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Alt 05.04.2010, 16:11   #1
Aporie
 
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Standard Tomate und Mädchenhaarzopf im Fortleben als Erinnerung

Zurückblickend auf diesen Tag, mit dem mein Erinnern beginnt, fällt mir der Unterschied zwischen der Ambiguitätstoleranz des Knaben, der ich damals war, und jener des Mädchens auf. Meine bestand darin, dass ich die Doppeldeutigkeit zwar schon reflektierte, bevor ich die zweite tomatisierte Ohrfeige bekam, mich aber nach der ersten dennoch blitzartig entschloss, an das Gute im Menschen zu glauben, obwohl ich noch keine Ahnung hatte von der Bergpredigt. Als ich drei oder vier Jahre später den Satz „Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin“ zum ersten Mal las, war ich erst hell begeistert, nicht nur von Jesus, sondern auch von mir selbst, denn schließlich hatte ich im Alter von fünf Jahren, obwohl mit Jesus nur aufgrund frommer Sprüche meiner Mutter vertraut, sozusagen exemplarisch gehandelt. Doch mein Stolz darauf geriet schon nach wenigen Sekunden ins Wanken, da ich inzwischen auch gelernt hatte, die Faust zu machen. Die Sache endete schließlich mit einem Unentschieden, weil ich den Kern des Guten in diesem Satz zwar bejahen konnte, nach ihm zu handeln, mir jedoch als Feigheit erschienen wäre. Es ging mir dabei wie mit ein paar anderen Bibelworten, die ich inzwischen kannte und die ich des Öfteren hervorkramte, um sie altklug und überheblich als lapidaren Kommentar auf Fragen und Bemerkungen andere Kinder zu verstreuen. Wahrscheinlich wollte ich damit den Eindruck erwecken, ich hätte die Weisheit mit Löffeln gegessen, wobei ich, was mich selbst betraf, stets darauf achtete, mich an einem solchen Löffel niemals zu verschlucken. Als ich mir zum Beispiel die Zehn Gebote genauer ansah, fand ich neun davon völlig okay. Aber dieses befremdliche Sechste erinnerte mich sogleich wieder an Rosemarie, und es zog mich so sehr an, dass ich geradezu danach gierte, bei der nächstmöglichen Gelegenheit weit heftiger dagegen verstoßen zu können. Obwohl meinem Körper die dazu auffordernden Impulse noch immer fehlten, betrachtete ich, nachts im Bett liegend, das kleine Zipfelchen zwischen meinen Beinen mit großer Andacht, etwa so wie ich bei der Ersten Kommunion die Hostie betrachtet hatte, mit der Vikar Willfinger vor meinen Augen ein Kreuz schlug, bevor er mir den Fleisch gewordenen Leib des Herrn in den Mund schob.
Die Ambiguitätstoleranz des Mädchens jedoch war der meinen, wie ich feststellen muss, kirchturmhoch überlegen, weil das Mädchen die eine Bedeutung sehr wohl kannte, denn auch andere Knaben rissen an Rosemaries Zöpfen, den damit zusammenhängenden Grund schloss sie jedoch reflexartig aus, sobald sie mir in die Augen sah. Während ich im alles entscheidenden Moment auf die Tomate geblickt hatte, sah Rosmarie mir ins Gesicht und wusste sofort Bescheid: So blicken Knaben nicht, wenn sie einem übel wollen. Mit etwas Fantasie nachhelfend, könnte ich nachträglich sagen, dass wir in diesen kurzen Augenblicken gemeinsam zu einer frühreifen Erkenntnis kamen. Dieses Reißen an ihrem Zopf und die Augen, die es erwiderten, verbanden sich mit den ersten Regungen geschlechtlichen Verlangens.
Auch ihrer Mutter muss das irgendwann aufgefallen sein, und sie verbat ihrer Tochter, sich weiterhin den von ihr so genannten Doktorspielen hinzugeben, zu denen ich Rosemarie angeblich verführt hatte. Mein Verlangen war jedoch weit harmloser. Ich erinnere mich noch heute an das Hellblau ihres Unterhöschens (sprachlich hätte mir jetzt Rosa besser gefallen, aber um bei der Wahrheit zu bleiben), es war tatsächlich ein Hellblau, und so soll es in meiner Erinnerung auch bleiben, die mir zusehends unzuverlässiger vorkommt, weil ich nie genau weiß, wo sie auf Wirklichkeit und wo auf Erfindung gründet.
Jedenfalls riss ich ihr nie das Höschen herunter, ich beließ es dabei, bloß an dessen kurzen Beinstößen zu fingern und ließ die Haut darunter unbetastet, so wie ich vorher ihr Haar, obwohl daran reißend, nicht dort berührte, wo ich Rosemaries Haut hätte spüren können. So also sahen Mädchenunterhosen aus. Dieses Geheimnis zu lüften und es sogar mit Händen berühren zu können, genügte mir vollkommen.
Rosemarie, die genau genommen Myriam hieß, was jedoch, wäre ich bei der Wahrheit geblieben, nach komplizierteren Metaphern als Blumenknospe verlangt hätte, öffnete ihre Knospe nicht mir, sondern sehr viel später Jungs wie Max, Rolf oder Hugo, wobei ich das so genau gar nicht wissen konnte. Es blieb nur als schmerzliche Ahnung zurück, nachdem sich unsere Wege getrennt hatten, weil sich meine Eltern nach einer günstigeren Wohnung umsehen mussten. Beim Abschied am Tag vor dem Umzug ergab sich die Gelegenheit, uns zum ersten (und letzten) Mal zu umarmen.
Danach sahen wir uns nie mehr. Nur zufällig lernte ich an einem vom Art Directors Club Schweiz veranstalteten Essen Rosmaries kleinen Bruder kennen, der zu der Zeit, als ich seine Schwester am Zopf riss, noch gar nicht auf die Welt gekommen war und nun als Grafiker in einer Basler Werbeagentur arbeitete. Als ich mich bei ihm nach Rosemarie erkundigte, sagte er mir, dass sie jetzt in Rimini lebe, verheiratet mit einem Italiener, der Battisti heiße. Obwohl er danach auch betrunken war, setzte ich mich in seinen Porsche, weil er sich anerbot, mich nach Hause zu fahren. Erst nachdem ich gestern zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen zurückfinden sollte und dabei auf Rosemarie stieß, wurde bei der Suche nach der Zeit, in der wir uns kurzfristig ineinander verloren hatten, der Wunsch in mir wach, bei Google und youtube zu recherchieren, um Rosemarie wieder in ihre mich einst so betörende Gegenwart holen zu können. Nähere Auskünfte kann ich bei ihrem Bruder nicht mehr einholen. Schon vor mehreren Jahren hat er seinen Porsche an einen Baum im Schwarzwald gefahren und war sofort tot. Doch Battisti und Rimini sind an mir haften geblieben. In einem Eintrag bei Google fand ich einen Giovanni Battisti, der elf Jahre nach seiner Pensionierung verhaftet wurde, weil er kurz vor seinem Rücktritt Versicherungsgelder unterschlagen haben soll. Er sitzt jetzt in Untersuchungshaft im Carcere di San Marino, der auf dem Foto bei Google aussieht wie ein Ferienhaus für den Mittelstand, allerdings so üppig vergittert wie die die Villen der Reichen. Nun erinnerte ich mich auch, dass mir Rosemaries Bruder erzählt hatte, ihr Mann wäre Direktor einer Versicherungsgesellschaft des Stadtstaates San Marino. Über Rosemarie, die sich nun wohl Rosa Maria Battisti nennt, fand ich leider weder bei Google noch bei youtube einen Eintrag. Den Gedanken, dass sie, während ihr Mann im Gefängnis sitzt, womöglich bereits in einem Grab des Cimitero Municipale von Rimini liegt, habe ich erfolgreich verdrängt, obwohl mir die Nähe zu Federico Fellini, der im gleichen Friedhof untergebracht ist, als ein sehr geeigneter Ort erscheinen würde, Rosemarie nur noch als meine erste Kindheitserinnerung fortleben zu lassen.
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Alt 05.04.2010, 19:48   #2
weiblich Tiffy
 
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Da haben wir die "Fortsetzung". Diese lässt im Vergleich zum „1. Teil“ nicht zu wünschen übrig.
Du hast mal wieder eine Story verfasst, die bis zum Schluss voller Überraschungen und unerwarteten Wendungen steckt.
Hab ich mir gerne zu Gemüte geführt. Deine Wortwahl, mal wieder sehr erfrischend, sehr bildlich.
Diesmal frage ich ausnahmsweise mal nicht, ob die Geschichte der Wahrheit entspricht, keine Angst, langsam habe ich es kapiert.
So weit zu meinem „Mädchenton in B-Moll“.

Gruß Tiffy
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Alt 08.04.2010, 10:56   #3
Aporie
 
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Diesmal frage ich ausnahmsweise mal nicht, ob die Geschichte der Wahrheit entspricht, keine Angst, langsam habe ich es kapiert.



Diesmal habe ich mir ja auch schon beim Schreiben über die Schulter zugucken lassen, indem ich, was Wahrheit und Erfindung angeht, mit offenen Karten spielte.
Es freut mich, dass Dir beides gefällt.
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