Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 02.10.2012, 10:53   #1
weiblich ShamanDaughter
 
Benutzerbild von ShamanDaughter
 
Dabei seit: 08/2012
Alter: 44
Beiträge: 42


Standard Kurzgeschichte: Der violette Raum

Der violette Raum

Ein Blick in den Himmel, lagunenblau und silbern leuchtend, und die Sonne strahlte, wie am schönsten Frühsommertag. Trotzdem hing er voller unsichtbarer Wolken. „Spürst du sie denn nicht, die Wolken?“, fragte sie mit ihrem tiefen dunklen Blick.
Er liebte ihre Augen. So tiefblau und klar, und doch so undurchsichtig und unergründlich wie der Nebel an einem Novembertag um fünf Uhr früh auf dem Feldweg ins Nachbardorf.
Manchmal konnte er sie einfach nicht verstehen, geschweige denn ihren Gedanken folgen, wenn sie mal wieder wirres Zeug zu reden schien.
„Ich fühle es, da MUSS etwas passiert sein!“
Er verstand es einfach nicht. Oder wollte er es womöglich gar nicht verstehen? Er versteckte sich lieber hinter seiner rosaroten Brille und tapste blind durch Leben ohne zu merken, was ihm entgeht.
Während sie Hand in Hand weiter zum Bahnhof gingen, wurde sie zunehmend unruhiger.
„Die S-Bahn auf Gleis 10, Abfahrt 14:30 Uhr, wird voraussichtlich 30 Minuten später eintreffen. Wir bitten um ihr Verständnis!“ Na toll, großartig, noch eine weitere halbe Stunde nichtstuend verplempern, nicht handeln, nicht helfen können.
Was mag wohl diesmal der Grund sein? Selbstmörder? Warnstreik? Baustelle? Technischer Defekt? Immer mal was Neues, vielleicht hat auch einfach die Ablösung verschlafen, wer weiß es schon?
Etwas anderes hingegen wusste sie ziemlich sicher: Ihr Bauchgefühl hatte sie noch nie getäuscht. Okay, fast nie.
Dieses eine Mal vor Jahren, als sie für ihre beste Freundin einen Mädelsabend mit Heulfilmen, Schokolade und Chips organisiert hatte, auf den Verdacht hin, dass deren Beziehung die vorigen Tage nicht überleben würde, würde sie am liebsten ganz schnell wieder vergessen. Gefühl hin oder her, Anderen davon zu erzählen, war meist der falsche Weg.

Da endlich kam der erwartete Zug. Sie gab ihm zum Abschied einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ging geradewegs ohne zu zögern auf die Zugtür los. Für mehr war keine Zeit und irgendwie auch keine Gefühle.
Alles war irgendwie komisch. Sie war komisch. Zumindest glaubte sie es von Zeit zu Zeit.

Irgendwann hatte sie sich damit abgefunden, die „Verrückte“ zu sein, und mittlerweile hatte das sogar Vorteile. Sie musste sich für nichts mehr rechtfertigen und konnte tun und sagen, was sie wollte. Einen Ruf zu verlieren gab es schließlich nicht mehr.
Sie ließ sich auf einen Fenstersitz fallen, lehnte den Kopf gegen die Scheibe und schlief trotz der brennenden Sonnenstrahlen sofort ein. Jetzt wach zu bleiben würde sie wahnsinnig machen. Alleine mit ihrem schlimmen Verdacht…
Zum Glück war die Nacht kurz genug gewesen, um jetzt müde sein zu können.
Ein Haufen Stress und zu wenig Schlaf, um in seine Kraft zurückzukehren und Gedanken zu sortieren.
Das holte sie jetzt wohl nach, denn ein Traum überrumpelte sie…
Aus blauem Nebel heraus fingen langsam die bunten Punkte an zu tanzen, bildeten Wolken und ihren Lieblingsozean. Da, wo sie atmen konnte. Außerhalb hatte sie immer das Gefühl, ohne Wasser auszutrocknen. Doch schon bald verformte sich das Traumbild und graue Fratzen erschienen. Und nach und nach entstand das ganze grausige Bild…
Irgendwann fing einer dieser Typen an, Lovesong von The Cure zu singen. Welchen abartigen Humor diese Wesen doch hatten. Das war IHR Lied! Ihr ureigener Lovesong an sich selbst. Sie wollte gerade zu schreien anfangen, als sie bemerkte, dass der Traum längst vorbei war. Sie war wach und hörte das Klingeln ihres Handys. Ein kurzer Blick auf den Display verriet ihr Nummer unterdrückt.
„Ja?“, fragte sie verschlafen und mit zittriger Stimme, die wohl eher ihrer schrecklichen Ahnung zuzuschreiben war, als ihrer Müdigkeit.
„Süße, wollt nur mal hören, ob du schon angekommen bist. Du warst so komisch heute Morgen…“. Es war Lillian, ihre Mitbewohnerin und beste Freundin. Sie und ihre Schwester Ariane, zu der sie gerade unterwegs war, waren die einzigen Menschen, die ihr komplettes Leben kannten und sie in ihrem vollen Ausmaß ertragen konnten und wollten.
„Ne, ich sitz noch in der Bahn. Wir hatten eine halbe Stunde Verspätung. Ich hab ein schreckliches Gefühl…ich weiß auch nicht, mir ist schon ganz schlecht vor Angst. Naja, und Michael wollte mich halt noch unbedingt sehen vor dem Urlaub
–falls es einer wird-. Ich weiß nicht, es geht irgendwie nicht mehr mit uns. Ich kann’s nicht mehr. Zeiten ändern sich, und Menschen auch“.
„Hey“, sagte Lillian dann nur, „mach dir keinen Kopf. Alles wird gut. Krieg du erstmal den Kopf klar von dem ganzen Stress hier mit deinem Laden. Und bestell Ariane liebe Grüße, ja?“
„Na klar. Tschau!“

Als sie dann endlich in Arianes Kaff ankam, war es schon 17:30 Uhr. Um 17 Uhr waren sie verabredet, aber sie konnte immer noch keinen erreichen. Ihr Gefühl ging so weit, dass sie glaubte, sich übergeben zu müssen. So sehr drückte etwas auf ihren Magen. Sie wollte nicht dran denken.
Kann ich nicht EINMAL Unrecht haben?

Plötzlich vernahm sie einen leichten Windhauch an ihrer rechten Schulter. Wie als würde jemand ihr eine Hand auf die Schulter legen, zur Beruhigung, um zu sagen Alles wird gut.
Und dann war dieser Satz in ihrem Kopf. Wie aus dem Nichts war da dieser Gedanke, den sie nicht selbst gedacht hatte: Such nicht nach mir. Du musst leben!

Sie kam ins straucheln. Dass sie etwas anders war, mehr fühlte, anders dachte und irgendwie klarer im Kopf und im Herzen über Dinge hinausschaute, war ihr ja bewusst und sie wollte mittlerweile ihr Leben auch gar nicht mehr anders erleben, aber das überrumpelte sie jetzt doch.
Einen Menschen auf Entfernung zu spüren, dass es ihm nicht gut geht war eine Sache, seine Stimme zu hören und seine Berührung zu fühlen jedoch eine andere.
Jetzt wurde sie wieder ruhiger, atmete ganz langsam und bewusst mehrere Male und stellte sich die große Weite ihres inneren Raumes vor, der heute irgendwie eine violette Färbung hatte. Hier fand sie schon so manches Mal eine Antwort.

Und irgendetwas schrie in ihr, nicht auf Arianes Worte in ihrem Kopf zu hören. Plötzlich ging alles sehr schnell. War Intuition nicht bloß Denken in Rekordzeit von tief innen geleitet? Egal jetzt, sie wusste dass sie zu Arianes Büro musste… wenn es noch nicht zu spät war. Ihr Beschützerinstinkt der kleinen Schwester gegenüber in allen Ehren, aber wieso verschwieg sie ihr ihre großen Schmerzen und warum spürte sie erst jetzt die Familienbande so unglaublich stark?
Sie litt fast mit und spürte den eiskalten Wind, der Ariane gerade ins Gesicht zu wehen schien.
Du darfst nicht sterben! Für das ganze Ertragen die Jahre über wollte ich dir immer etwas zurückgeben. Jetzt lass es verdammt noch mal endlich dazu kommen!

Keuchend erreichte sie das Bürogebäude. Es war so hoch, dass sie nicht erkennen konnte, ob das Fenster von Arianes Büro offen stand oder nicht. Im Fahrstuhl angekommen drückte sie den Knopf mit der Aufschrift 23 und bekam einen mächtigen Hustenanfall. Sie schluckte ihn krampfhaft herunter und sprintete aus dem Aufzug, der gerade oben ankam.
Das Büro war abgeschlossen. Wild hämmerte gegen die Tür. „Ariane“, schrie sie, „Ich brauch deine Hilfe! Mach schnell auf“.
Einen kurzen Moment herrschte grausame Stille.
Dann klackte vorsichtig der Schlüssel im Schloss.
Die Tür ging auf und eine wandelnde Leiche blickte ihr mit müden leeren Augen entgegen.
Sie schloss ihre Schwester in die Arme. Das Pochen ihres Herzens kam als Echo von Arianes zurück. Sie schlugen mit derselben Resonanz, die sie sich gegenseitig gaben.
Endlich.

Geändert von ShamanDaughter (02.10.2012 um 11:40 Uhr) Grund: zwei kleine Fehler editiert
ShamanDaughter ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.10.2012, 11:29   #2
weiblich simbaladung
 
Dabei seit: 07/2012
Alter: 67
Beiträge: 3.073


Hallo, ShamanDaughter,

eine spannende, interessante Geschichte hast du da geschrieben, die mir gut gefällt. (Es haben sich ein paar Fehler eingeschlichen, aber darum geht´s mir jetzt nicht.)
Deine Protagonistin ist eine spannende, besondere Frau, die mir sehr sympathisch ist. Es gelingt dir gut, sie in der Kürze einer kleinen Geschichte dem Leser ganz nah zu bringen und Spannung aufzubauen. Mir hat besonders gefallen, wie sie ihre "Besonderheit " akzeptiert und damit umgeht.

lg simba
simbaladung ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.10.2012, 11:43   #3
weiblich ShamanDaughter
 
Benutzerbild von ShamanDaughter
 
Dabei seit: 08/2012
Alter: 44
Beiträge: 42


Danke für deinen Kommentar, liebe Simba.
Zwei von den Fehlern sind mir gerade sogar sofort ins Auge gesprungen .
Seltsam, bei eigenen Texten verstecken sie sich manchmal ganz schön. Bei fremden fällt mir sowas auch immer sofort auf...

Liebe Grüße ♥
ShamanDaughter ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.10.2012, 17:45   #4
männlich Pit Bull
 
Benutzerbild von Pit Bull
 
Dabei seit: 08/2012
Ort: Berlin
Beiträge: 1.878


Hallo ShamanDaughter!

Auch ich fand Deine Geschichte sehr spannend.

Sind Ariane und die Protagonistin ggf. Zwillingsschwestern?

Es gibt die (esoterische) Theorie, dass eineiige Zwillinge angeblich spüren können, wenn es der Schwester / dem Bruder schlecht geht.

Was mich an der Story stört ist, dass die Protagonistin keinen Namen hat – sie bleibt mir als Leser dadurch persönlich unnahbar.

VG Pitti
Pit Bull ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Kurzgeschichte: Der violette Raum



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
der violette Mond Mittelpunkt Düstere Welten und Abgründiges 10 24.10.2010 16:07
Der letzte Raum gummibaum Geschichten, Märchen und Legenden 6 15.04.2010 10:58
Punkt im Raum Volaticus Lebensalltag, Natur und Universum 0 29.08.2008 11:12
Frage im Raum SilentRoom Liebe, Romantik und Leidenschaft 3 26.08.2008 00:07
leerer Raum KleinePhia Theorie und Dichterlatein 0 27.09.2005 14:40


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.