuellen Merkmale feststellen, die mir eindeutig hätten versichern können, es mit einer weiblichen oder männlichen Pflanze zu tun zu haben. Oder gar mit einer „diversen“. Ach ja, „die“ Pflanze – da haben wir es wieder …

Irritiert verließ ich den Weihnachtsmarkt, tröstete mich aber damit, dass sich nur ein weiblicher Baum ohne Gegenwehr wie ein Pfingstochse schmücken und vier Wochen lang in das eklige Dunstgemisch von Bratwürsten, Kartoffelpuffern, Gewürzbonbons und Glühwein stellen ließe. Ein männlicher Nadelbaum hätte längst den ganzen Flitter und Plunder von den Ästen geworfen, um nicht als schwul verdächtigt zu werden, was erklärt, dass alle zwei Jahre ein Besucher des Weihnachtsmarkts den Heiligen Abend mit Kopfschmerzen überstehen musste, weil ihm eine der riesigen Glaskugeln auf den Kopf gefallen war.

Vielleicht waren die Frankfurter Stadtväter einfach zu dumm, um etwas von Grammatik zu verstehen. Man weiß ja: Wer den Schulunterricht verschlafen hat, geht in die Politik, die einzige Landschaft, in der man noch die Flöte spielen kann, deren Tönen die Ratten hinterherlaufen. Oder sie gehören der reaktionären Garde an, auf deren Flagge geschrieben steht, das Land könne nur am männlichen Wesen genesen.

Fähigen Stadtvätern wäre ein Fauxpas wie „der Gretel“ nicht passiert, da bin ich mir hundert-pro sicher. Sie hätten den Baum „das Gretel“ oder geschlechtsneutral „Toni“ oder „Friedel“ genannt. Es müssen schließlich nicht immer die südhessischen Romantiker sein, die als Lieferanten für Namensgebungen herzuhalten haben. Oder kann sich jemand vorstellen, einen Weihnachtsbaum „Rapunzel“, „Rotkäppchen“ oder „Rumpelstilz“ zu nennen?

Trotz vielen Kopfkratzens fand ich zu keiner Lösung des Problems, und deshalb beschloss ich, alles beim Gewohnten zu belassen: Der Baum bleibt ein Baum, und wenn er mit Kugeln und Lametta behangen im Wohnzimmer steht, ist er „der“ Weihnachtsbaum, auch wenn er als „die Fichte“ oder „die Kiefer“ im Biologiebuch steht.

In diesem Jahr habe ich ihm trotzdem einen Namen gegeben: „Andrea“. Mein Mann ist nämlich Italiener. Und wir beide kümmern uns einen feuchten Kehricht um den Gender-Wahn, der bereits am obersten Treppenabsatz der „Seufzer-Brücke“ nicht mehr halten kann, was er seinem seligen Brautpaar wenige Minuten vorher versprochen hat. Der eindeutigste Beweis dafür ist die Tatsache, dass es noch kein Mann geschafft hat, ein Kind zu gebären.

19.12.2021
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.12.2021, 12:14   #2
männlich Ex-Lichtsohn
abgemeldet
 
Dabei seit: 03/2015
Beiträge: 1.493

Liebe Ilka-Maria,

deine Zeilen wirken stellenweise so bissig, so scharf und dann doch wieder liebevoll und humorvoll, besonders diese Stelle hier:

Zitat:
Ein männlicher Nadelbaum hätte längst den ganzen Flitter und Plunder von den Ästen geworfen, um nicht als schwul verdächtigt zu werden, was erklärt, dass alle zwei Jahre ein Besucher des Weihnachtsmarkts den Heiligen Abend mit Kopfschmerzen überstehen musste, weil ihm eine der riesigen Glaskugeln auf den Kopf gefallen war.
Hier entlarvst du diese Situation als ein Paradoxon und du scheust auch nicht davor zurück ein wenig fabulös damit umzugehen - das hat mir unglaublich gut gefallen, weil es so unverblümt die scheinbare Richtigkeit und Wichtigkeit dieser Geschlechtsdeklarationsversuche und Geschlechtsdeklarations-Umbruchversuche auf den Punkt bringt und gleichzeitig bloßstellt.

Ich bin aber sicher dass du auf deiner Weihnachtsmarktwanderung auch noch schöne Momente und Impressionen gefunden hast und vielleicht die ein oder andere weitere Idee.

Alles Liebe
Ex-Lichtsohn ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.12.2021, 12:28   #3
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.089

Zitat:
Zitat von Lichtsohn Beitrag anzeigen
Hier entlarvst du diese Situation als ein Paradoxon ...
So isses.

Wir leben in einer Zeit, in der die Menschheit auf unserer Seite des Planeten total bekloppt ist. Dekadente Wohlstandsesel, so weit das Auge reicht. Wem keine Probleme gemacht werden, schafft sich eben selber welche.
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Der Gretel



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Hänsel und Gretel gummibaum Fantasy, Magie und Religion 7 19.11.2012 23:59


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.