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Alt 14.06.2007, 23:25   #1
Pia
 
Dabei seit: 04/2007
Beiträge: 10


Standard Unter einem guten Stern

Teil 1

Diese Geschichte ist meine Geschichte und auch die von vielen anderen. Eine allgegenwärtige Geschichte, auch heute noch. In meinem Falle geprägt von Zufällen, Schicksal, Vorherbestimmungen… wie man es auch nennen möchte.

Vorab einige Informationen zu mir:
Ich heiße Maayan Jahnns, Tochter des renommierten Anästhesisten Andreas Jahnns und seiner Frau Shiran Jahnns.
Geboren wurde ich am 7. März 1926.
Mein Bruder Felix ist fünf Jahre älter, meine Schwester Yasmina zehn Jahre jünger.
Meine Mutter ist Jüdin, meine Geschwister und ich demzufolge auch, denn im Judentum heißt es, dass jeder, der eine jüdische Mutter hat automatisch Jude ist.
Man kann sich sicher denken, in welcher Zeit meine Geschichte spielt.

Mein Leben verlief in geordneten Bahnen. Meine Eltern waren unpolitisch, wir waren nicht religiös. Ich wurde in dem Sinn erzogen, zu tun, was ich für richtig halte, was ich mit meinem Gewissen vereinbaren kann und gegen das zu sprechen, was mir zuwider ist.
So habe ich immer gehandelt, so werde ich auch immer handeln.
Das ist mir zum Verhängnis geworden, doch ich bereue nicht, was ich getan habe.
Um zu verstehen, wovon ich rede, beginne ich ganz von vorne.

30. Januar 1933

Wir saßen in unserer hellen, großen, mahagonifarbenen Küche, alle beisammen. Unser Haus war sonst immer belebt mit Kinderstimmen von mir und meinen Freundinnen. Ich hatte immer viele Freundinnen, war ein gern gesehener Gast auf Kindergeburtstagen. Mit Jungen hatte ich nicht viel zu tun, ich war ja auch erst sieben Jahre jung. Zwar habe ich die Freunde meines Bruders immer bewundernd angehimmelt, aber so richtig habe ich mich nie an sie herangetraut.
Doch an diesem Tag hätte man eine Feder zu Boden fallen hören können, so still war es. Nur das Radio rauschte; es war schon vor Weihnachten hingefallen, war aber nur notdürftig repariert worden.
„Bald kaufen wir ein neues Radio, nicht wahr, Andreas?“, pflegte meine Mutter immer dann zu sagen, wenn es besonders laut rauschte.
Aber nicht an jenem Tag. Mein Vater sagt immer, ihm sei schon vorher klar gewesen, dass es etwas schwieriger wird, jedoch dachte er, wir könnten normal weiter leben, immerhin war er einer der besten Anästhesisten von ganz Berlin.
Alle saßen also vor unserem Radio. Meine Mutter, mein Vater und mein Bruder. Mir wurde das verboten, ich sei noch nicht alt genug um das zu verstehen. Sie wussten nicht, dass ich lauschte, bei jeder Ansprache von Hitler. Jedes mal war ich aufs Neue fasziniert, wie er es schaffte, die Menschen so zu begeistern. Der Inhalt seiner Reden war mir recht egal. Hitler sagte immer, ein gutes deutsches Mädel habe blaue Augen und blondes Haar. Von meinen Freundinnen wurde ich immer, mein Leben lang, um eben diese beiden Dinge beneidet.
Da stand ich also, ein kleines, blondes, jüdisches Mädchen von sieben Jahren und hörte mit Freuden die Reden Hitlers.
Damals war mir nicht bewusst, welche Bedeutung dieser Tag hatte. Ich hörte mit an, wie Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, wusste aber nicht, was das heißt. Ich sah nur, wie mein Vater bei dieser Nachricht aussah. So habe ich ihn vorher nie erlebt. Er wurde kreidebleich, sackte in sich zusammen, meine Mutter fing an zu weinen, wurde von meinem Bruder getröstet.
„Warum weinst du, Mama? Es gibt doch keinen Grund, alle leben noch. Die Rede war doch auch schön.“, dachte ich bei mir. Wie gerne wäre ich zu meiner Mutter gelaufen und hätte sie in den Arm genommen, aber ich durfte doch nicht hier sein um Radio zu hören, nicht DAS im Radio hören. Ich verstand die Welt nicht mehr.
Da war nun meine Familie, hielt sich in den Armen und weinte, und ich konnte, ich durfte nicht zu ihnen, denn sonst hätten sie ja etwas gemerkt.
Auch heute ist es noch eine der schlimmsten Situation, an die ich mich erinnere, trotz dem, was noch folgen sollte.


15. September 1935

Verabschiedung der Nürnberger Gesetze.

Von diesem Tag an wurde es immer schlimmer.
Meinem Vater wurde, wie er betonte „nahe gelegt, ich solle mich doch von meiner Frau trennen, um unserem Vaterland keine Schande zu sein.“
Später habe ich erfahren, dass diese Aussage eigentlich Schwachsinn ist, denn es hieß damals, jede Ehe zwischen Juden und Ariern ist ungültig. Warum sollte mein Vater sich also scheiden lassen, wenn die Ehe doch sowieso nicht existiert?

Meine Eltern ließen sich nicht scheiden.
Vater wurde seine Praxis weggenommen.
Wir mussten alle überflüssigen Besitztümer abgeben.
Am Schlimmsten für mich war, dass ich mein schönes, sonnengelbes Fahrrad an die Deutschen geben musste.
Dieses Rad hatte mein Bruder mir gekauft, von seinem Taschengeld.

Diese Aktion war die erste, in der die Deutschen mir persönlich negativ aufgefallen sind.
Die Zweite folgte auf dem Fuß, wie man so schön sagt.

Wir schreiben mittlerweile das Jahr 1941.
Es war ein regnerischer Tag im Oktober.
Yasmina und meine Mama spielten grade Schnick-Schnack-Schnuck; die Kleine war noch ein bisschen zu jung, grade vier Jahre alt.
Ein Geländewagen stoppte vor unserem Vorgarten und zwei Männer in braunen Anzügen stiegen aus. Der eine hieß Westermann, der andere hat seinen Namen nicht genannt. Da standen also diese beiden Männer, triefendnass und fluchten über das „Mistwetter“. Ich lief zu ihnen hin, mit einem Regenschirm in der Hand, damit sie nicht noch nasser wurden, als sie ohnehin schon waren. Als ich ankam, stießen sie mich nur zur Seite, sodass ich in die Matsche fiel. „Von einem Judenbalg nehmen wir nichts!“ Mein schönes, hellblaues Kleid war ganz matschig; die Flecken sind nie mehr rausgegangen.
„Herr Jahnns, wir haben Befehl, Sie, Ihre Frau und Ihre Tochter Yasmina Jahnns aufgrund von Verstößen gegen die Nürnberger Rassengesetze zu verhaften.“ Dahin war meine Hoffnung, mein Mut, meine Zuversicht. Was wird jetzt aus meinen Eltern? Was wird aus mir? Ich verstand nicht, dass ich nicht mit durfte. Deswegen stieg ich zusammen mit Mama und Papa ins Auto. Sie sind freiwillig gegangen. Papa sagte immer: „Wenn sie uns eines Tages doch holen sollten (wovon er nicht ausging), dann gehen wir erhobenen Hauptes. Wir haben uns nichts vorzuwerfen, wir haben niemanden etwas getan, sie haben nicht das Recht, so gegen uns vorzugehen. Aber, wir geben ihnen nicht die Genugtuung und betteln und flehen und jammern, denn wir haben nichts getan!“ Und so geschah es dann ja auch. Die Männer stießen mich erneut, diesmal aus dem Auto heraus. „Du hast hier nichts zu suchen, glaub nicht, dass wir dich mitnehmen. Nein, wir lassen euch, dich und deinen Bruder, hier jämmerlich verrecken, ihr Judenbälger!“
Er konnte uns das nur zurufen, denn das Auto mit meinen Eltern und Yasmina fuhr schon davon. Yasmina spielte noch immer Schnick-Schnack-Schnuck, sie weinte nicht, lachte nur aus vollem Herzen.

Felix und ich mussten also sehen, wie wir zurecht kommen.
Felix hatte immer viel Glück. Er fand Lebensmittelkarten auf der Straße und sammelte sie ein. Davon konnten wir uns etwas zu essen holen. Ich lief immer in die Häuser von deportierten Juden und holte, was noch zu holen war. Die Deutschen hatten uns ja alles weggenommen. Durch Zufall habe ich mal in einem der leerstehenden Häuser eine alte Freundin von mir getroffen. Wir haben uns so lange unterhalten wie noch nie. Ihre Eltern und sie standen kurz vor der Deportation, aber sie wollten sich verstecken, wollten in Dänemark untertauchen. Ich weiß nicht, ob sie das geschafft haben, ich habe nichts mehr von Anni gehört, nie mehr.
Aber ich schweife ab, wollte ich doch von unserer Zeit alleine in Berlin berichten.

Es war furchtbar. Etwa zwei Wochen, nachdem unsere Eltern abgeholt worden waren, kamen weitere SS- oder SA-Männer. Ich weiß es nicht mehr so genau, habe auch den Unterschied nie wirklich verstanden.
„So, ihr kleinen Kanaken, der liebe Onkel Gerald hat euer Haus gekauft, also: RAUS HIER!“ Wir waren von einem Tag auf den anderen obdachlos, hatten kein Dach mehr über dem Kopf. Noch nicht einmal unsere Sachen konnten wir mitnehmen, dabei regnete es so sehr.
Nie zuvor hatte ich soviel Wasser gesehen. Keine Sonne am Himmel, nur Wolken, dunkle, tiefschwarze Wolken, überall.
Sie kamen in der Frühe, deswegen hatte ich nur mein Nachthemd, ein äußerst dünnes Nachthemd, an.
Ich fror wie noch nie in meinem Leben. Felix gab mir sein Schlafanzugoberteil, aber dann fror er. So konnte das ja nicht weitergehen. Wir suchten uns also erneut ein verlassenes Haus. Jeden Tag gingen wir weg von dort, es hätte uns doch jemand sehen können und wer weiß, was dann geschehen wäre!
Es ist sicherlich schwer vorstellbar, wie wir lebten, darum schildere ich zum besseren Verständnis einmal unseren Tagesablauf.
Wenn die ersten Sonnenstrahlen uns in der Nase kitzelten, wachten wir auf. Felix hatte in dem Haus, in der wir unsere Nächte verbrachten, einen Herd gefunden, der auch noch funktionstüchtig war. Wir sammelten Regenwasser in einem Kochtopf, damit wir etwas zu trinken hatten. Felix kochte es, damit nicht so viele Bakterien enthalten waren. Von der Hygiene will ich gar nicht sprechen! Wir konnten uns nicht waschen, wo auch? Wir schliefen in einer Ruine, zerbombt bei einem Angriff der Alliierten.
Über irgendwelche Krankheiten machten wir uns auch keine Gedanken, aber im Nachhinein… wenn ich überlege, was wir alles hätten bekommen können…
Nach unserem „Frühstück“ gingen wir nach draußen auf die Straße. Wir hatten immer Angst, jemand könnte uns entdecken und verraten! Also liefen wir meist mit gesenktem Kopf durch die Gegend. Der Hunger war unerträglich, die gefundenen Lebensmittelkarten halfen uns auch nicht viel. Jeder Tag glich dem vorherigen: aufstehen, Essen suchen, schlafen, immer hungrig. Es war, als hätte ich ein Loch im Bauch, das mit jedem Tag größer und größer wurde und nicht gefüllt werden konnte.
Eines Nachts, es muss Mitte Januar 1942 gewesen sein, hörten wir wieder den bekannten Fliegeralarm. Ich weiß nicht warum, aber an dem Tag kam mir alles so sinnlos vor! Ich rannte hinaus und schrie, immer und immer wieder das Gleiche: „Tötet mich! Bitte tötet mich! Es gibt keinen Grund auf dieser Welt zu bleiben!“ Dann bin ich zusammen gebrochen und habe nur noch geweint, bis ich keine Tränen mehr hatte. Keine Menschenseele hat sich um mich gekümmert, alle waren mit sich selbst beschäftigt. Ich hörte Schreie, ganz verschiedene, von Müttern, die ihre toten Kinder beweinten über Schmerzensschreie bis hin zum letzten aller Schreie, dem Todeschrei.
Ich stand auf und ging wieder in unser „Haus“, zurück zu Felix. Aber er war nicht da, das Haus war nicht da!
Alles vor meinen Augen wurde schwarz, ich konnte nichts mehr sehen, keinen klaren Gedanken mehr fassen. Wo war Felix?
Ich hatte Angst, regelrecht Panik! Ich rannte durch die Straßen, schrie seinen Namen, immer wieder.
Keine Antwort.
Ich wusste nicht weiter, so hilflos fühlte ich mich noch nie. Überall um mich herum lagen Tote, Verletzte. Ich sah sie nicht an, die Angst, Felix unter ihnen zu entdecken, war zu groß.
Deshalb setzte ich mich an den Straßenrand, mit gesenktem Kopf. Ich machte mir keine Gedanken, ob mich jemand entdecken könnte. Felix war weg, ich hatte unendliche Angst, überall Tod, Leid, Trauer. Der Hunger zerfraß mich, ich konnte nicht mehr denken.
Ich dachte, da ist Felix, ich höre ihn doch, ich höre, wie er meinen Namen ruft. Aber etwas in mir sträubte sich dagegen. Felix war tot, begraben unter den Trümmern einer Ruine.
„Maayan! Maayan, hörst du mich? Geht es dir gut?“
Felix!
„Du lebst!“
„Natürlich lebe ich oder glaubst du etwa ich sterbe vor dir?“ Ich musste herzhaft lachen, sodass ich wieder anfing zu weinen.
Aber dann sah ich Blut. Ich schaute Felix an. Überall Blut!
Alles war rot, sein Gesicht, sein Hemd.
Ich schrie vor Schreck!
„Sieht schlimmer aus, als es ist, nur ein kleiner Kratzer.“
„Wir müssen in ein Krankenhaus!“
„Bist du verrückt? Da erwischen sie uns garantiert! Nein, bevor ich mich denen freiwillig ausliefere, sterbe ich lieber hier!“
„Du…also…NEIN!“
„Maayan, wer von uns ist älter? Und ich weiß doch wie schlimm meine Verletzung ist. Nur ein Kratzer. Wir suchen uns jetzt einen Toten und nehmen seine Sachen. Die können wir in Streifen reißen und die Wunde damit verbinden, in Ordnung?“
Er sagte das so selbstverständlich… Ich hatte das Gefühl, ihm war nicht bewusst, was er da erzählte. Er war sich nicht im Klaren darüber, dass er vorschlug, einem Toten die Sachen zu klauen!
Vielleicht musste man so abstumpfen um zu überleben, aber ich wollte es nicht so weit kommen lassen, nie!
„Wir klauen keinem Toten seine Klamotten! Das ist das Letzte was ich je tun würde! Es ist erniedrigend und widerwärtig!“
Wir suchten uns eine „neue Ruine“. Ich habe auf der Straße verschiedene Stofffetzen zusammen getragen um Felix daraus einen Verband zu knoten. Es war fürs Erste ausreichend.
Ich lief erneut auf die Straße, in der Hoffnung, etwas Brauchbares zu finden, wie etwa eine Mütze oder feste Schuhe. Da sah ich ihn, denselben Mann, der vor einem Jahr meine Familie geholt hatte!
Ich versteckte mich, wollte ihn beobachten.
Westermann lief den Weg entlang mit einem Grinsen im Gesicht. Warum? Alles war zerstört, Zivilisten waren tot, es waren keine „Feinde des Vaterlandes“, nur Zivilisten, Frauen und Kinder, ganz wenige Männer, sie waren schließlich an der Front um für Hitlers wahnwitzigen Traum reihenweise und qualvoll niedergemetzelt zu werden!
Doch jetzt sah ich den Grund seiner Freude: ein kleiner Junge saß weinend am Straßenrand, einen Judenstern auf seinem Hemd. Wie alt mag er wohl gewesen sein? Vielleicht sechs, vielleicht auch schon zwölf. Aus den abgemagerten Gesichtern der Menschen konnte man nichts mehr erkennen, kein Alter, keine Gefühle, nichts.
„Na na, kleiner Mann, warum weinst du denn?“
„Meine Mami ist tot…“
Seine Stimme zitterte, er wusste nicht, was ihm noch bevorstand.
„Wie heißt du denn, mein Großer?“
Der Junge hielt ihm einen Ausweis hin.
„Soso, ein Jud! Adolf Israel Rosenbaum.“
Westermann holte aus und schlug den Jungen.
„Du wagst es den Namen unseres geliebten Führers zu tragen?“
Er schlug ihn noch mal und noch mal…
Ich konnte das nicht mit ansehen!
„Aufhören! Wer gibt Ihnen das Recht, einen kleinen Jungen zu schlagen, nur seines Namens wegen?!?“
„Und wer bist du?“
„Gestatten, Maayan Jahnns. Vor gut einem Jahr haben Sie meine Eltern deportiert.“
„Ich kann mich leider nicht mehr an jede einzelne Deportation erinnern, mein Kind.“
Ich merkte, ich hatte einen großen Fehler begangen, aber ich konnte nicht anders handeln. Was dem Jungen widerfuhr war falsch, doch ich brachte mich selbst- und Felix- mit meinem Handeln in Gefahr. War ich selbst schon so abgestumpft, dass mich das Leben des Jungen nicht interessieren sollte? Das mir mein Lebe wichtiger war? In Gedanken wog ich ab: das Leben des Jungen gegen meins und das von Felix. Was hatte der Junge noch vom Leben? Mutter tot, Vater nicht in Sicht, andererseits, was hatte ich vom Leben? Ich wusste nicht, wie es meinen Eltern und Yasmina ging, ob sie überhaupt noch lebten… aber ich hatte Felix! Ich wollte nicht sterben, wollte weiterhin leben, aber war mein Leben noch ein Leben? Tag für Tag der Gefahr ausgesetzt zu sein, dass man uns findet und in ein KZ bringt. Wir wussten nicht genau, was das Wort bedeutet: Konzentrationslager.
Aber alle unsere Bekannten sind in einem und wir haben seitdem nichts mehr von ihnen gehört. Waren sie tot?
Oder hatten sie Briefe geschrieben? Sie konnten uns ja nicht erreichen, wir wohnten ja nicht mehr in unserem alten Haus. Ich wusste nichts mehr. Was sollte ich jetzt machen?
Egoistisch handeln oder so reagieren, wie es mir seit Jahr und Tag beigebracht wurde?
Ist es überhaupt egoistisch sein eigenes Leben über das von anderen zu stellen?
Ich hatte keine Zeit mehr, ich musste handeln!
Auch wenn ich Felix dadurch verlieren würde!
„Es ist nicht rechtens, Kinder zu schlagen, egal welchen Geschlechts, welcher Hautfarbe, welcher Haarfarbe, welcher Religionszugehörigkeit! So etwas habe ich von einem „Vaterlandskämpfer“ nicht erwartet.“ Ich freute mich sein verdutztes Gesicht zu sehen und fuhr gleich fort: „Sind Sie überhaupt ein „Retter des Vaterlandes“? Ich dachte, alle mutigen und ehrenvollen Deutschen ziehen in den Krieg, an die Front um den Sieg der Arier herbei zu führen. Was machen Sie also hier? Sind Sie etwa kein Arier? Ein Gegner des Regimes? Sie?“
Ich lachte still in mich hinein, bewegte mich nach außen nicht ein bisschen.
Auf einmal tauchte Felix an der Ecke gegenüber auf. Wie sollte ich ihm zu verstehen geben, dass er sich keine Sorgen machen musste. Und vor allem, dass er nicht herkommen darf!?!
Ich fasste Westermann also am Arm und drehte ihn von Felix weg.
Diesmal kam mir der Zufall zur Hilfe.
Oder vielmehr ein alter Schulfreund von Felix.
„Vater!“
„Lars, du störst mich gerade bei der Arbeit. Geh bitte.“
Er hatte sich nicht viel verändert, natürlich, er war viel größer und reifer als vor drei Jahren, die roten Haare waren auch nicht mehr ganz rot, vielmehr waren sie jetzt platinblond!
„Schau nicht so erschrocken, Maayan.“
„Lars, rede nicht mit ihr, sie ist ein Judenbalg!“
„Stimmt, du kennst Maayan gar nicht. Sie ist die kleine Schwester von Felix, weißt du, wen ich meine? Wo ist er eigentlich?“
Ich wusste, Lars konnte Felix sehen, aber ich antwortete nur: „Ich weiß nicht. Wir wurden getrennt, ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen.“
Ich sah zu Felix herüber. Zum Glück hatte er gehört, was wir gesagt haben und bog gerade um die Ecke.
Ich schaute zu Lars. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Ich kenne ihn seit Kindertagen, er war immer Felix’ bester Freund gewesen, war immer um mich herum und doch war es jetzt anders.
Ich verstand nicht, was los war, aber ich versuchte auch nicht zu verstehen, schon lange nicht mehr.
Westermann kümmerte sich wieder um den kleinen Jungen, sodass Lars mir etwas zu flüstern konnte: „Du kommst jetzt in ein KZ, das weißt du, oder? Ich versuche dich dahin bringen zu lassen, wo ich bin, nach Auschwitz.“
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