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Alt 16.12.2010, 18:50   #1
Jost
 
Dabei seit: 10/2007
Beiträge: 7


Standard Geschichten aus der Platte

Geschichten aus der Platte



2 kurze Anekdoten aus dem Leben eines Plattenbaukindes in der DDR

dokumentiert von Jost Friedrich Knapp


Teil 1


Der Traktorreifen

Es war ein trüber Herbstanfang. Der Wind blies kalt um die Ecken und selbst die sonst so ausgelassen lärmenden Spatzen verkrochen sich in ihren Nestern und kuschelten sich eng aneinander. Die Dämmerung hatte gerade mit der Arbeit begonnen, als sich eine kleine Gruppe den Weg aus dem schützenden Wohngebiet in die Randbegrünung bahnte. Sie machten sich an die Besteigung eines kleinen Hügels, der tapfer versuchte wenigstens ein bisschen majestätisch neben den im Schnellbauverfahren hochgezogenen Betonburgen zu wirken. Vorneweg liefen die Kinder, gefolgt von den Frauen in herrlichster 80er-Mode und -Frisur und den Schluss der Prozession bildeten die Männer unseres Blocks die einen riesigen Reifen vor sich her rollten. Dieser von sorglosen Menschen am Straßenrand zurückgelassene Traktorreifen hatte die Phantasie der Hausgemeinschaft beflügelt und sollte nun den Rest seiner Tage als Sandkasten für die lieben Kleinen auf der Hügelspitze platziert werden. Die Hälfte des Weges hatten sie hinter sich gebracht, als den Kindern die Idee kam, ihre müden Väter zu entlasten und das Fortbewegen des Sandkastens in spe zu übernehmen. Die hilfsbereiten Racker langten beherzt zu, unterschätzten aber leider das Gewicht des kolossalen Spielgerätes und so kam die Geschichte ins Rollen. Es war ein großes Bild.
Von einem unglaublichen Freiheitsgefühl beseelt bewegte sich der Reifen erst langsam und dann immer schneller den Abhang herab und die AG „Spielplatzbau“ stand mit offenen Mündern und starrte auf das sich mit großen Schritten unserem Wohnblock am Fuße des Hanges nähernde Unglück.

An dieser Stelle muss ich kurz erwähnen, dass das Ende des Bergchens ein bisschen wie ein Schanzentisch aussah und man dort stehend einen super Blick in die Wohnungen der ersten Etage unseres Blockes hatte.

Aber schnell zurück zum Riesenreifen. Der wildgewordene Sandkastenersatz nährte sich mit einem Affenzahn dem „Schanzentisch“ und die Kinder, Frauen und Männer begannen schreiend ein kollektives Wegdrehen und Augenbedecken.

Zur gleichen Zeit in einer gemütlichen 2,5-Raumwohnung in der ersten Etage unseres Hauses: Das Ehepaar Freitag sitzt gerade selig bei einem Gläschen Spreewalder Gurken vor dem Flimmerkasten und verfolgt mit der gebotenen Anteilnahme die Aktuelle Kamera.

Da passiert es! Der Monsterreifen verlässt mit einem 1A-Absprung die Hügelkante, fliegt kurz durch die Luft, prallt gegen die Balkontür der Freitags, durchbricht sie mit einem ungeheuren Krachen und Splittern, rollt quer durch Stube, vorbei an den erstarrten Gesichtern der Mieter und kommt dann im Schlafzimmertürrahmen endlich zum Stehen.
Bis Herbstende hatte die Hausgemeinschaft die Wohnung wieder in Schuss. Unseren neuen Sandkasten aber brachte leider niemand mehr ins Gespräch. Schade eigentlich!

Teil 2

Weißflug für Arme

Circa drei Monate später – es war mittlerweile herrlichster Winter – beschloss ich eine Trainingseinheit Abfahrtsski auf dem „Unglückshügel“, wie er nun genannt wurde. Die Bedingungen waren erstklassig. Naja, bis auf eine kleine, stark vereiste Stelle am unteren Ende des Bergchens. Aber ich war ja kein Anfänger und kannte meine Piste. Ich bereitete mich gerade auf meine erste Abfahrt vor, da kam Lutz, der arrogante, alles könnende und alles wissende Nachbarsjunge von schräg über uns mit seiner neuen und schweineteuren Westskiausrüstung den Hang herauf. Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und rief: „Na Du Null!?! Soll ich Dir mal zeigen, wie man ordentlich so einen Kinderhügel runter brettert?“ Ich spürte, wie meine Körpertemperatur um einige Grad anstieg, verzichtete aber auf eine angemessen dumme Bemerkung. Nachdem Lutz mühsam, aber betont gelassen, den Kinderhügel erklommen hatte, schubste er mich in den Schnee und knurrte: „Jetzt kannst Du mal den Unterschied zwischen einem geölten Blitz und ner bleiernen Ente sehen.“ Er stieß sich mit seinen Deluxe-Stöcken ab und schon ging’s los.
Langsam rutschte mein ungewollter Sportsfreund auf dem festen Schnee abwärts, gewann dann aber zusehends an Geschwindigkeit. Ich musste plötzlich an den schönen großen Traktorreifen denken und wie dessen Fahrt im letzten Herbst geendet hatte. „Wie bremst man denn mit den Dingern?“, riss mich Lutz aus meinen Gedanken. „Ich kann nicht anhalten!“ Eine gewisse Schadenfreude konnte ich mir nicht verkneifen, als ich ihn dabei beobachtete, wie er raketengleich den Hügel hinunterschoss und dabei ein selten dämliches Gesicht machte. Der Schanzentisch kam immer näher und Lutz avancierte zum Ski-Artisten. Er hob die Stöcke hoch in die Luft und fuhr stellenweise sogar nur auf einem Ski, während er das andere Bein als eine Art Bremse neben und hinter sich herzog. Vom Mitleid gepackt riet ich ihm brüllenderweise am Hügelende einen Haken zu schlagen und sich zur Seite zu legen, um die Kurve zu kriegen. Da war es auch schon zu spät.
Mein „Lieblingsnachbar“ verließ – tierähnliche Laute von sich gebend – den Unglückshügel, flog kurz durch die Luft und beendete seine kurze Skisprungkarriere mit einem Aufprall am Balkon der Freitags. Das leidgeprüfte Ehepaar war zum Glück nicht anwesend und da außer Lutz und seiner tollen Ski-Ausrüstung nichts zu Bruch ging, blieb ihnen ein weiterer Schock erspart. Nach diesem Vorfall wurde von unserer Hausgemeinschaft erst ein Schild und dann im Frühling ein Hecke gepflanzt, die zukünftige Angriffe auf den Block und die Freitags unterbinden sollte.
Dies gelang auch ein ganzes Jahr. Allerdings im nächsten Winter wurde die noch schwache Hecke aufgrund verstärkter Rodelaktivitäten seitens des Wohngebietsnachwuchses dem Erdboden gleichgemacht. Seitdem hatte niemand mehr Lust, Hand an den Hügel zu legen und die Freitags werfen heute noch so manch ängstlichen Blick nach draußen.
Ach so! Der schöne große Traktorreifen wurde übrigens vom Sperrmülltrupp abgeholt. Schade eigentlich!
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