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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 10.09.2009, 16:57   #1
Kimura
 
Dabei seit: 09/2008
Beiträge: 8

Standard Erbarmungslos

Das Unerträgliche ist,
das nichts unerträglich ist.
- Artur Rimbaud -

Es war kurz vor Mittag, als der schwarze Ford in die Einfahrt einbog und hinter einem Funkstreifenwagen hielt.
Yannick schob die Gardine vor seinem Kinderzimmerfenster zur Seite und beobachtete verweint, wie ein Mann und eine Frau aus dem Auto ausstiegen und auf das Haus zuschritten, in dem er wohnte.
Der Mann war untersetzt, trug einen kräftigen Schnauzer.
Er schwitzte stark, obwohl es an diesem Spätsommertag nicht so heiß war, wie es an den vorangegangenen der Fall gewesen war. Die Frau hingegen war hochgewachsen und viel jünger als ihr Begleiter. Ihr hageres Gesicht wirkte kühl. Ein Polizist stieg aus dem Streifenwagen aus und ging auf die Beiden zu.
„Ich habe auf sie gewartet", hörte Yannick ihn sagen. „Mein Name ist Schroeder. Ich habe die Meldung durchgegeben."
„Kriminalkommissar Holte", antwortete der Mann. „Das ist meine Mitarbeiterin Kriminalassistentin Braun."
Frau Braun nickte wortlos.
„Eine scheußliche Sache...", schilderte Schroeder. „Ein kleiner Junge..."
„Danke, wir sind im Bilde", unterbrach Holte ihn barsch.
„Ein klarer Fall", bemerkte seine Kollegin und zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Bringen wir es schnell hinter uns, dann können wir heute zur Abwechslung vielleicht mal pünktlich Feierabend machen.“
Holte warf seiner Kollegin einen giftigen Blick zu. Ihre Pietätlosigkeit widerte ihn manchmal an. Er wandte sich wieder an Schroeder: „Familie zuhause?"
„Nur noch die Mutter und ihr mittlerer Sohn. Das macht es ja gerade so tragisch, nicht wahr?"
„Wieso?", fragte Holte.
„Sie ist seit einem Jahr Witwe. Immerhin hatte sie noch ihre drei Söhne. Bis dann der Älteste vor einem halben Jahr bei einem Autounfall starb. Und nun noch der Jüngste... auf so furchtbare Weise..." Er schüttelte den Kopf. „Manchmal ist das Schicksal wirklich erbarmungslos. Soviel Unglück, wie diese arme Frau ertragen muss... Ganz entsetzlich. Ehrlich, das ist eine Seite des Jobs, die ich wirklich hasse..."

Yannick seufzte, ließ den Kopf sinken und zog die Gardine wieder zu. Er hörte, wie die Türklingel schrillte, und unmittelbar darauf vernahm er eilige Schritte.

Als die Tür sich öffnete, standen die Polizisten einer jungen Frau mit lebhaften blauen Augen gegenüber. „Frau Leuchten, das sind Kriminalassistent Holte und seine Kollegin Frau Braun", stellte Schroeder vor.
„Dürfen wir eintreten?", fragte Holte.
Frau Leuchten musterte die Gesichter vor ihr, dann nickte sie matt. „Wie? Sicher. Bitte, kommen Sie rein."
„Wir bedauern, dass wir Sie in ihrer Trauer stören müssen", entschuldigte sich Holte verlegen. „Das Gesetz verlangt jedoch von uns eine formelle Untersuchung und..."
„Selbstverständlich." Sie ging rasch zur Couch und strich die Schondecken glatt. „Wollen Sie nicht Platz nehmen?"
„Danke." Die beiden Polizisten setzten sich, während Schroeder an der Tür stehen blieb. Holte nahm seinen Notizblock heraus und räusperte sich: „Können Sie uns einmal genau schildern, was passiert ist?"
Ihre Unterlippe begann zu zittern. Sie biss sich auf die Lippe und senkte den Kopf. „Ich... ich weiß nicht", stotterte sie und strich sich eine Locke aus der Stirn. „Ich stand gerade in der Kochnische und bereitete das Mittagessen zu, da schellte es plötzlich Sturm. Durch das Glas in der Haustür sah ich eine zusammengesunkene, kleine Gestalt auf der obersten Stufe sitzen, die furchtbar heulte.“
Sie schluchzte. „Meinen Sohn Yannick. Ich dachte, er sei mit dem Fahrrad gestürzt, oder so was. Denn er war völlig aufgelöst und über und über mit Blut beschmiert. Ich bekam furchtbare Angst, riss ihn hoch und suchte aufgeregt nach Verletzungen an seinem Körper. Aber er schrie immer wieder, dass es nicht sein Blut sei. Dann fragte ich ihn, wo sein Bruder wäre. Ich werde nie vergessen, wie er mich daraufhin ansah...“
Frau Leuchten weinte. „In dem Moment wusste ich, dass Kevin tot war. Dass ich meinen kleinen Engel nie wieder sehen würde...“ Sie brach in Tränen aus. Frau Braun nahm sie in den Arm, wofür Holte ihr sehr dankbar war.
„Es tut mir wirklich Leid für Sie“, sagte er verlegen. „Sollen wir jetzt besser aufhören?“
Frau Leuchten nickte nur, während die Tränen weiterhin ungehemmt strömten. Ihre im Schoß liegenden Hände waren ineinander verkrampft. Sichtlich berührt stand Holte auf und ging nervös im Zimmer umher. Es hatte wirklich keinen Sinn, die Frau nun weiter in diesem Zustand zu befragen.
Auf dem Klavier blinkten ihm vier Fotos in Holzrähmen entgegen. Das eine zeigte einen Mann um die vierzig, offenbar den verstorbenen Herrn Leuchten; das zweite einen stolzen jungen Mann vor seinem ersten eigenen Wagen; die beiden anderen waren Knabenbilder.
„Bitte, welcher ist Yannick?", fragte Holte.
„Der Blonde."
Holte betrachtete das Foto. Ein nettes Kind, mit einem freundlichen Lächeln und den hellen Augen seiner Mutter.
„Er ist jetzt zuhause, richtig?"
„Ja, er ist oben."
„Ich würde gerne auch mit ihm sprechen."
Frau Leuchten schüttelte allerdings nur den Kopf.
„Hören Sie,“ begann Holte ruhig und seine dunkle Stimme klang angenehm sanft, „ich weiß sehr gut, was Sie und Ihr Junge im Moment durchmachen. Aber es ist sehr wichtig, dass wir noch mit Yannick sprechen. Er ist der einzige Zeuge. Der Einzige, der uns sagen kann, was wirklich passiert ist.“ Er musterte sie verständnisvoll. „Niemand will den Jungen verletzen. Wenn wir den Eindruck haben, wir überfordern ihn, brechen wir die Befragung sofort ab, das verspreche ich Ihnen."
Sie atmete tief durch und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. „Gut", stieß sie hervor. „Aber bitte, machen Sie es kurz."

Yannick wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Sicher waren sie gekommen, um mit ihm zu reden. Aber er hatte gerade seinen Bruder verloren, ihm war nicht nach Reden. Wieso konnten sie ihn nicht einfach alle in Ruhe lassen?

Holte räusperte sich. „Sie brauchen nicht mit hinaufzukommen, Frau Leuchten", sagte die Kriminalassistentin. „Wachtmeister Schroeder kann uns den Weg zeigen."
Schroeder nickte und führte sie zum Kinderzimmer.
Holte klopfte davor an die Tür und rief leise: „Yannick?"
Hinter der Tür war ein Schluchzen zu vernehmen.
„Wir sind von der Polizei und möchten gerne mit dir sprechen."
Das Schluchzen hörte auf und Holte hörte das Geräusch nackter Füße, die zur Tür tappten.
Die Tür ging auf. Yannick stand vor ihnen und trocknete sich das Gesicht mit seinem T-Shirt, das er anhatte. Er war magerer als auf der Fotografie, hatte strahlend blaue Augen und schmale Lippen. Das goldblonde Haar fiel ihm in wirren Strähnen über Stirn und Augen.
„Wir möchten dir nur ein paar Fragen stellen", erklärte ihm Holte freundlich. „Dürfen wir in dein Zimmer kommen?"
Der Junge zögerte kurz, wirkte verstört, dann nickte er und die zwei Ermittler traten ein, während Schroeder sich zurückzog.
Die Betten standen zu beiden Seiten des großen Fensters. Auf der einen Seite des Raumes lag überall Spielzeug verstreut. Auf der anderen Seite war alles ordentlich in eine Kiste gepackt. Ein Siegerwimpel von den Bundesjugendspielen im Gymnasium schmückte die Wand, ebenso fanden sich dort unzählige Poster diverser Film- und Popstars. Mittendrin war ein postergroßes Foto der beiden Brüder zu sehen. Auf dem Bild hatte Yannick den Arm um die Schultern seines Bruders gelegt und drückte ihn herzlich an sich. Beide Jungen lachten, wirkten glücklich und ausgelassen. Es ging sehr viel Wärme und Lebensfreude von diesem Bild aus und Holte konnte direkt spüren: diese Zwei hatten sich nicht nur verstanden, sie hatten aneinander geliebt. Von der Decke hing ein Modellraumschiff. Yannick setzte sich auf sein Bett, ein Bein im Schneidersitz unterschlagen. Er blickte die Beamten nicht an, sondern starrte aus dem Fenster.
„Möchtest du uns einmal erzählen, was passiert ist, mein Junge?", fragte Holte sacht.
Yannicks Haarschopf bewegte sich minimal, doch er starrte dabei nur weiterhin aus dem Fenster.
„Ich konnte es nicht verhindern", begann er leise. Seine Augen wurden wieder wässrig. „Aber ich bin doch sein großer Bruder, ich hätte ihn beschützen müssen... “
Er schluchzte und seine Stimme erstickte in Tränen.
„Du bist selbst noch ein Kind. Gegen einen ausgewachsenen Mann hättest du nie eine Chance gehabt. Glaube mir, es gibt nichts, was du hättest tun können.“
„Ich habe ihn nicht davon kommen lassen!“, murmelte Yannick, ohne sich umzudrehen.
„Nein, das hast du nicht. Du hast den Mörder deines Bruders nicht entkommen lassen. Was auch passiert ist, du konntest nicht anders, denn du bist ein guter Bruder, nicht wahr?“
Yannick nickte leicht. Dann schluchzte er erneut, zitternd am ganzen Körper.
„Lass dir Zeit", sagte Holte verständnisvoll. „Ich weiß, es ist sehr schwer. Niemand gibt dir für irgendwas die Schuld. Erzähl` uns einfach nur ganz genau, was passiert ist."
Yannick holte Luft und nickte. „Okay.“ Er zwang sich sichtlich zur Ruhe, sprach dann gedämpft weiter:
„Kevin und ich fuhren mit dem Rad zum Wald. Der ist hier ganz in der Nähe, wissen Sie? Wir spielten oft im Wald, nach der Schule, am Wochenende...“
„Was habt ihr denn da so gespielt?“
„Meistens Räuber und Gendarm. Aber manchmal haben wir auch Tiere beobachtet, Kastanien gesammelt und sowas...“
Der Kommissar nickte, fühlte sich an seine eigene Kindheit erinnert.
„Diesmal bauten wir eine Laubhütte.“ Yannick lächelte plötzlich stolz. „Wir haben sie so gemacht, dass man sie von weitem gar nicht erkennen konnte. Mit den ganzen Blättern und den Zweigen wirkte sie fast unsichtbar, wenn man weiter weg war.“
Der Blick des Jungen verfinsterte sich nun plötzlich. „Wir waren so richtig toll am Spielen, da kam plötzlich dieser komische Mann zu uns. Kevin war voll erschrocken und versteckte sich direkt hinter mir. Der Mann sagte, wir sollten keine Angst haben, er würde hier bloß spazieren gehen. Dann guckte er sich unsere Laubhütte an und sagte, dass sie ja sehr schön wäre.
Er griff in seine Tasche und holte eine Tüte mit Weingummis heraus. Fragte, ob wir auch welche wollten. Kevin schrie sofort, dass Mama es uns verboten hätte, Süßes von Fremden zu nehmen. Der Mann lachte und steckte sich selber ein Weingummi in den Mund. Damit wir sehen würden, dass es nicht vergiftet sei. Ich sagte, er solle uns in Ruhe lassen und weiter gehen. Der Mann ging aber nicht. Er blieb stehen...“ Yannick holte Luft.
„Und was geschah dann?“, fragte Holte sanft.
„Er lächelte uns an. Aber es war so komisch...“
„Das Lächeln? Wieso?“
„Es war so... also, es machte uns Angst.“ Yannick schluckte. „Dann kam er näher. Er sagte, wir hätten hübsche Gesichter und er berührte mit seinem Finger Kevins Lippen. Ich stieß seine Hand weg und schrie ihn an, er solle meinen Bruder nicht anpacken! Dann stieß er mich zur Seite. So richtig feste! Ich knallte gegen einen Baum und fiel hin...“ Yannick schob seine Haare aus dem Gesicht und zeigte den heftig angeschwollenen blauen Flecken an seiner Stirn. „Hier!“
Der Kommissar nickte. „Und was passierte dann?“
„Dann lachte er und sagte zu mir: ´Du bist gleich dran!´
Ich lag auf dem Boden, mir tat alles weh und er... dieser Mann, er machte sich über Kevin her. Er wollte ihn küssen. Kevin versuchte natürlich sich zu wehren, brüllte aus vollem Hals. Er zerkratzte dem Mann das Gesicht, wie eine Katze, riss an seinen Haaren. Der Mann wurde deshalb wütend. Er sprang auf, schlug und trat auf Kevin ein. Er trat ihm gegen den Kopf... wie bei einem Fußball. Wieder und wieder!
Dann sah ich den dicken Ast neben mir auf dem Boden. Ich nahm ihn in die Hand. Er war so feste und hart... Ja, und dann stand ich auf und... Ich konnte gar nicht richtig gehen, weil ich noch voll betäubt war. Trotzdem bin ich dann bei dem Mann angekommen und dann... dann hab` ich...“
„Zugeschlagen?“
Die Augen des Jungen schwammen jetzt wieder in Tränen. „Auf einmal war es, als wäre ich wach. Ich schlug dem Mann mit dem Ast hinten auf den Kopf. Nochmal und nochmal. Immer wieder, so fest ich nur konnte...“ Seine Stimme brach.
Er atmete tief durch, so als sammle er sich kurz, dann fuhr er fort: „Bis der Ast kaputt ging. Dann habe ich einen großen Stein aufgehoben und mit dem weiter gemacht...“
„Bis der Mann sich nicht mehr bewegt hat“, bemerkte Holte.
Der Junge nickte heftig. „Danach bin ich zu Kevin hin, wollte ihn nehmen und mit ihm verschwinden. Aber seine Augen waren ganz... Die waren so leer. Ich hab` ihn gerüttelt, versuchte, ihn wachzumachen, aber...“
Sein Gesicht verzerrte sich und tief aus seinem Inneren drang ein leises, katzenartiges Wimmern. Yannick drehte seinen Kopf zur Seite und warf sich ins Kopfkissen.
„Sie hatten versprochen, abzubrechen, wenn es ihn zu sehr belasten würde!", ertönte in diesem Moment eine wütende Stimme von draußen. Aufgebracht riss Yannicks Mutter die Tür auf, stürzte an den überraschten Polizeibeamten vorbei und nahm ihren Jungen in den Arm.
„Am liebsten wäre ich tot!", rief Yannick verzweifelt.
„Das darfst du nicht sagen", flüsterte sie ihm zu, wiegte ihn leicht hin und her. „Es war nicht deine Schuld..."
Holte spürte, wie sich sein Hals zusammenzog.
„Schsch, ist schon gut", sprach die Mutter weiter. „Niemand wird dir mehr wehtun..." Dabei sah sie Holte an und ihr Blick wurde vorwurfsvoll. „Es ist wohl besser, Sie gehen jetzt!"
Holte nickte. Yannick musterte ihn aus rotgeweinten Augen. „Ich wollte doch nicht, dass das passiert..."
„Glaube mir, ich weiß, wie du dich fühlst. Ich versteh` dich sehr gut, mein Junge."
„Aber es ist meine Schuld. Ich hätte Kevin beschützen müssen..."
„Es ist nicht deine Schuld, hörst du?", sprach seine Mutter so eindringlich auf ihn ein, als wolle sie ihn hypnotisieren. „Du hast überhaupt nichts falsch gemacht. Wirklich, du hast alles getan, was ein Bruder tun kann. Nur hattest du einfach keine Chance gegen diesen starken Mann. Er allein ist schuld. Er hat Kevin getötet, es ist allein seine Schuld, nicht deine!“
„Deine Mutter hat Recht", stimmte Holte dem zu. Yannick blickte ihn aus großen Augen an.
Dann wandte Holte sich an seine Kollegin: „Lass uns gehen. Hier gibt es nichts mehr für uns zu tun."


Es war warm in dem Ford, obwohl die Fenster heruntergekurbelt waren.
„Eine scheußliche Sache", unterbrach Holte plötzlich die Stille. Frau Braun nickte, zündete sich eine Zigarette an, sog den Rauch in ihre Lungen und stieß ihn dann wieder durch die Nase aus. „Stimmt, die Geschichte des Jungen ist wirklich heftig."
„Wohl wahr“, pflichtete ihr Holte bei, „Ich kann dir gar nicht sagen, wie unendlich Leid mir die Beiden tun.“
„Wissen wir inzwischen eigentlich etwas über den Täter?“
Holte verneinte dies. „Das wird auch noch dauern, solange wir den Toten nicht sicher identifizieren können. Und so, wie der Junge auf ihn eingeschlagen hat, wird das verflucht schwierig werden...“
Sie blickte ihren Vorgesetzten unentschlossen an, als überlege sie, ob sie tatsächlich aussprechen sollte, was ihr in den Sinn gekommen war. „Etwas stört mich...“, rückte sie dann doch mit ihrem Gedanken heraus.
Holte blickte seine Kollegin überrascht an. „Und das wäre?"
Die Kriminalassistentin schüttelte den Kopf und schnippte die Zigarette aus dem Fenster. „Die Art, wie der Junge vorgegangen ist. Dass er mit dem Ast auf den Mann losgegangen ist, das kann ich ja nachvollziehen. Aus Angst, Wut... Er wollte seinen Bruder retten. Das ist klare Notwehr. Aber nach den Schlägen mit dem Ast müsste der Mann doch längst handlungsunfähig gewesen sein. In diesem Moment hätte jeder andere wahrscheinlich von ihm abgelassen und wäre schnell zum jüngeren Bruder hin geeilt. Aber Yannick sucht sich erst noch einen Stein und gibt dem Mann erbarmungslos den Rest. Und hier wird für mich aus der klaren Notwehr kaltblütiger Mord.“
„Großer Gott, wir reden von einem Kind!“, rief Holte entsetzt aus, wobei er vor Schreck fast auf die Bremse getreten hätte. „Bei dem Jungen hat es einfach ausgesetzt. Stell dir vor, du wärst an seiner Stelle und würdest das erleben müssen. All die Angst, Wut und Verzweiflung... Vielleicht befürchtete er, der Mann würde sich wieder aufrappeln, wenn er es nicht zuende bringen würde. Für den Jungen hieß es doch: entweder das Leben des Mannes oder das seines Bruders sowie sein eigenes.
Kein Richter wird ihm daraus einen Strick drehen. Es war Notwehr, daran gibt es überhaupt keinen Zweifel.“
„Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll,“ warf seine Kollegin erneut ein, „aber irgendwie spüre ich einfach, dass der Junge uns etwas verschweigt, darauf würde ich wetten.“
Holte seufzte genervt. „Was genau meinst du?“
„Was für ein Zufall, dass er den Schädel des Mannes in seiner Wut so zugerichtet hat, dass eine Personenidentifikation nahezu unmöglich für uns ist. Zumal doch seltsam ist, dass der Tote keine Personalien mit sich führte.“
„Hast du denn immer eine Brieftasche bei dir? Auch dann, wenn du nur kurz einen Spaziergang machst? Möglicherweise hat er die Jungs auch an der Stelle im Wald erwartet. Vielleicht beobachtete er die Beiden schon seit längerem, ohne dass sie es wussten. Das wäre bei Sexualstraftätern nichts Ungewöhnliches. Dann hat er die Brieftasche mit den Personalien nämlich ganz bewusst zuhause gelassen, damit keine Gefahr bestand, dass er sie zufällig am Tatort verliert.“ Seine Assistentin nickte. „Sicher, das wäre schon möglich, jedoch...“
„Ich glaube nicht, dass der Junge das bewusst gemacht hat“, unterbrach Holte sie eifrig. „Er wollte sich bloß an dem Mörder und Peiniger seines Bruders rächen, hat einfach die Kontrolle verloren und ihn dabei... zermatscht.“ Er atmete laut aus. „Weshalb sollte der Junge auch darauf bedacht sein, die Identität des Täters zu verschleiern? Wo er doch von selbst sofort gestanden hat, ihn getötet zu haben.“
„Vielleicht, weil er den Täter kannte? Wer weiß schon, was ihn mit dem Mann verband...“
„Dir ist schon klar, wie weit hergeholt das klingt?“
„Nenn` es einfach weibliche Intuition!“
„Verschone mich mit `weiblicher Intuition`!" Holte lachte höhnisch. „Erkläre das mal einem Staatsanwalt. Erklär` ihm, dass du zwar weder Beweise noch ein Motiv hast, dafür aber `weibliche Intuition`. Du wirst erleben, wie rasch er dich aus dem Raum befördert und rückwärts die Treppen runter schmeißt."
Frau Braun presste die Lippen zusammen, erwiderte aber nichts. Trotz des heißen Spätsommerwetters würde es eine kalte Rückfahrt ins Amt werden. Eine verdammt kalte.


Währenddessen lag Yannick ausgestreckt auf seinem Bett, die Arme hinter seinem Kopf verschränkt. Alles war genauso gelaufen, wie er es geplant hatte. Sogar noch besser...

Es war dabei alles so einfach gewesen: Er hatte seinen neunjährigen Bruder unter dem Vorwand in den Wald gelockt, mit ihm die zwei Tage zuvor erbaute Laubhütte noch etwas verbessern zu wollen. Natürlich war Kevin mit Begeisterung dabei. Für ihn gab es doch nichts Schöneres, als mit seinem drei Jahre älteren Bruder zusammen im Wald zu spielen. Zu Beginn hatten sie das auch tatsächlich getan: an der Hütte gebaut und zusammen die Weingummis gegessen, die sie zuvor am Kiosk in der Nähe geholt hatten.
Yannick amüsierte sich jetzt noch über das ungläubige, völlig verständnislose Gesicht von Kevin, als er ihn plötzlich unvermittelt zu Boden schubste.
„Hey, was soll das?“ Aber dann erleuchtete ein Einfall das Gesicht des kleinen Jungen. „Das ist ein Spiel, oder?“, rief er fröhlich. „Du willst wieder ein Spaßkämpfchen anzetteln, oder?“
„Weißt du, Kevin, eigentlich will ich dich nur töten.“
„Was? Aber... Ich will das nicht. Lass uns lieber was anderes spielen. Du machst mir Angst!“
Yannick ging vor ihm in die Knie. „Abgesehen von Mama habe ich dich von allen immer am meisten gemocht, weißt du das? Ehrlich, ich glaube, irgendwie liebe ich dich sogar...“
Er streichelte Kevin über die Wange. „Aber das ändert nichts.“ Er schluckte. „Du wirst mir fehlen!“
Dann schlug Yannick zu. Immer und immer wieder schlug und trat er auf seinen Bruder ein, der anfangs noch schrie und ihn anflehte, damit endlich aufzuhören. Bis er Kevin schließlich gegen den Kopf trat, wieder und wieder. Auch dann, als der Kleine sich längst nicht mehr regte. Als es getan war und Yannick seinen Bruder so tot daliegen sah, wurde ihm schlecht.
Er stützte sich gegen einen Baum und erbrach sich.
Er fühlte sich zittrig und kalter Schweiß bedeckte seinen Körper.
Es dauerte einige Augenblicke, bis der Junge fühlte, dass kein weiterer Schwall folgen würde und sein Magen sich langsam wieder beruhigte. Das Schwerste war nun getan, jetzt musste er bloß noch den... Als Yannick sich umdrehte, sah er etwas, was ihn geradezu versteinern ließ.
Er hatte das Gefühl, sein Herz müsse vor Schreck zerspringen...

Yannick wälzte sich bei der Erinnerung unruhig auf seinem Bett hin und her. Diesen Moment würde er nie vergessen können, solange er auch lebe.

Zutiefst erschrocken fiel sein Blick auf den fremden Mann mit dem Hund, der sich über seinen Bruder beugte und verzweifelt nach einem Lebenszeichen an der Halsschlagader suchte. Wo kam der auf einmal so plötzlich her?
Und was sollte er jetzt nur tun? Noch hatte der Mann ihn jedoch nicht wahrgenommen. Yannick überlegte fieberhaft. Dann gingen ihm plötzlich die Möglichkeiten auf, die ihm sich durch diese neue Situation eröffneten. Wie oft wurde heutzutage in den Medien über Verbrechen an Kindern berichtet, von irgendwelchen perversen Triebtätern begangen. Yannick beruhigte sich langsam wieder. Diesen Spaziergänger hatte ihm das Schicksal geschickt. Er würde einen erstklassigen Täter abgeben.
Also suchte er sich einen schönen, stabilen Astknüppel und schlich sich vorsichtig von hinten an den Mann heran, der immer noch verzweifelt versuchte, Erste Hilfe für den tödlich verletzten Jungen zu leisten.
Der Hund, ein Golden Retriever, horchte auf, blickte Yannick wachsam an. Er begann zu knurren, fletschte böse die Zähne, aber sein Herrchen registrierte dieses Verhalten nicht. Er war viel zu aufgeregt : „Bitte, Kind, stirb mir bloß nicht weg. Großer Gott, was soll ich nur tun?“
Yannick lächelte den Hund an. Dann schlug er mit aller Kraft auf den Mann ein.
Etwas brach hörbar, der Mann stürzte nach vorn über den Körper des toten Jungen. Der Golden Retriever griff zur Verteidigung seines Herrchens an, sprang an Yannick hoch, schnappte mit weit aufgerissenem Maul nach ihm. Doch der Junge reagierte schnell, drehte sich zur Seite und schlug erneut mit ganzer Kraft zu. Voll auf den Schädel des Tieres. Der Hund wurde von der Wucht zu Boden geworfen. Zur Sicherheit hieb Yannick noch einmal nach, obwohl dieser Schlag bestimmt nicht mehr nötig war, in Anbetracht dessen, wie der Golden Retriever dalag.
Als das erledigt war, wandte er sich wieder dem Mann zu, schlug nochmal auf ihn ein, ein drittes Mal - dann brach der Ast. Ob es denn schon gereicht hatte? Der Hinterkopf war zwar nur noch ein blutiger Brei, trotzdem musste Yannick ganz sicher gehen. Er packte den Mann mit beiden Händen an Schulter sowie Taille und zog ihn mit einem erstaunlich kräftigen Ruck herum auf den Rücken.
Das Gesicht des Mannes sah grauenvoll aus, es war vollkommen mit Blut bedeckt. Aber seine Lippen zuckten noch, als würde er zu sprechen versuchen. Das sah unheimlich aus.
Der Zwölfjährige erzitterte. Das hatte ihm noch gefehlt. Dieser Fremde war zwar sein Opfer, aber er sollte nicht unnötig leiden. Er musste es zu einem Ende bringen - jetzt und hier. Also suchte er sich einen großen, scharfkantigen Stein. Dann ging er neben dem Sterbenden auf die Knie, nahm den Stein in beide Hände, holte bis über seinen Kopf aus und ließ ihn dann voller Wucht auf das Gesicht des Mannes niedersausen.
Es gab ein hässliches Geräusch, Blutspritzer besprenkelten T-Shirt und Gesicht des Jungen. Yannick holte Luft und wischte sich mit dem blutverschmierten Handrücken über die schweißnasse Stirn, bevor er erleichtert aufstand und zufrieden sein Gesamtwerk betrachtete.


Das Handy vibrierte dreimal, bevor Holte endlich dranging, während er an seinem Schreibtisch in Gedanken noch einmal das Gespräch mit dem Jungen durchlief.
„Holte?“
„Gerhauser, von der Gerichtsmedizin. Es ist uns gelungen, den Mann zu identifizieren.“
Holte setzte sich aufrecht. „Ich höre.“
„Einfach war es nicht. Seine Fingerabdrücke waren nicht in den Datenbanken der Polizei gespeichert. Also keine Vorstrafen. Aber letztendlich wurden wir dann doch fündig: in den Datenbanken der Krankenhäuser. Es handelt sich um Volker Matuschka, 38 Jahre alt, ledig.
Er arbeitete in der GWN, den gemeinnützigen Werkstätten Neuss.“
„Da arbeiten doch Menschen mit Behinderungen, oder?“
„Ja, mit leichter geistiger oder körperlicher Behinderung.“
„Lassen Sie mich raten: leichte geistige Behinderung?“
„Nein, eben nicht! Geistig war mit ihm alles in Ordnung.“
„Aber...“, Holte stockte. „Was hatte er dann?“
Und was der Gerichtsmediziner im Folgenden antwortete, ließ dem erfahrenen Kriminalbeamten buchstäblich seinen Kiefer nach unten fallen. „Danke“, sagte er fast tonlos.
Fassungslos legte Holte auf und starrte vor sich hin. Dann blickte er seine Kollegin an. „Ein Hoch auf die weibliche Intuition. Wir fahren nochmal zu Yannick zurück!“


Yannick musterte zufrieden die Poster an der Wand.
Er hatte den Köter dann weit im Wald verbuddelt und die Stelle mit Laub bedeckt. „Wieder unsichtbar!“, lachte der Junge, als er daran dachte.
Sein Plan war perfekt aufgegangen, Yannick war richtig stolz auf sich. Auch diese leichtgläubigen Polizisten hatte er ohne Weiteres um den kleinen Finger gewickelt. Wer hielt auch schon ein verstörtes, weinendes Kind für einen Mörder?
Schon gar nicht, da er doch diese heftige Beule vorweisen konnte, die angeblich daher stammte, dass der böse Mann ihn gegen einen Baum geschubst hatte. Natürlich hatte er sich diese selbst beigebracht. Das waren zwar höllische Schmerzen gewesen, aber der Effekt war es wert. Sogar die Tüte mit den Weingummis hatte er entsprechend am Tatort platziert - natürlich nicht, ohne sie vorher mit den Fingerabdrücken des Toten zu versehen. Schließlich sollte sie später die Glaubwürdigkeit seiner Aussage zusätzlich untermauern. Das kannte er alles aus diesen Krimiserien, die er immer so gerne mit seiner Mutter ansah. Fernsehen bildet eben doch! Seine Augen wanderten aufmerksam über die Körper der Toten und den Kadaver des Hundes - er durfte nichts übersehen haben. Er lächelte bestätigend, als sein Blick auf die Leine fiel, die immer noch an dem Halsband des Hundes befestigt war. So etwas zum Beispiel. Yannick nahm die Leine an sich und ließ sie zusammen mit der zuvor noch schnell entwendeten Brieftasche des Mannes auf Nimmerwiedersehen im Wald verschwinden.
Die ganze Arbeit hatte sich gelohnt, denn jetzt war endgültig alles vorbei.
Endlich hatte er sein Ziel erreicht: Jetzt gab es nur noch ihn und Mama, nur noch sie beide. Kein Papa mehr, kein großer Bruder - und nun auch keinen kleinen Bruder mehr.
Yannick atmete erleichtert auf. Dieses Ziel zu erreichen, hatte ihn viel Mühe gekostet. Und nicht immer war es ihm leicht gefallen, was er dafür tun musste...
Natürlich hatte er an seinem Vater gehangen, denn er war wirklich ein guter Papa gewesen.
Er hatte immer viel Zeit mit „seinen Jungs“ verbracht, mit ihnen getobt und gewühlt, ihnen Geschichten vorgelesen und viele Ausflüge unternommen. Außerdem war er sehr witzig und hatte sie oft zum Lachen gebracht.
Yannick lächelte bei der Erinnerung an die schönen Zeiten. Doch dann wurde das Gesicht des Jungen auf einmal ernst. Leider war er kein guter Ehemann gewesen.
Immer wieder hatte er sie betrogen - mit irgendwelchen jüngeren Frauen aus dem Büro. Yannick erinnerte sich gut, wie oft seine schöne Mutter abends allein am Küchentisch saß, wenn sie ihre Kinder im Bett glaubte, und todunglücklich vor sich hin weinte. Irgendwann war es ihm dann zu viel geworden. Yannick hatte genug davon, wie unglücklich seine Mama war, er konnte es nicht mehr länger ertragen. Also beschloss er, diese Angelegenheit für immer zu beenden.
Er lachte leise vor sich hin. Die Mitarbeiter des Restaurants hatten vor Gericht wiederholt ausgesagt, sie hätten keine Ahnung, wie die geraspelten Nüsse in den Vanillecreme-Nachtisch kamen, schließlich seien in dieser Speise überhaupt keine Nüsse vorgesehen. Ausgerechnet Nüsse, gegen die sein Vater doch so hochgradig allergisch war. Es war faszinierend, wie schnell sein Körper darauf reagierte.
Obwohl zufällig ein Arzt im Restaurant anwesend war und sofort zur Hilfe eilte, kam jede Rettung dennoch zu spät. Innerhalb weniger Minuten starb sein Vater an einem anaphylaktischen Schock.
Yannick sah ihn jetzt noch genau vor sich, den komplett angeschwollenen Körper, das erstickende Gesicht seines Vaters.
Niemand hatte ihn damals verdächtigt.
Nach dem Tod seines Vaters kümmerte sich seine trauernde Mutter besonders um ihn und seine Geschwister. Sie glaubte, ihren Söhnen jetzt beistehen zu müssen. Yannick erinnerte sich daran, wie sie ihn eines Abends wortlos in den Arm nahm, drückte und sanft hin und her wog. Dann küsste sie ihn auf die Wange, nannte ihn „meinen kleinen Liebling“.
Diesen Moment hatte er nie vergessen. Dieses Gefühl, so unendlich geliebt zu werden, wollte er niemals wieder verlieren. Und vor allem wollte er es auch nie wieder teilen müssen. Sie hatte es doch selbst gesagt: er war ihr Liebling, er ganz alleine. Damit gestand sie doch, dass sie ihn lieber mochte als seine beiden Brüder. Schließlich war er ihr gegenüber immer nett und aufmerksam gewesen, hatte niemals etwas getan, was sie verletzte oder aufregte.
Ganz anders als seine beiden Brüder, die ihr gegenüber auch schon mal frech wurden oder sie anschrien, wenn sie ihren Willen nicht bekamen.
In der Zeit nach dem Tod ihres Vaters, hatte sein älterer Bruder Patrick tatsächlich geglaubt, nun der Mann im Haus zu sein. Dachte wirklich, er könnte jetzt seiner Mutter sagen, was sie zu tun und zu lassen habe. Außerdem hielt er sich an keinerlei Regeln mehr. Er blieb nachts lange aus, kam betrunken nach Hause oder ließ sich dabei erwischen, dass er in seinem Zimmer mit Mädchen rummachte. Oder aber er kiffte mit seinen Kumpels zusammen...
Bis seine Mutter wieder nachts weinend in der Küche saß. Eine Situation, die Yannick doch eigentlich nie wieder hatte erleben wollen.
Danach war Patricks Tod beschlossene Sache.
Zwei Tage später lief sein großer Bruder betrunken vor ein Auto, dessen Fahrer ihn in der Dunkelheit so schnell gar nicht gesehen hatte.
Nun, betrunken war sein Bruder zwar wirklich gewesen, nur war er weniger vor das Auto gelaufen... vielmehr hatte ein plötzlicher Stoß von hinten dafür gesorgt, dass er zwischen den parkenden Autos hindurch vorwärts auf die Straße stolperte.
Yannick seufzte zufrieden in seinem Bett. Die Gelegenheit war einfach zu günstig gewesen, als er seinen Bruder nachts von seinem Kinderzimmerfenster aus nach Hause torkeln sah: Patrick übergab sich erst in den Garten, dann schwankte er zu den parkenden Autos, wo er sich schläfrig auf eine der Motorhauben setzte.
Er war sturzbetrunken - und das bedeutete, dass er wehrlos sein würde.
Yannick war leise, schlich mit nackten Füßen aus dem Zimmer, um Kevin nicht zu wecken, ging noch leiser die Treppe hinab und völlig geräuschlos aus der Haustür hinaus.
Sein Bruder hatte ihn noch nicht mal kommen sehen. Patrick war gerade wieder aufgestanden, stand mit dem Gesicht zur Straße hin und streckte sich durch. Dann wankte er ein wenig hin und her, noch inner nicht das Auto wahrnehmend, das gerade recht zügig in die Straße fuhr. Dagegen hatte Yannick diese Gelegenheit natürlich sofort erkannt. Und so geschah ein weiterer, sehr tragischer Unfall in der Familie.

Yannick kicherte in seinem Bett. Das zweite Mal war wirklich am einfachsten gewesen.

Später erzählte er allen, er habe vom Fenster aus seinen Bruder gesehen, wie der immer wieder auf die Straße und zurück auf den Bürgersteig getorkelt sei. Und irgendwann sei er besorgt rausgelaufen, um ihn von da weg zu holen, ins Haus hinein. Aber leider sei er dann schon zu spät gekommen.
Niemand hatte an seinen Worten gezweifelt. Wieso auch? Wer verdächtigte schon ein Kind?
Und wieder musste er nach Patricks Tod die Erfahrung machen, dass das Band zwischen ihm und seiner Mutter ein Stückchen enger wurde. Nun war er schließlich der Große im Haus.
Sie besprach mit ihm alltägliche Sachen, die vorher nur mit seinem Vater, dann mit seinem ältesten Bruder beredet wurden. Sie gab ihm das Gefühl, älter, wichtiger geworden zu sein.
Und wieder umarmte sie ihn. Wieder küsste sie ihn auf die Wange.
Wie schön es wohl erst sein müsste, mit ihr völlig alleine zu sein?
Diese Frage ließ ihn nicht mehr los. Immer wieder spukte sie durch seinen Kopf, bis er sich vor ein paar Tagen dazu entschlossen hatte, es auszuprobieren.

Yannick atmete tief durch, wälzte sich auf seinem Bett unruhig hin und her.
Kevin zu töten, war ihm wirklich schwer gefallen. Eigentlich hing er sehr an ihm. Und im Gegensatz zu Papa und Patrick, hatte Kevin seiner Mutter nichts wirklich Schlimmes angetan. Schön, er war mal ungezogen gewesen, ihr gegenüber auch mal frech geworden, aber das waren nie wirklich verletzende Sachen. Wenn Yannick ehrlich war, so hatte Kevin nichts getan, was ihm einen Grund geliefert hätte. Eigentlich war er ein wirklich lieber, kleiner Bruder gewesen und je mehr Yannick nun über ihn nachdachte, umso mieser fühlte er sich.
Doch Kevin hatte ihm leider im Weg zu seinem großen Traum gestanden, denn er bekam einen großen Teil der Liebe seiner Mutter, der doch eigentlich ihm zustand.
Er war doch ihr „kleiner Liebling“.
Yannick verdrängte seine aufkommenden Schuldgefühle. Das Erreichen seines Ziels war es wert gewesen. Nun hatte er sie ganz für sich. Nur noch Mama und er.
Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht. Dann schloss er die Augen und schlief ein.


Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er unsanft an der Schulter gerüttelt und dadurch geweckt wurde. Verschlafen blickte er überrascht in die Gesichter von Kommissar Holte, dessen Kollegin Braun und seiner Mutter. „Was ist denn los?”, gähnte er müde.
Holte blickte ihn ernst an. „Wir müssen noch einmal mit dir sprechen.” Die Stimme des Kommissars wirkte diesmal jedoch ganz anders als das letzte Mal. Sie enthielt nichts mehr von dieser mitleidigen Freundlichkeit, dieser Sanftheit, klang eher kühl und schneidend.
Auf einmal war Yannick hellwach, setzte sich in seinem Bett aufrecht.
„Jetzt?” Ihn beschlich ein ungutes Gefühl. War ihm doch ein Fehler unterlaufen? „Ich habe doch schon alles erzählt.”
Kommissar Holte lächelte. „Ja, das hast du. Wir haben auch nur eine einzige Frage...“
Yannick blickte den Polizeibeamten in die Augen. „Und welche?“
„Was hast du mit dem Hund gemacht?“
„Welcher Hund?“, stellte der Junge sich dumm und setzte einen völlig fragenden Blick auf. Holte lächelte. Dieser Junge war spielte seine Rolle so unendlich gut...
„Uns ist schon klar, dass du das arme Tier getötet haben musst. Nur wissen wir nicht, wo du es entsorgt hast.“
„Mama, was wollen die von mir?“
Aber seine Mutter stand nur hinter den Polizisten und weinte. Sie wandte ihr Gesicht ab, als könne sie seinen Anblick nicht länger ertragen. Ein stechender Schmerz durchfuhr Yannicks Brust: Was hatten die Beiden ihr nur erzählt?
Holte lachte leise. „Ich muss dir wirklich ein Kompliment aussprechen. Ich mache diesen Job nun schon mehr als dreißig Jahre, aber mir ist noch nie ein so abgebrühter Täter wie du begegnet. Ich habe deine Story wirklich geglaubt, weißt du? Es war einfach so stimmig. Du hast alles derart perfekt durchdacht und mit solch eiskalter Präzision durchgeführt, dass es mir eiskalt den Rücken runter läuft. Ehrlich, ich wäre niemals darauf gekommen, dass du es warst.“
„Dass ich was war?“
„Weißt du, was mich an dem Ganzen am meisten erschreckt? Dass du noch ein Kind bist. Ein sehr angesehener und bekannter Psychologe erzählte einmal in einer Vorlesung, die ich besuchte, dass Kinder bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr von ihrer geistigen Entwicklung her gar nicht in der Lage dazu seien, wirklich geplant zu morden. Im Affekt ja, als kurzfristige Kurzschlusshandlung, aber niemals auf Basis eines lange ausgefeilten Planes. Seit heute weiß ich, dass er gequirlte Scheiße erzählte.“
„Was? Ich habe den Mann niedergeschlagen, weil er auf meinen Bruder einschlug und ich ihn retten wollte. Das war nicht geplant, ich hatte bloß Angst. Das war Notwehr!“
„Der Mann kam dir ganz gelegen, nachdem du deinen Bruder getötet hattest, nicht wahr?“
„Ich?“, schrie Yannick empört „ER hat auf meinen Bruder eingeschlagen und ihn getötet! Und ER verdiente den Tod!“
Holte lächelte amüsiert. „Richtig, der Mann war der perfekte Sündenbock. Er passte ja so gut in deine Pläne, ist es nicht so?“ Holte nickte. „Ich muss zugeben, er machte die ganze Geschichte tatsächlich viel glaubwürdiger. Dabei hat der arme Kerl eigentlich nur versucht, deinen Bruder wiederzubeleben, oder?“ Holte musterte den Jungen eingehend und schüttelte dann den Kopf. „Ein so schlauer, netter Junge - was hätte aus dir alles werden können? Ich verstehe das einfach nicht: Welchen Grund hattest du, deinen eigenen Bruder erbarmungslos zu töten? Was kann der Kleine dir schon so Schlimmes angetan haben?“
„Mama!“, schrie er panisch. „Was erzählen die da?“
Der Kopf seiner Mutter ruckte herum, mit tränenerfüllten Augen blickte sie in das verzweifelte Gesicht ihres einzigen, noch verbliebenen Kindes. Er hatte Angst, dass sah sie ihm an. Ihr Blick wurde weich. Er war doch ihr Yannick. Ein guter Junge, nie zu solchen Sachen fähig, wie sie ihm diese zwei Kriminalbeamten nun unterstellten. Das konnte sie doch nicht zulassen, sie musste ihr Kind beschützen...
„Wie können Sie es wagen, so mit meinem Sohn zu reden?“, hörte sie sich plötzlich selber schreien. „Wie können Sie ihm solche ungeheuerlichen Sachen unterstellen, nach alldem, was er durchgemacht hat?“ Sie schlug hysterisch mit den Fäusten auf den Kommissar ein, der sie nur mit Mühe zurückdrängen konnte. „Sie elendes Schwein, haben Sie denn kein Herz? Was bezwecken Sie damit?“ Kriminalassistentin Braun zog die junge Frau von ihrem Vorgesetzten zurück und nahm sie in eine feste Umklammerung, damit sie sich wieder beruhigte.
„Mein Job ist es, die Wahrheit herausfinden“, erklärte Holte mit seiner sanften Stimme, wobei er die Reaktion der Mutter gut nachvollziehen konnte. „Und das habe ich getan. Ich weiß, es muss für Sie unvorstellbar sein, aber Ihr eigener Sohn hat seinen Bruder getötet.“
Er sah Yannick fest in die Augen. „Seinen Bruder, den Mann und den Hund!“
„Was haben Sie nur immer mit dem verdammten Hund?“, rief Frau Leuchten aufgebracht. „Haben Sie überhaupt irgendeinen Beweis?“
Der Kommissar nickte. „Du hast wirklich an alles gedacht, Yannick. Und ganz ehrlich, dir selbst ist nicht einmal ein Fehler unterlaufen. Es war einfach Schicksal. Wie hättest du auch wissen können, dass der Mann blind war?“
Yannick schluckte, erwiderte nichts darauf.
„Ein Blinder kann aber unmöglich das getan haben, was du geschildert hast. Und diese Tatsache lässt nur einen Schluss zu...“ Holte sah den Jungen voll an. „Ich vermute, du hast ihn sofort von hinten angegriffen, als du ihn entdecktest, hm? In dem Moment, als er sich auf dem Boden niederließ, um deinem Bruder zu helfen, richtig? Du wolltest ihm keine Chance lassen, auf die Beine zu kommen und sich zu wehren. Ich bin mir sicher, dass es so war, denn sonst wäre dir sein seltsam unfixierter Blick sicher kaum entgangen.“
„Er war blind?“ Yannick lachte. „Der verfluchte Scheißkerl war ehrlich blind?“
Holte nickte. „Ehrlich! Deswegen auch die Frage nach dem Hund.“
„Sein Blindenhund“, begriff Yannick und schüttelte den Kopf.
„Der Hund, der seinem Herrchen niemals von der Seite gewichen wäre“, bemerkte Holte. Der Kommissar lächelte schadenfroh. „Ich nehme an, als du die Brieftasche des Mannes entsorgtest, nahmst du dir nicht vorher die Zeit, noch hinzusehen, oder? Denn dann wäre dir sicherlich - bei deinem aufmerksamen Vorgehen - der Blindenpass aufgefallen, den er immer bei sich trug...“
Der Junge lachte zunehmend hysterischer. „Er war blind!“, wiederholte er fassungslos. Dann noch einmal und ein weiteres Mal. Bis er irgendwann zu schluchzen begann.
Seine Mutter starrte ihn fassungslos an: „Den eigenen Bruder?” Sie kreischte auf, heulte vor unerträglichem Schmerz in ihrem Herzen. Wie wahnsinnig versuchte sie sich aus der Umklammerung der Polizistin loszureißen, um sich auf ihren Sohn zu stürzen, aber die Kriminalassistentin gab nicht nach. „Den eigenen Bruder? Wie konntest du nur?!”, presste Frau Leuchten mit tränenerstickter Stimme hervor. „Wieso nur? Was stimmt nicht mit dir? Habe ich was falsch gemacht?” Sie schrie, als würde sie den Verstand verlieren. „Ich begreife das nicht, Yannick! Du... du bist doch noch ein Kind! Kinder tun so etwas nicht! Doch nicht ein Kind!“ Die Knie sackten ihr weg, die Kriminalassistentin konnte sie nur mit Mühe auffangen.
Yannick antwortete seiner Mutter nicht. Was hätte er ihr auch sagen sollen? Es spielte ohnehin nun keine Rolle mehr, denn er hatte es in ihren Augen gesehen: Sie verstand nicht, hasste ihn für das, was er getan hatte. All ihre Liebe für „ihren kleinen Liebling” war auf einmal erloschen. Und er wusste, sie würde niemals wiederkehren.
„Alles umsonst”, murmelte er leise vor sich hin. Dann legte er sich seitlich auf das Bett, nahm Embryostellung an und begann mit ausdruckslosen Augen am Daumen zu lutschen.
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Alt 08.01.2010, 17:20   #2
weiblich Fallen
 
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Klasse Storry =)
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