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Alt 05.05.2010, 22:19   #1
männlich Harlekin
 
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Dabei seit: 04/2010
Ort: Kassel
Alter: 33
Beiträge: 57


Standard Der wäre zu verräterisch

Vorbemerkung:
Abend ihr Lieben,
und vielen Dank dafür, dass ihr euch die Zeit nehmt dies hier zu lesen.
Es wäre nett, wenn ihr nach dem Lesen in Form eines Blitzlichtes die Atmosphäre und Gefühle, die euch beim Lesen in den Sinn gekommen sind, aufschreibt - weiterführende, konstruktive Kritik jeder Art ist natürlich auch gerne gesehen.
Das ist eine Art "Versuch".
Liebe Grüße
Harlekin



Der Abend ist hereingebrochen und das matte Licht der Laterne scheint auf meinen Schreibtisch. Das Zimmer scheint mir gerade erstickend klein. Und es beengt meine, sich ohnehin schon im Kreis drehende, Gedankenwelt.

Mein Zimmer ist chaotisch und unaufgeräumt. Die Teller mit den darauf verbliebenen Essensresten vegetieren langsam vor sich hin, die Bierflaschen sind auf dem Schreibtisch, dem Boden und der Fensterbank verteilt. Selbst der Müll quillt langsam über – ungeordnete Gedankenfetzen von gestern Nacht, Telefonnummern, die mir nichts mehr sagen, sinnentleerte Aufsätze, Ausarbeitungen, die ich nie ausgearbeitet habe. Am Rande dieses Spiegels meiner Seele sitze ich am Schreibtisch.

Einige meiner Tränen finden ihren Weg über meine Wangen und ergießen sich, ihr Ziel findend, auf einem Blatt Papier. Die verbliebenen Tränen strömen in meinen Mundraum. Das Salz schmecke ich nicht mehr und die anfängliche Übelkeit lässt nach. Das Essay, das ich zur Ablenkung begonnen habe, will einfach nicht gelingen. Zu unstet fliegen die Gedanken hin und her.

Mittlerweile fängt das Blatt an zu durchweichen. Eine Mischung aus blasser blauer, violetter, schwarzer Farbe durchzieht das Schriftbild, als die Tinte des Kugelschreibers zu verwischen beginnt. Da diese Gedanken nicht mehr brauchbar sind, zerknülle ich erst das Blatt und wische mir dann die Tränen aus dem Gesicht. So von mir geworfen, prallt es geräuschlos von der Zimmertür. Am liebsten würde ich jetzt laut aufschreien, aber die mögliche Reaktion der Mitmenschen schreckt mich ab.

Vor schierer Wut reiße ich einen Bogen Papier aus dem Heft und greife zum Kugelschreiber:
„Schwul, na und?!!!“
Nach dem dritten Ausrufungszeichen werfe ich den Kugelschreiber klaren Geistes gegen die Tür. Ich meine Stimmen zu vernehmen, aber vielleicht ist das auch der starke Wind, der sich draußen in den Bäumen seinen Weg durch das Geäst bricht.

Und erneut packt mich ein unbändiger Missmut, warum ich meinen Mund nicht aufkriege, warum ich so ein erbärmlicher Versager bin und mit der Sprache nicht rausrücke. Aber wie würden die denn reagieren - Freunde, Bekannte, Verwandte, Lehrer, meine Familie und er?

Überhaupt, er? Warum er und nicht sie? Was soll das? Ist das ein schlechter Scherz, eine verdrehte Welt – Ironie des Schicksals?
Ich weiß es nicht; vielleicht kann man es nicht wissen oder es macht einfach keinen Sinn. Das kurze Geflüster aus Richtung der Tür kommt jedenfalls nicht wieder. Das Ablenken funktioniert auch nicht und so greife ich noch manches Mal in dieser Nacht nach den Taschentüchern, bis der Kopf erschöpft auf den Schreibtisch sinkt.
Den Müll habe ich an diesem Abend nicht mehr raus gebracht.
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Alt 05.05.2010, 22:34   #2
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.111


Das ist nicht schlecht, Harlekin, im Kern ist der Text stark. Aber die starken Momente werden durch die schwachen heruntergezogen. Aus diesem Text könnte man was machen, denn die Wirkung kommt immer wieder durch, diese Wut, und dann am Ende die Resignation durch die Metapher, daß der Müll nicht rausgebracht wird = man will nichts ändern? weiß nicht, wo die Mülltonne steht? weiß nicht, ob der Müll der eigene ist oder ob es überhaupt Müll ist? weiß nicht, ob der Müll die anderen sind? weiß eigentlich gar nichts mehr?

So habe ich den Text empfunden. Und da kann man richtig was Gutes draus machen, denn er hat Substanz.

LG
Ilka-M.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.05.2010, 22:36   #3
männlich Harlekin
 
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Dabei seit: 04/2010
Ort: Kassel
Alter: 33
Beiträge: 57


Vielen Dank, Ilka.

Ursprünglich war der Müll als Sammelsurium unvollständiger Gedanken angelegt, die das lyrische Ich nicht ausspricht, die es aber trotzdem beschäftigen und unverarbeitet einfach nur da sind.
Dann begann ich den Mülleimer mit Inhalt zu füllen und den Inhalt wiederrum mit Attributen zu versehen - am Ende des Schreibvorgangs war es eine "offene" Metapher.
Am Ende des Textes bezeichnet es die Resignation.

Das, was du als "schwache" Stellen bezeichnest, könnte daher rühren, dass ich versucht habe, möglichst viele Gemüts- und Geisteszustände auf kurzen Raum zu konzentrieren. Vielleicht ist mir das nicht ganz gelungen oder ich habe den einzelnen "Stadien" nicht genug Platz zur Entfaltung eingeräumt.

Liebe Grüße
Harlekin
Harlekin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.05.2010, 22:55   #4
männlich Neny
 
Dabei seit: 10/2009
Ort: Lancre
Alter: 37
Beiträge: 96


Hey Harlekin,

Vertrautes und Anspannung - so als Blitzlicht.
Übrigens witizger Titel und wie oft das der Fall ist leider. Dein Text liest sich nicht schlecht und bringt einem gut die Stimmung des lyr. Ichs nah. Mir gefällt z.B. die Beschreibung der verlaufenden Tinte, unscheinbare Dinge die einem plötzlich auffallen.

Was mir etwas sozusagen aufgestoßen ist beim Lesen sind ein paar Formulierungen:

"in meinen Mundraum"
"Da diese Gedanken nicht mehr brauchbar sind,"

Die beiden wirken für mich zu kalt, zu distanziert, um zum Rest des Textes zu passen. Das wären meine Eindrücke beim lesen.

Grüße Neny
Neny ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.05.2010, 23:05   #5
männlich Harlekin
 
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Dabei seit: 04/2010
Ort: Kassel
Alter: 33
Beiträge: 57


Abend Neny,
danke für den Kommentar.
Ich empfand den "Mundraum" klangvoller und näher als den Mund - musste aber auch öfters darüber nachdenken, ob ich das Wort verwende.

Was "Da diese Gedanken nicht mehr brauchbar sind,...", angeht, hat es den gewünschten Nerv getroffen. Eventuell hätte ich da noch ein, zwei Zeilen rausarbeiten sollen.

"Übrigens witizger Titel"
Es hat umso mehr Witz, wenn man bedenkt, dass der Autor die Doppeldeutigkeit gar nicht bedacht hat. Eigentlich heißt er, passenderweise, "Coming out". Da es mir eigentlich darum geht, herauszufinden, inwiefern mir die Umsetzung der nachfolgenden Zeilen aus meinem Psychologiebuch gelungen sind, wollte ich den Leser mehr oder weniger unvoreingenommen in den Text schicken - ein Warnhinweis, wie "Coming out", wäre daher denkbar "verräterisch".

Bin gestern abend darauf gekommen, als ich auf diesen Abschnitt im Buch gestoßen bin:
"Wie fühlt man sich als Homosexueller in einer heterosexuellen Gesellschaft? Falls Sie heterosexuell sind, stellen Sie sich doch einmal vor, geächtet oder entlassen zu werden, weil Sie offen zeigen, dass Sie Gefühle für eine Person des anderen Geschlechts haben; oder zu hören, wie andere rohe Witze über Heterosexuelle machen; oder wie es wäre, wenn fast alle Filme, Fernsehsendungen und Werbespots fast ausschließlich homosexuelle Paare zeigen würden; oder wenn Ihre Familie Sie anbetteln würde, Ihre Heterosexualität aufzugeben und endlich eine gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft einzugehn."


Danke noch einmal,
Harlekin
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