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17.03.2012, 15:13 | #1 |
Forumsleitung
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Schöner Mann
Nur ein kurzes Klingeln, und schon im nächsten Moment hörte ich eilige Schritte näher kommen. Knappes, hartes Auftreten – Blockabsätze. Eine Frau, etwa fünfzig Jahre alt, brünett und mit auffallend großen, weit auseinanderstehenden Augen öffnete die Eingangstür und musterte mein Gesicht: „Bitte, Sie wünschen?“
Ich grüßte, nannte meinen Namen und streckte Ihr einen Briefumschlag entgegen: „Ich soll den hier abgeben – aber an den Empfänger persönlich.“ Sie nahm den Umschlag, um den Absender zu prüfen, runzelte kaum merklich die Stirn und gab ihn mir zurück. „Den sollte er wirklich selbst in Empfang nehmen. Er ist auf der Terrasse, ich bringe Sie zu ihm.“ Ich folgte der Frau durch die Räume der Villa, die nur spärlich mit Möbeln bestückt waren, ausschließlich Antiquitäten von erlesener Schönheit. Die Wände beeindruckten dagegen durch Üppigkeit, hier hingen riesige Gemälde, die von kleineren Werken gesäumt waren, alte Meister in stiller Eintracht mit Künstlern des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Der letzte Raum, durch den wir gingen, war die Bibliothek, von dort führte der Weg durch eine französische Flügeltür auf die Terrasse hinaus. „Meine Güte,“ dachte ich, „das ist ja wie in Malmaison!“ Der Anblick des Hausherrn traf mich wie ein elektrischer Schlag. Er war noch jung, schätzungsweise Mitte oder Ende dreißig. Bei all der Pracht, durch die ich gerade gewandert war und die einen unschätzbaren Reichtum vermuten ließ, hatte ich einen wesentlich älteren Menschen erwartet. Und schon gar nicht einen Mann, der aussah, als habe er alle Vorzüge von Apoll, Achill, Hektor, Paris und sonstiger Helden in seinem Äußeren vereinigt. Er war der schönste Mann, den ich jemals gesehen hatte. Seine Gesichtskonturen waren straff und ebenmäßig, die Haut glatt, aber weder weich noch weibisch, das Kinn kantig und fest, aber nicht zu groß, die Jochbögen leicht betont und nicht zu hoch, die Nase mit kaum wahrnehmbaren „Adler“-Knick, nicht zu lang und nicht zu streng, die Augen dunkle Seen, über denen sich die Brauen über der Nasenwurzel küßten. Der Mund. Breit und hart - und gleichzeitig voll und sinnlich. Verwirrend. Ich stand da und starrte auf diesen Mund, als ob ich gekommen wäre, daß er mir etwas sagt und nicht ich ihm. Und die ganze Zeit hielt ich diesen Briefumschlag in der rechten Hand und hatte meine Mission völlig vergessen. Er trug ein T-Shirt mit kurzen Ärmeln. Seine Unterarme waren muskulös und ließen ahnen, daß auch die Oberarme durchtrainiert waren. Breite Schultern. Die Brustmuskeln zeichneten sich durch den Baumwollstoff ab – sportlicher Typ, keine Frage. Wortlos hielt ich ihm den Briefumschlag hin. Er sah nicht einmal nach, von wem er kam. „Ich danke Ihnen. Meine Hausdame wird sie hinausbegleiten.“ Dann strich er die dünne Sommerdecke glatt, die seine Beinstümpfe bedeckte, drehte seinen Oberkörper im Rollstuhl um, soweit dies möglich war, und befahl seinem Betreuer: „Zum See hinunter – ich will die Schwäne sehen.“ 17. März 1012 by Ilka-Maria |
17.03.2012, 15:17 | #2 |
R.I.P.
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erstmal kurz:
Grausig. |
17.03.2012, 15:22 | #3 |
gesperrt
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Sehr schön beschrieben! Deshalb machen die letzten Sätze ja so betroffen!
Jeronimo |
17.03.2012, 17:53 | #4 |
Forumsleitung
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Danke für die schnellen Reaktionen.
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Lesezeichen für Schöner Mann |
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