Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 02.05.2012, 21:02   #1
männlich nurdean
 
Benutzerbild von nurdean
 
Dabei seit: 02/2011
Ort: Thurgau, Schweiz
Alter: 32
Beiträge: 163


Standard Die grosse Wanderschaft

Eines warmen Frühlingsmorgens, die Sonne war bereits aufgegangen, erwachte der Junge aus einem Tiefen, traumlosen Schlaf. Durch das leicht geöffnete Fenster hörte er die Vögel singen, Bienen und Wespen summten geschäftig vor sich hin und irgendwo in der Ferne krähte ein Hahn.
"Was für ein wunderschöner Tag", dachte der Junge, gähnte einmal herzhaft und stellte sich ans Fenster. Wie er die wärmenden Sonnenstrahlen auf seiner Stirn spürte und die Bäumchen und Sträucher im Garten beobachtete, wie sie in einer leichten Brise hin und herwackelten, fasste der Junge einen Entschluss: Er würde heute nicht zur Schule gehen. Schliesslich war heute ein viel zu wundervoller Tag, um in einem dunklen und stickigen Zimmer Mathematik und Französisch zu büffeln. Nein, heute war der Tag gekommen, an dem er sich auf die grosse Wanderschaft begeben würde, so wie er es schon seit einigen Wochen geplant hatte.
Der Junge schloss das Fenster, schlich zur Zimmertür hinaus und warf einen Blick zum Parkplatz hinüber. Zufrieden stellte er fest, dass seine Eltern bereits fortgefahren waren. Seine Abwesenheit würde ihnen erst abends auffallen, wenn sie müde und ausgelaugt von der Arbeit heimkehrten. "Dann wird es keinen Streit mehr geben", dachte er, entschied sich aber sofort, seine Gedanken wieder auf etwas positiveres zu lenken.
Der Junge ging hinauf in die Küche und bereitete sich ein festliches Frühstück zu, das er dann zu verspeisen begann. Wie er in die dritte Scheibe Brot biss, die er ordentlich mit Honig bestrichen hatte, liess er seinen Blick ein weiteres Mal aus dem Fenster gen Süden schweifen. "Welch eine fantastische Aussicht!", dachte er. Farbenfroh erstrahlten die Wiesen und auch die Apfelbäume blühten bereits in einem zarten Weissrosa. Weit hinter den ausgedehnten Wiesenflächen und den bewaldeten Hügeln erblickte der Junge die Alpen, und dazwischen, majestätisch hervorragend, den Säntis.
Er hielt kurz inne, um ihn in Gedanken zu grüssen, dann ass er weiter. Die Sonne würde bald im Zenit stehen und er hatte doch noch einen weiten Weg vor sich.
Als er seinen Hunger und seinen Durst mit Honigbroten, Milch, Orangensaft und einem gekochten Ei gestillt hatte, verräumte der Junge das schmutzige Geschirr und begab sich wieder nach unten. Er leerte die Taschen seines Schulrucksackes und begann, jene Dinge zusammenzusuchen, die er auf seine grosse Wanderung unbedingt mitnehmen wollte: Eine Trinkflasche, die er mit Milch füllte, zwei Scheiben Brot, in Klarsichtfolie eingewickelt, ein kleines Notizbuch und einen Kugelschreiber, das Plüschschaf, das ihn, seit er es von seiner Freundin geschenkt bekommen hatte, auf jeder Wanderung begleitet hatte und sein Rasiermesser. Er packte alles in den Schulrucksack, bemerkte aber sogleich, dass dieser viel zu gross dafür war und entschied sich für seine alte Ledertasche. Er verstaute die Sachen darin und legte noch seinen Ausweis und ein Foto seiner Katze dazu.
Als der Junge alle Lichter gelöscht und seine braune Stoffjacke in die Tasche gestopft hatte, um danach seiner Katze ein letztes Mal zum Abschied über den Kopf zu streichen, zog er seine Turnschuhe an, verliess das Haus und schloss die Türe hinter sich. Er war nun auf dem Weg. Mit einem Lächeln marschierte er los, immer gen Norden, der Strasse entlang.
Als er nach einigen Minuten ein kleines Waldstück erreichte, legte der Junge eine erste Rast am linken Strassenrand ein. Er verspeiste die eine Scheibe Brot und trank dazu einige Schlucke Milch. Er begab sich dann in den Wald hinein, um nach einem Haselstrauch Ausschau zu halten. Bald hatte der Junge einen geeigneten Ast gefunden und brach diesen ab, um ihn als Wanderstab zu verwenden. Er wusste noch nicht, wie lange seine Reise dauern würde, da konnte er dies bestimt gebrauchen. Jetzt fiel dem Jungen ein, dass er seinen silbernen Armreif zuhause vergessen hatte, was ihn etwas betrübte, da es sein einziger Besitz war, der einen materiellen Wert besass. Er entschied sich aber trotzdem, nicht mehr umzukehren und ohne weiterzugehen.
Frohen Mutes stapfte der Junge wieder durch den Wald, bis er auf eine Lichtung traf. Dort legte er eine weitere Rast ein, indem er sich in die saftige Wiese legte und den Bienen und Hummeln bei der Arbeit zusah. Als der Junge sich sattgesehen hatte, richtete er sich wieder auf und erblickte in der Ferne ein kleines Dörfchen. Schon fast blendend funkelten ihm die Fensterscheiben der vielen kleinen Häuschen entgegen und erhaben stand dazwischen die Dorfkirche mit ihren farbigen Dachziegeln. Der Junge beschloss, erst einen Abstecher zu einem ihm bereits bekannten Weiher zu machen und überquerte zu diesem Zweck noch einmal die Strasse. Nachdem er am Weiher eine dritte Rast eingelegt hatte, während der er einigen Fischen bei der Nahrungssuche im seichten Gewässer zusah, bemerkte der Junge, dass schon einige Stunden vergangen waren, seit er sich auf den Weg gemacht hatte. Er begab sich deshalb zurück auf die Strasse und marschierte stetig dem glitzernden Dorf entgegen. Unterwegs wurde er von einem freundlichen Autofahrer gefragt, ob er ihn ein Stück weit mitnehmen könne. Der Junge lehnte dies aber dankend ab. Er wollte aus eigener Kraft an sein Ziel kommen.
Als er das Dorf erreicht hatte, betrachtete er die grosse Kirche von näher. Er fragte sich, ob es wohl angebracht wäre, hier einen Moment innezuhalten und sich zu besinnen. Ein Stossgebet für seine Familie und für einen guten Ausgang seiner Reise musste reichen, denn der Junge hatte noch einen langen Weg vor sich.
Er marschierte weiter durch das Dorf hindurch und wanderte auf einen Hügel zu. "Hier wird meine Reise beginnen", dachte der Junge und begann in freudiger Erregung, querfeldein darauf loszueilen. Wie er den Hügel erklimmte, stiess er auf ein Kiesweglein, dem er Folgte. Es führte ihn auf eine Kuppe, von der aus er in fast alle Richtungen eine sagenhafte Aussicht hatte: Im Norden und Nordosten der Bodensee, im Osten die kleinen Dörflein zwischen den blühenden Wiesen und im Süden, grossartiger denn je der Säntis.
An dieser Stelle blieb der Junge einige Minuten stehen und sog die Schönheit der Welt in sich auf. Es war nun schon späterer Nachmittag und er wollte sich doch heute noch auf seine grosse Reise begeben. Er ging ein weiteres Stück höher und setzte sich auf ein Bänklein am Wegesrand. Er öffnete seine Tasche, ass die zweite Brotscheibe und trank die restliche Milch, um sich für seine grosse Wanderschaft zu stärken. Es war nun Abend und die Luft war angenehm kühl. Er hüllte sich in seine wärmende Stoffjacke, schloss die Augen und atmete tief durch.
Dann öffnete er seine Augen wieder und blickte ein letztes Mal um sich. Noch ein letztes Mal sog er die magische Schönheit der Natur in sich auf. Noch ein letztes Mal liess er seinen Blick über das sanft gekräuselte Wasser des Bodensees schweifen. Dann nahm der Junge das Notizbuch und den Schreiber aus seiner Tasche und schlug die erste Seite auf. Darauf schrieb er spontan ein reimloses Gedicht nieder, welches er dann rezitierte. Es handelte von der Schönheit und Idylle der Natur.
Als er spürte, dass der Moment gekommen war, zog der Junge sein Rasiermesser aus der Tasche, entblösste seinen linken Unterarm und setzte es an.
Mit einem letzten Stossgebet, dass seine Reise gelingen möge, zog er durch und wie die Sonne unterging, war der Junge tot.
nurdean ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.05.2012, 22:07   #2
männlich Ex-Peace
abgemeldet
 
Dabei seit: 11/2011
Beiträge: 3.449


Lieber nurdean,

ich finde deine Geschichte richtig gut!
Und zwar so richtig!
Du verwendest eine tolle Sprache - mit Sinn und Liebe zum Detail.
Der Titel ist klasse. Auf das Ende kann man kommen, es ist
aber nicht zwangsläufig absehbar.
Besonders mag ich den Kontrast: der Junge, der die Welt
mit so viel Liebe betrachtet und die Natur achtet sowie das
Schöne erkennt und sich dann von alledem verabschiedet.
Den letzten Satz finde ich auch äußerst stark.

Liebe Grüße
Peace
Ex-Peace ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Die grosse Wanderschaft



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Das große W sansame Gefühlte Momente und Emotionen 1 10.04.2012 14:48
Große Vögel Sophia-Fatima Lebensalltag, Natur und Universum 0 15.05.2010 14:41
Wanderschaft Lumme Liebe, Romantik und Leidenschaft 0 25.12.2009 14:00
große liebe lyrics69 Gefühlte Momente und Emotionen 0 04.12.2008 20:31
Du Große! Arno Lebensalltag, Natur und Universum 3 05.08.2007 15:14


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.