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Alt 05.01.2012, 21:57   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Eine Begegnung

Sechs und ein paar Zerquetschte, als ich endlich aus dem Büro rauskomme. Gottseidank läuft die S-Bahn pünktlich an der Konstabler Wache ein – keine Selbstverständlichkeit in Frankfurt. Von der „Konsti“ nach Mühlheim sind es nur sechzehn Minuten, dann noch knapp fünf Minuten Fußweg nach Hause – Feierabend!

In Mühlheim angekommen, warte ich auf dem Bahndamm eine kurze Weile ab, bis der größte Teil der ausgestiegenen Masse sich verflüchtigt hat, dann gehe ich langsam zur Treppe, die nach unten führt. Da kommt mir eine schmächtige, alte Frau entgegen, in der linken Hand eine Einkaufsrolltasche, die rechte Hand am eisernen Gitterschutz des Treppenschachts, um sich daran festzuhalten. Im Vorbeigehen bemerke ich, daß sie auffällig langsam und unsicher läuft, gerade so, als könne sie den nächsten Schritt nicht mehr schaffen.

Am Treppenabsatz schaue ich mich noch mal nach ihr um. Die Frau hat das Ende des Eisengitters erreicht und steuert greifend auf das Gerüst zu, das die Sitzplätze für wartende Reisende umgibt. Ihr Verhalten beunruhigt mich. Ich gehe ihr nach, parallel mit einem jungen Mann, der ebenfalls auf die Frau aufmerksam geworden ist. „Kann ich Ihnen helfen,“ fragt er sie, aber da packe ich sie schon am rechten Arm und sage: „Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“ Den jungen Ritter entlasse ich mit einem „vielen Dank“ aus seiner sozialen Verantwortung, dann frage ich die Frau: „Wollen Sie zum Aufzug?“ Eine törichte Frage, lediglich gestellt, um zu zeigen, daß ich um ihre Absicht weiß.

Am Aufzug angekommen, drücke ich die Hol-mich-Taste. „Mal sehen, ob der funktioniert.“ „Der schon,“ sagt die Frau, „aber der andere dort drüben, der ist kaputt.“ Sie hat recht. Also müssen wir die Treppe hinauf. „Ich habe Schmerzen in der Hüfte, seit ein paar Wochen schon.“ „Langsam,“ sage ich zu ihr, „geben Sie mir ihren Rollwagen, dann können Sie sich am Geländer festhalten.“

Der zweite Treppenabsatz ist kürzer als der erste, es geht besser als gedacht. „Danke, ich schaffe das jetzt.“ sagt die Frau auf dem Vorplatz der S-Bahn, auf dem noch das alte Gebäude der Deutschen Bundesbahn steht und die Busse ihre Endstation haben. „Ich muß jetzt nur noch dort hinunter, dann dort vorne um die Ecke, nochmal um die Ecke, und dann bin ich zu Hause.“

„Dort hinunter? Wieder eine Treppe? Da komme ich noch mit,“ sage ich zu ihr, packe sie wieder am Arm und weiter geht es unter Ächzen und Stöhnen. Unten angekommen, kann ich sie aber nicht einfach alleine lassen, zu beschwerlich scheint ihr der Weg zu sein. „Ich gehe jetzt noch die paar Schritte mit, damit ich weiß, daß Sie sicher zu Hause ankommen.“ „Aber Sie haben doch bestimmt gar nicht soviel Zeit.“ „Ich habe soviel Zeit, wie ich will – also auf geht’s.“

„Darf ich mich aber bei Ihnen einhaken? Wenn Sie mich am Arm nehmen, tut mir das weh.“ „Klar, ganz wie Sie wollen.“

Wir krempern los, anders kann man es nicht nennen. Ich frage, die Frau, ob sie denn schon beim Arzt war wegen der Schmerzen. Und da wird sie redselig: Ja, aber man schicke sie von einem zum anderen, keiner fühle sich zuständig.

„Das kenne ich von meiner Mutter,“ sage ich, „die ist zweiundachtzig und erlebt das gleiche. Zum Glück kann sie noch für sich selbst sorgen, aber bei ihr machen die Knochen auch nicht mehr alles mit.“

„Zweiundachtzig, das ist ein ordentliches Alter. - Ich kenne meine Mutter gar nicht, ich wurde adoptiert. Meine Mutter starb mit achtundzwanzig, sie war krank. Mein Vater, den ich auch nicht kannte, wollte mich nicht nehmen und gab mich zur Adoption frei. Da kam ich zu alten Leuten, bei denen durfte ich keinen Muks machen, sonst hätten sie mich rausgeschmissen. Das war in Ober-Schlesien. Mit achtzehn habe ich geheiratet und kam nach Bayern. Das war vom Regen in die Traufe. Ich wußte erst nicht, daß mein Mann ein Alkoholiker war. Dann dachte ich, das kann ich schaffen, wir waren jung und naiv. Ich glaubte alles, was man mir erzählte. Nach vierzehn Jahren ließ ich mich dann scheiden.“

Inzwischen sind war in einer Straße angekommen, in der Bauarbeiten vor dem Abschluß stehen. Überall liegt Schotter. Wir haben Mühe, die Einkaufsrolltasche über diese Unebenheiten zu bringen, ich muß sie streckenweise tragen.

„Dann habe ich meinen zweiten Mann kennengelernt, das war in München. Da fing mein Leben erst richtig an. Es gab nichts, was er nicht für mich getan hätte und ich für ihn.“

„Aber das sind Sie doch für manches entschädigt worden,“ warf ich tröstend ein.

„Ja – aber die verlorenen Jahre ...“

Sie hat während der Unterhaltung ihre Schmerzen völlig vergessen.
„Nachdem mein Mann vor vier Jahren verstorben ist, habe ich keine Hilfe mehr. Ich habe gesucht, und ich würde auch gut bezahlen – aber ich finde niemanden.“

„Haben Sie schon mal bei der Gemeinde angefragt? Oder beim Pfarrer?“
„Ach, der Pfarrer! Ich wußte doch gar nicht, daß der Geld haben will. Was der meinem Mann eine schlechte Grabrede gehalten hat!“

„Verstehe ich nicht. Als mein Vater starb, hat der Pfarrer die Rede gehalten und danach seine Rechnung geschickt.“

„Das hätte mein Pfarrer ja auch machen können, einfach eine Rechnung schicken, die hätte ich ja bezahlt. Aber ich wußte es doch nicht!“

Wir sind angekommen. „Hier wohne ich. Vielen Dank, und besuchen Sie mich doch mal.“

Das werde ich.

Mit meinem jugendlichen Schritt schaffe ich es von hier zu mir nach Hause in maximal fünfzehn Minuten. Aber was sind schon fünfzehn oder fünfundzwanzig Minuten? Ich habe mich mit meinen einundsechzig Jahren und einer „verlorenen“ halben Stunde nie besser gefühlt als heute.

Es geht mir richtig gut!

Und am Wochenende werde ich der alten Dame meine Telefonnumner in den Briefkasten werfen.

© Ilka-M., 5. Januar 2012
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Alt 05.01.2012, 22:10   #2
Thing
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Halli Hallo, Ilka-Maria -


doll. Das rutscht gerade so runter, süffig geschrieben und mit einem sehr edlen Inhalt! Aber der letzte Satz -
doch kein Besuch?
Aber telefonieren ist ja auch eine persönliche Begegnung..

Ich habe 2 Tippfehlerchen entdeckt.

LG
Thing
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Alt 05.01.2012, 22:17   #3
weiblich Ex-WUI
 
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Hallo liebe Ilka

Eine schöne Geschichte.
Gern gelesen.

Zitat:
Aber was sind schon fünfzehn oder fünfundzwanzig Minuten?
Ich habe mich mit meinen einundsechzig Jahren und einer „verlorenen“ halben Stunde nie besser gefühlt als heute.
Die Zeit die man nutzt um anderen eine Hilfe zu sein, ist gut angelegte Zeit.
Sie zahlt sich durch Freude wieder aus.

Ich mags.

Liebe Grüße
Die Irre
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Alt 05.01.2012, 22:27   #4
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Thing Beitrag anzeigen
Ich habe 2 Tippfehlerchen entdeckt.
Thing
Ich bitte um konkrete Hinweise, denn beim fünftenmal Lesen sieht man die Fehler nicht mehr.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.01.2012, 22:31   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von WeiblichUndIrre Beitrag anzeigen
Die Zeit die man nutzt um anderen eine Hilfe zu sein, ist gut angelegte Zeit.
Sie zahlt sich durch Freude wieder aus.
Ich echt. Nicht ausgedacht. Mir heute so über den Weg gelaufen.

Jeder Satz, jedes Wort ...

Ich habe mich nur einfach gleich daheim an den PC gesetzt und es aufgeschrieben ...

... das Leben ...

bevor ich's vergeß.

LG
Ilka
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Alt 05.01.2012, 22:33   #6
Thing
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Zeile drei (Minuten) und irgendwo im Text ein Trennstrich, der sicher ins Konzept gehörte, aber hierher nicht.

LG!
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.01.2012, 22:45   #7
weiblich Ilka-Maria
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Korrigiert.

Diese Frau hat bestimmt noch viel Intererssantes zu berichten. Da klang so manches an.

Meine gute Erfahrung ist, daß sie meine Hilfe angenommen und sich von selbst geöffnet hat. Ich wollte nur helfen, aber sie hat mir einen Teil ihres Lebens anvertraut.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.01.2012, 22:51   #8
Thing
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Bei D i r kann ich mir das lebhaft vorstellen!
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Alt 05.01.2012, 23:00   #9
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Thing Beitrag anzeigen
der letzt Satz -
doch kein Besuch?
Aber telefonieren ist ja auch eine persönliche Begegnung..
Falsch verstanden. Doch Besuch. Vorgemerkt.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.01.2012, 23:04   #10
weiblich Ex-WUI
 
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Wenn die Erzählung wahr ist, ist dein Text nur umso schöner
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Alt 06.01.2012, 01:41   #11
männlich Ex-Peace
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Ein wunderschöner Text. Beim Lesen war mir fast so, als liefe ich gemeinsam mit euch mit. Ganz toll geschrieben! Super, dass du der alten Dame geholfen hast und sie bis nach Hause begleitet hast. Ich finde es wichtig, dass die Menschen aufeinander aufpassen. Und eure Unterhaltung war für dich bestimmt auch schön und interessant.

Begegnungen sind etwas sehr Kostbares und sie verändern uns.

Liebe Grüße
Peace
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Alt 06.01.2012, 07:43   #12
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von WeiblichUndIrre Beitrag anzeigen
Wenn die Erzählung wahr ist, ist dein Text nur umso schöner
Ist wahr.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.01.2012, 10:34   #13
männlich Nöck
 
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Alle Achtung, nicht jeder hätte sich so viel Zeit genommen.
Deine "Geschichte" ist gut erzählt, auch ich fühlte mich die ganze Zeit dabei.

LG
Nöck
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Alt 06.01.2012, 10:47   #14
Thing
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#9:

Da ich Dich gut zu kennen glaube, wundert mich das gar nicht.
Mich wundert nur, daß Du hier so oft falsch eingeschätzt und beurteilt wirst.
(streng, oberlehrerhaft, starrsinnig, kühl, unnahbar, besserwisserisch und was derlei Adjektive mehr sind)

LG!
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Alt 06.01.2012, 11:47   #15
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Thing Beitrag anzeigen
#9:

Da ich Dich gut zu kennen glaube, wundert mich das gar nicht.
Mich wundert nur, daß Du hier so oft falsch eingeschätzt und beurteilt wirst.
(streng, oberlehrerhaft, starrsinnig, kühl, unnahbar, besserwisserisch und was derlei Adjektive mehr sind)

LG!
Das eine schließt das andere ja nicht aus.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.01.2012, 12:43   #16
Thing
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Oha!
Muß mir bange werden?
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