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Alt 13.09.2012, 20:43   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Vier Winter

Wir frästen Straßen in das Eis,
peitschten die Pferde bis zum Sterben,
führten die nächsten ins Verderben,
und fraßen unter Staates Geheiß
und unter Tränen ihr edles Fleisch.

„Herr Doktor, wo ist das Morphin?“
„Warm ruht’s in meiner Achselhöhle,
flüssig zu bleiben gleich dem Öle,
doch sind die Venen längst dahin,
und schwarz vor Kälte ist alles Fleisch.“

„Was tust Du, Bruder Kamerad?
Nimm nicht die Stiefel von den Füßen,
sieh, wie die anderen es büßen!-
An deinen Zehen zähle den Grad:
Wie lang noch währet dein Blut und Fleisch.“

„Nicht zimperlich, so nimm es dir!
Sind erst mal Leib und Eis verbunden,
hätt‘ er umsonst sich wundgeschunden.
Vergiß nur nicht: ‚Ich danke dir‘.“
„Der lebt doch noch!“ – „Denk an dein Fleisch!“

Allmählich ging der Baumstand aus.
Also: Wir bauten neue Straßen
mit den Toten, die wir besaßen,
und hörten die Reifen mit Graus
wie sie Knochen brachen, nackt von Fleisch.

Soldaten zogen über Land,
sie suchten nach gebrannten Stätten,
weil dort das Land war weich wie Betten,
und wer den Wahnsinn überstand, ....

dem sei gereicht sein Himmelsreich ...

... oder auch der Himmelsrand.

13. September 2012
by Ilka-Maria
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Alt 13.09.2012, 20:46   #2
Thing
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Grausig gut.
Mehr gibts nicht zu sagen.
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Alt 14.09.2012, 11:39   #3
weiblich Ilka-Maria
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Danke, Thing. Es ist die Adaption eines Prosatextes von Colum McCann. Dort geht es noch grauenvoller zu. Aber diese Auswahl hier hat mir schon gereicht.

Beste Grüße
Ilka
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Alt 14.09.2012, 16:18   #4
weiblich Ilka-Maria
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Standard Vier Winter (1941 - 1945)

Ich habe die letzten beiden Strophen überarbeitet, weil ich schon gestern nicht damit zufrieden war:

Vier Winter (1941 - 1945)

Wir frästen Straßen in das Eis,
peitschten die Pferde bis zum Sterben,
führten die nächsten ins Verderben,
und fraßen unter Staates Geheiß
und unter Tränen ihr edles Fleisch.

„Herr Doktor, wo ist das Morphin?“
„Warm ruht’s in meiner Achselhöhle,
flüssig zu bleiben gleich dem Öle,
doch sind die Venen längst dahin,
und schwarz vor Kälte ist alles Fleisch.“

„Was tust Du, Bruder Kamerad?
Nimm nicht die Stiefel von den Füßen,
sieh, wie die anderen es büßen!-
An deinen Zehen zähle den Grad:
Wie lang noch währet dein Blut und Fleisch.“

„Nicht zimperlich, so nimm es dir!
Sind erst mal Leib und Eis verbunden,
hätt‘ er umsonst sich wundgeschunden.
Vergiß nur nicht: ‚Ich danke dir‘.“
„Der lebt doch noch!“ – „Denk an dein Fleisch!“

Allmählich ging der Baumstand aus.
Also legten wir neue Straßen
mit den Toten, die wir besaßen,
und hörten die Reifen mit Graus
die Knochen brechen in nacktem Fleisch.

Soldaten zogen über Land,
sie suchten nach gebrannten Stätten,
weil dort das Land war weich wie Betten.
Und wer den Wahnsinn überstand,
der kannte fortan sein Himmelsreich.

13./14. September 2012
by Ilka-Maria
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Alt 26.09.2012, 20:52   #5
gummibaum
 
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Beiträge: 10.909

Hallo Ilka,

ich kam in letzter Zeit wenig zum Lesen und habe auch dies sehr gute Gedicht bisher übersehen. Die Dialoge sind gut gesetzt. Die Nähe zur Prosa tut dem Gedicht über dieses harte Thema gut.

LG gummibaum
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Alt 26.09.2012, 21:29   #6
weiblich Lux
 
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Beiträge: 839

Oh, Ilka, das ist so übel.
Mir ist übel.
Aber dein Gedicht, das ist sehr, sehr gut!
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Alt 27.09.2012, 07:07   #7
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.122

Danke für die Rückmeldungen

Das Gedicht ließe sich erweitern, denn es schildert nur einen geringen Teil des Grauens, den vier Jahre Krieg vor allem in den Wintern für die russischen Soldaten bedeutete. Aber das wäre für den Leser wahrscheinlich unerträglich.

LG
Ilka
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