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Alt 14.12.2021, 18:58   #1
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
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Beiträge: 31.103


Standard Shanna

Als ich die Treppen hinaufstieg, kam mir Lucia entgegen. Sie schleppte einen Koffer mit sich, dessen Gewicht sie schneller die Stufen hinunterzog, als sie laufen konnte, so dass sie mir beinahe in die Arme gefallen wäre. „Gib her!“ Ich nahm ihr den Koffer ab und begleitete sie bis zu ihrem Ford. Sie öffnete das Heck, und ich wuchtete den Koffer hinein. „Du machst also ernst?“ Lucia nickte, kniff die Lippen zusammen und sah auf ihre Schuhspitzen. Ich schlug den Deckel des Hecks zu. „Du weißt, was ich davon halte?“ Sie nickte wieder, gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwand wortlos in ihrem Ford. Ich wartete, bis sie den Motor gestartet hatte und davonfuhr. Das Nachwinken ersparte ich mir, denn ich war mir sicher, dass sie nicht mehr zurückschaute.

Dann ging ich zurück zum Haus und stieg abermals die Treppen hinauf.

Florian saß vor dem Fernsehgerät und sah sich „Giraffe & Co.“ an. Oder auch nicht. Sein Blick schien sich irgendwo links oder rechts von den bewegten Bildern zu verlieren, und wenn mir jemand weisgemacht hätte, Florian hätte um die Ecke geguckt, hätte ich es auch geglaubt. Er war mit seinen Gedanken irgendwo, aber nicht hier.

„Flo?“ Er reagierte nicht. Ich ging zum Fernsehgerät, schaltete es aus und nahm Florian bei den Schultern. „Flo?“

Er sah mich an, hob mir seinen Cognac-Schwenker entgegen und lächelte. „Ach, du? Schön, dass du vorbeikommst. Schenk dir auch einen ein.“ Er meinte die Cognac-Flasche, die auf dem Nebentisch stand.

„Lucia hat dich verlassen. Ich bin ihr auf der Treppe begegnet.“

„Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich mal einen Hund hatte? Damals, als ich zwölf Jahre alt war?“

„Hm … nein, hast du nicht.“ Ich nahm ein Cognac-Glas und goss mir einen Schwung aus der Flasche ein.

„Einen Schäferhund. Mit einen tollen Sattel. Ein Bild von einem Hund! Ich nannte ihn Crixus, weil ich dachte, er sei ein Rüde. Aber dann klärten mich meine Eltern darüber auf, dass er eine Bitch war, und da taufte ich den Köter in ‚Shanna‘ um.“ Florian nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. „Und weißt du was? Dieses Viech hörte sofort auf den neuen Namen.“

„Das ist lange her, Flo. Ist dir eigentlich klar, dass Lucia dich verlassen hat?“

„Ich liebte Shanna, und Shanna liebte mich. Wir teilten alles, vom Frühstück bis zum Kopfkissen. Es gab keinen Augenblick in meinem Leben mehr, an dem Shanna nicht an meiner Seite war. Außer in der Schule, da waren Hunde nicht erlaubt. Aber sie wartete vor dem Tor, bis die Schule aus war, und dann gingen wir zusammen nach Hause. Shanna und ich.“

„Flo, das ist lange her …“

„Und dann kam dieser Tag.“ Florian schossen Tränen in die Augen. Ich war irritiert und nippte nervös an meinem Cognac.

„Ich hatte Nachsitzen. Shanna hatte geduldig vor dem Tor zum Schulhof gewartet, aber irgendwann wurde sie unruhig, weil ich nicht kam. Sie begann herumzurennen und zu kläffen. Dabei geriet sie auf die Straße, und da kam dieser BMW und überrollte sie. Erst mit dem Vorderreifen, und weil sie wehrlos auf der Straße lag, auch mit dem Hinterreifen. Augenzeugen sagten, sie habe noch einmal den Kopf gehoben und ein klägliches Jaulen zum Himmel geschickt, ehe sie verschied.“

„Vorbei ist vorbei“, versuchte ich Florian wieder in die Gegenwart zurückzuholen. „Aber die Lucia …“

„Weißt du, was verrückt ist?“, fiel mir Florian ins Wort. „Seitdem bin ich immer BMW gefahren. Und mehrmals jede Woche mache ich einen Umweg, um die Straße entlang zu fahren, wo meine Schule steht und Shanna totgefahren wurde. Ich dachte immer, wenn ich in der Zeit von damals wäre und rechtzeitig hätte bremsen können, wäre Shanna nicht gestorben. Aber immer, wenn ich durch diese Straße fahre, ist Shanna nicht da.“

„Du weißt nicht, was du redest, Flo. Du bist betrunken.“

„Ich weiß genau, was ich rede. Dummes Zeug ist wahres Zeug. Das wirst du irgendwann kapieren.“

Was sollte das nun wieder heißen?

„Guck nicht so blöd! Es gibt nichts, um das man kämpfen kann. Es wird dir geschenkt oder auch nicht. Shanna war ein Geschenk. Lucia war kein Geschenk.“

„Warum nicht?“

„Weil ein Geschenk eine Seele haben muss, etwas, das verbindet, das dir gehört, auch wenn du es nicht verlangt hast. Weil …“. Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach was! Kapier’s oder kapier’s nicht.“

In diesem Moment hatte ich es kapiert, nahm die Flasche und goss jedem von uns noch einen Schwung Cognac ins Glas.

14.12.2021
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Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.12.2021, 19:41   #2
männlich Ex-Lichtsohn
abgemeldet
 
Dabei seit: 03/2015
Beiträge: 1.493


Liebe Ilka-Maria,

ein sehr angenehm lesbarer Text, der seinen Inhalt und den Kern bis kurz vor Ende geschickt verbirgt und sein Ende in eine interessante philosophische Betrachtung öffnet, dabei aber durchaus Raum für Interpretation schafft.

Das hat gut gefallen.

Alles Liebe
Ex-Lichtsohn ist offline   Mit Zitat antworten
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