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Alt 21.08.2019, 18:35   #1
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Standard Der geplünderte Planet - Eine Polemik

Ihr habt Jahrzehnte lang in Saus und Braus gelebt, unseren Planeten geplündert und ihn restlos versaut, bis Matthäi am Letzten und allen warnenden Stimmen zum Trotz. Wir, die junge Generation und unsere Kinder und Enkelkinder, haben euren Egoismus auszubaden, der Mutter Erde aus dem Gleichgewicht gebracht hat und uns die Zukunft raubt. Die Polkappen schmelzen, die Meere vermüllen, Tierarten sterben aus, Stürme fegen über das Land, Flutkatastrophen brechen über uns herein, und trotzdem können wir nicht sagen, das Wasser stehe uns bis zum Hals, denn auch dieser wichtigste Grundstoff des Lebens wird immer knapper.

Uns sollte es besser gehen als euch, pflanztet ihr Generation um Generation euren Kindern ein, und sie glaubten euch. Jetzt stehen sie vor der Apokalypse eures wohlgemeinten Tuns.

Das sind die Vorwürfe, die den „älteren Generationen“ vor die Füße geworfen werden. Aber wer sind diese Generationen, und wer ist die „junge Generation“, die diese Vorwürfe erhebt? Sind ihre Vorwürfe überhaupt berechtigt, oder muss man etwas näher hinsehen, was es damit auf sich hat?

Gehen wir zurück zur Stunde null. Bekanntlich ist damit der Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg gemeint. Davor gab es die Goldenen Zwanziger, in denen die Menschen eine hoffnungsvolle Zukunft vor sich sahen und sich Deutschland in Demokratie wagte. Dieses noch junge politische Pflänzchen vermochte dem faschistischen Nationalismus, der in Europa Einzug hielt, nicht standzuhalten. Der Rest ist bekannt: 1945 lag Deutschland am Boden, die Städte waren zerbomt, zu Fressen gab’s nichts, Wasser musste rationiert werden, Kleidung wurde aus jedem habhaften Material zusammengeschustert, und alles, was eine Rinde trug, wurde abgeholzt, um zwei tödlich-bittere Winter zu überstehen, in denen vor allem die Alten, die am wenigsten Essen zugeteilt bekamen, wie die Fliegen starben.

Das Durchzustehen war die Aufgabe meiner Eltern-Generation, und wenn sie versagt hätte, gäbe es mich nicht, wie auch viele andere nicht, die um meinen Jahrgangs herum sind.

Egal, ob daheimgeblieben oder als Flüchtlinge oder Heimatvertriebene zugereist, sie lebten in Ruinen und Schutt. Sie haben den Planeten und die Zukunft der Menschheit nicht zerstört, sondern ihnen wurde alles bis runter auf die nackte Existenz zerstört. Sie rappelten sich auf und begannen, das Land aufzubauen, und das mit einem bewunderswerten Willen und Pioniergeist.

Von Luxus und Verschwendung war nicht die Rede. Auto? Gab’s nicht. Zur Arbeit ging man zu Fuß oder man fuhr mit dem Fahrrad. Bus? Der blieb alle paar Haltestellen liegen, weil er per Oberleitung mit Strom versorgt wurde, ihm aber regelmäßig die Kontaktflügel runterkrachten. Essen gehen? Dreimal im Jahr, öfter konnte man sich’s nicht leisten. Fernsehen? Man war schon froh, sich ein modernes Radiogerät leisten zu können. Wer Ende der 50er als einer der Ersten einen Fernsehanschluss haben wollte, musste ihn per Antrag auf dem Postamt genehmigen lassen. Glaubt mir niemand? Ich habe noch den Originalantrag meiner Eltern aus dem Jahr 1956 in meinen Unterlagen. Geheizt wurde überigens mit Holz, Eierkohle und Briketts. Und Fleisch kam nur am Sonntag auf den Tisch.

Eingekauft wurde zu Fuß, alles um die Ecken: Zwei Metzger, drei Bäcker, ein Lebensmittelladen, ein Elektrogeschäft, ein Konditor, eine Apotheke. Dazu ein Friseur, ein Schreibwarenladen, zwei Kioske. Ein Postamt. Hatte völlig gereicht.

Kleidung wurde, wenn nicht selbst genäht, bei Kaufhof oder einigen alteingesessenen Geschäfte gekauft, ansonsten bei Quelle, Neckermann und Otto bestellt.

Alles ziemlich bescheiden und umweltfreundlich, obwohl die Industrie zulegte und der Komfort mit der Zeit besser wurde.

Es wurde wirklich besser, und zwar bis in die 70er Jahre hinein. Dann kamen die ersten Schüsse vor den Bug: Ölkrise mit Sonntagsfahrverbot, Angst vor einem Atomkrieg, 68er-Proteste, RAF-Terror – Deutschland im Herbst.

Die Deutschen waren also bestens mit aktuellen Themen beschäftigt, aber immer noch von dem Gedanken beseelt: Unseren Kindern soll es einmal besser gehen als uns. Also möglichst weg von den Krisen der 70er Jahre.

Ein paar Jahre später sprach auch niemand mehr davon. Da waren andere Themen angesagt: C-64 für die Kids, eigenes Fernsehgerät für die Kids, eigenes Fahrzeug für die Kids, freie Entfaltung für die Kids, Mitspracherecht für die Kids, Vermeidung von Ausgrenzung für die Kids (Markenkleidung), Abbau von Schulstress für die Kids (Anpassung des Leistungsniveaus nach unten) usw. Und wehe den Eltern, die nicht mitmachten, sondern kritisch den Finger hoben!

Diese Generation ist nunmehr zwischen 40 und 50 Jahre alt und hat selbst Kinder. Wie sieht ihr Anspruch auf Lebensstandard aus?

Welche Generation verfügt heute über Computer nach neuestem Standard? Wer hat statt eines Autos einen ganzen Rennstall vor der Tür stehen, und naürlich im SUV-Format?

In welcher Familie hat heute nicht jeder einzelne sein eigenes Smartphone, seinen eigenen Laptop, sein eigenes Navi und sein eigenes Fernsehgerät?

Die Egoismus-Generation, die auf einem überbordendem Individualismus beruht (alles für mich allein, bloß nicht teilen), ist ein Phänomen der letzten fünfzehn bis zwanzig Jahre, eine satte, gepamperte, übertrieben verwöhnte Generation, die den Älteren jetzt die Rechnung für eine Ich-Sucht aufmachen will, die sie sich selbst auf die Fahnen schreiben sollte. Keine Generation zuvor konnte auf einen derartigen Luxus zurückgreifen, wie er heute kritiklos in Gebrauch genommen wird, keine Generation konnte sich einer dermaßen respektlosen Sprache bedienen und sich über jede Benimmformen hinwegsetzen wie die heutige. Zu meiner Zeit wurde Abfall noch in Abfallbehälter geworfen, weil Menschen meiner Generation dazu erzogen worden waren; heute fällt den Kindern und Jugendlichen der Abfall aus der Hand, wo man gerade geht und steht.

Fazit: Die älteren Generationen haben alles andere als in Saus und Braus gelebt. Sie haben Aufbau, Polit-, Finanz- und Wirtschaftskrisen getragen, die Probleme ihrer Zeit zu bewältigen versucht und längst nicht den Luxus gehabt, der heute herrscht. Es ist ein modernes Problem, das unseren Planeten vergiftet, und zwar mit jedem Computer, Smartphone und SUV – unentbehrlich und somit Standard für die 20- bis 40jährigen. Genau diese Jahrgänge sind es, denen ihre eigenen Vorwürfe auf die Füße fallen sollten. Statt die Älteren in die Verantwortung zu ziehen, sollten sie sich ihren eigenen Problemen selbst stellen, denn die Wahrheit ist: Sie können der Versuchung, aus dem Vollen zu schöpfen, nicht widerstehen.

Sie sagen: Ihr Älteren habt das alles verursacht. Also seht zu, wie ihr das wieder in Ordnung bringt. Keiner dieser naseweisen Kritiker schaltet den PC aus, kloppt das Smartphone in die Tonne und meldet den SUV ab. Die Älteren sollen es richten, dass alles weitergehen kann wie bisher, aber bitte nicht auf Kosten der jungen Generation.
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