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Alt 28.12.2021, 19:39   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Süße Rache

Die Ostertage hatten in diesem Frühjahr bereits sommerliche Temperaturen erreicht, so dass Hilde vorschlug, nochmal rauszugehen, zum Platz in der Mitte des Dorfes, wo die Kirche stand und sich an warmen Abenden die Jugend traf. Mir war jede Anregung recht, denn ich war Gast in diesem Weiler, der aus kaum mehr als dreihundert Seelen bestand, wo jeder jeden kannte und wo meine Großmutter geboren war, mit der ich schon mehrfach die Osterferien dort verbracht hatte. Hilde war die Tochter der Bäuerin und des Bauern, bei denen wir uns gegen Mietzahlung einquartiert hatten, und schon deshalb sah sie es als ihre Pflicht an, mich, das Stadtkind mit null Ahnung vom Leben auf dem Lande, rund um die Uhr zu betutteln.

Auf dem Weg zum Dorfplatz entlang der Straße, die man eher als einen breiten, asphaltierten Weg bezeichnen musste, denn Bürgersteige gab es nicht, begegneten wir Lukas, wie wir ungefähr dreizehn Jahre alt, etwas kurz geraten, aber stämmig. Seine Arme umschlangen eine Kloschüssel, die ausgedient hatte, was unschwer an dem Urinstein zu erkennen war, der an der Stelle klebte, wo einst das Wasser der Spülung in das Becken lief.

Der Anblick dieses Objektes einer fortgeschrittenen Zivilisation erstaunte mich. Nicht, dass es mir an Vertrautheit mit modernen Einrichtungen der Fäkalienentsorgung gefehlt hätte, denn schließlich war ich in der Stadt aufgewachsen. Aber hier, an diesem Ort, erschien mir eine Kloschüssel aus weißem, glatten Porzellan nicht nur exotisch, sondern fast obszön. Wer in diesem Kaff, das am Rande der Welt zu liegen schien, unweit der tschechischen Grenze, wo es damals noch Wachtürme mit bewaffneten Landesverteidigern gab, die das Gebiet rund um die Uhr millimetergenau mit Feldstechern observierten, konnte sich so einen Luxus leisten? Und obendrein, so mein Verdacht, auch noch im Austausch gegen eine neue Kloschüssel …

Bei unserem Bauern gab es nur den ortsüblichen Donnerbalken, für mich, als ich erstmals bei den Bauersleuten Gast war, ein Novum. Er befand sich gegenüber dem Wohnhaus, in der Scheune, auf deren Dachboden die Dreschmaschine stand und wo nach der Getreideernte die Spelzen flogen. Er hatte seinen Platz links neben dem Eingang, direkt am Schweinestall, und war ohne Sichtschutz, eine offene Nische mit einer Holzkonstruktion, die wie eine Truhe aussah und einen runden Deckel auf einer Öffnung hatte, über die man den Hintern hängte. Der Gestank, der aus der Mischung menschlicher Fäkalien und Schweinemist in der Luft hing, war bestialisch. Immerhin nahm man dabei seinen eigenen Gestank nicht mehr wahr – oder sagen wir: Er relativierte sich und zertifizierte, dass man eigentlich nicht in diese Welt gehörte, sondern nur aufgrund verflochtener verwandtschaftlicher Beziehungen vorrübergehend dazu verdonnert war, seinen blanken Hintern beim Kotlassen über einer Öffnung zu balancieren, in deren Tiefen ein Bauer irgendwann Löschkalk einfließen ließ und die ganze verfälschte Scheiße irgendwo entsorgte. Wobei ich hoffte, dass es nicht der Acker war, von dem er später seinen Weizen erntete, den er im Spätsommer auf der Tenne drosch.

Kein Wunder, dass nach all diesen landesüblichen und stadtfernen Eindrucken die Kloschüssel in Lukas‘ Armen eine gewisse Faszination auf mich ausübte.

Auch Hilde staunte nicht schlecht. „Was hast du damit vor, Luke?“

„Beim Kutterer-Franz ist Hochzeit.“ Er grinste. „Das wird ein Riesenspaß. Kommt doch mit! Die anderen sind auch dabei.“

Hilde musste ihre Pappenheimer gekannt haben, denn sie fragte nicht danach, wer die anderen seien. Wir gingen Luke einfach hinterher. Die Haustür beim Kutterer-Franz, dem Brautvater, stand für die Gäste weit offen. Davor hatten sich drei Jungen eingefunden, die Luke gutgelaunt begrüßten. Sie hatten Säcke voll alten Geschirrs dabei. „Also los, fangen wir an!“

Und schon ging die Bombardierung los. In Windeseile flog das Geschirr in den Hausflur des Kutterer-Franz, und als alle Säcke leer waren, entließ Lukas seine kiloschwere Fracht als den Höhepunkt des Polterabends in die Freiheit.

Mit einem Donnerschlag, der den Soundeffekten eines Kriegsfilms Ehre gemacht hätte, landete die Kloschüssel inmitten der Scherben, die den Boden des Hausflurs nur noch mit dicken Schuhsohlen begehbar machte.

Der Zauber dauerte kaum dreißig Sekunden, da kam der Kutterer-Franz, eine derbe Gestalt in ebenso derber Kleidung, wutschnaubend aus dem Haus gestürmt, um sich die Übeltäter zu greifen. Doch sie waren schon auf und davon, bis auf Luke, der als letzter die Flucht ergriff. Wie vom Teufel gehetzt setzte er seine kurzen Beine auf Trab. Hilde und ich rannten ihm und seinem Verfolger hinterher, doch als wir um die Ecke bogen, um die Luke verschwunden war, sahen wir den Kutterer-Franz ratlos dastehen. Luke schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Dem Franzerl blieb nichts anderes übrig, als zu seinem Haus zurückzukehren, mit Sicherheit in der Absicht, seinen Ärger mit einem Schnaps auf die Braut hinunterzuspülen. Jedenfalls wünschten wir ihm noch einen ausgelassenen Abend.

Als wir uns umdrehen und endlich zum Dorfplatz gehen wollten, hörten wir ein „Pst“. Es kaum aus der Richtung, in der ein Traktor zur Hälfte in einer Hofeinfahrt stand. „Ist er weg?“

Hilde kicherte. „Kannst rauskommen, du Schlitzohr. Reine Luft.“

Luke kroch unter dem Traktor hervor und klopfte sich den Staub von den Hosenbeinen. Er grinste. „Na, hab ich euch zu viel versprochen? Und wisst ihr was, Mädels, der Kutter hat keine Ahnung, was er gekriegt hat.“ Er hob die Hand und formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. „Das war nämlich erstklassiges Porzellan.“

„Ich wusste gar nicht, dass ihr so etwas hattet.“ Hildes Ton wurde spitz. „Und jetzt renoviert ihr wohl.“

Lukas grinste. „Blöde Kuh! Wir pinkeln und kacken immer noch auf den Misthaufen vor unserem Stall. Die Pisswanne hab ich dem Meier-Toni geklaut, der meiner Mutter immer hundert Gramm weniger Käse abwiegt, als er berechnet. Der muss jetzt drei Monate lang seinen alten Donnerbalken in Beschlag nehmen, bis er seinen Hintern wieder auf Porzellan pflanzen kann.“

Rache ist bekanntlich süß.

Es war nach neun Uhr, als wir am Dorfplatz ankamen. Völlig klar, dass Lukas‘ Geschichte die Runde machte und grölend beklatscht wurde. Bis nach Mitternacht genoss es der kleine Poltergeist, als der Held des Tages gefeiert zu werden.

Und weil ein Dorfplatz vor einer Kirche gleichbedeutend mit einer Lokalzeitung war, und weil ein Pfarrer auf gleicher Augenhöhe wie der Dorfrichter stand, wurde Lukas einkassiert und zu einem Monat Strafdienst auf dem Kirchhof verdonnert. Was bedeutete, dass er vier Wochen lang helfen musste, Gräber auszuheben und Särge in selbige Gruben hinabzulassen. Er tat es gerne, denn es starben in diesem Monat nur zwei Seelen des Dorfes, ein Alter, der über hundert Jahre alt geworden war, und der Pfarrer.
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Workshop "Kreatives Schreiben":
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