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Alt 16.08.2017, 13:41   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Gesundheit!

Jahrescheck. Kein Problem, dachte ich. Wenn meine Ärztin darauf besteht, soll sie ihren Spaß haben, und bis jetzt waren die Laborwerte Jahr für Jahr bestens gewesen.

Wie immer nickte sie zufrieden mit dem Kopf. Bis sie auf die Position „Leberwerte“ stieß.

„Wie sieht es mit Alkohol aus?“

Ich hielt den Mund.

„Gegen ein Gläschen am Abend habe ich ja nichts ...“

Den Rest des Vortrags, der notwendig gewesen wäre, ersparte sie sich. Offensichtlich hielt sie die Erfahrung ab, das Thema zu vertiefen. Während sie weiter meine Laborwerte durchging, überlegte ich, ob ich mich selbst öffnen sollte. Vielleicht wartete sie darauf. Aber dann schweiften meine Gedanken ab.

„Wie will ich sterben?“ war die Frage, die in mir hochstieg, ohne dass sie so klar formuliert in meinen Kopf gekommen wäre. Sie kam eher in Bildern, wie ich glücksverloren und dem Suff ergeben meinen letzten Atem aushauche. Gleichzeitig sah ich meinen Vater vor mir und wusste in diesem Moment kristallklar: So wie er möchte ich mich dem Tod nicht hergeben müssen!

Er war noch berufstätig, als ein Kardiologe feststellte, dass er mehrere kleine und bis dahin unbemerkte Herzinfarkte erlitten hatte. Wenige Jahre später war eine Bypass-Operation nicht mehr zu vermeiden. Sie verlief erfolgreich, und mein Vater fühlte sich „wie neu“. Er war seinem Alter gemäß leistungsfähig, übte sogar noch einen Rentnerjob bei einer Wach- und Schließgesellschaft aus und war auch für leichtere Handwerksarbeiten noch zu gebrauchen.

Er war fast siebenundsiebzig Jahre alt, als er die Schmerzen, die ihn seit Tagen heimsuchten, nicht mehr verbergen konnte. Immer hatte er den starken Mann gespielt, nie wollte er Schwächen zugeben, und schon gar nicht wollte er seinen Mitmenschen zur Last fallen. Als sein Leib jedoch wie unter Folter rebellierte und er das Schreien vor Schmerz kaum noch unterdrücken konnte, als er unter Angst, er könne an Krebs zugrunde gehen, sich in helfende Hände zu geben bereit war, holte ihn ein Notarztwagen ab und brachte ihn unter Sirenengeheul in die Klinik.

Es war nicht Krebs. Auch nicht das Herz. Es war ein Darminfarkt. Als er in die Klinik eingeliefert wurde, hatte er keine Chance mehr. Teile des Darmes waren bereits abgestorben, und das Gift hatte sich im Körper ausgebreitet. Das einzige, was er noch brauchte, war Morphium. Er starb, vollgepumpt mit diesem Betäubungsmittel, am Mittag des folgenden Tages.

Diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, als meine Ärztin meine Laborwerte konsultierte. Und ich fragte mich: Warum soll ich mein Leben nicht genießen und den Preis, nämlich „relativ jung“ – was man heute darunter auch immer verstehen mag – zu sterben? Muss ich um des Altwerdens willen die Leiden dieser Welt auf mich ziehen? Muss ich Knochen- und Muskelabbau, Atemnot, Immobilität, Herzklappeninsuffizienz, Haarausfall, Rückenschmerzen und den ganzen Rest auf mich nehmen? Kann ich nicht einfach meine Flasche Wein am Abend genießen und damit einverstanden sein, bei akutem Herzversagen vom Stuhl zu rutschen, ohne vorher alle Leiden durchwandert zu haben?

Wie alt will ich bei den heute populären „lebensverlängernden Maßnahmen“ werden?

Offen gesagt: Ich weiß es nicht. Woher soll ich wissen, ob diese Maßnahmen bei mir greifen? Aber eins weiß ich gewiss: Eine Flasche Wein am Abend bei einem unterhaltsamen Buch oder einem schönen Film ist Lebensqualität. Ob mich in der Nacht der Tod holt, kann mir egal sein. Entweder lerne ich ihn nie kennen, oder ich gewinne – vielleicht – einen neuen Freund.

16.08.2017
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.08.2017, 14:34   #2
männlich Gemini
gesperrt
 
Dabei seit: 05/2006
Alter: 50
Beiträge: 1.297

Tja Ilka, aber dein Vater starb wie ein Mann. Aufrecht.
Stephen King schreibt:

Der Acker eines Mannes ist steinig

Er hat alles klaglos ausgehalten, aus Liebe zu euch und vermutlich waren das auch seine letzten Gedanken.

Ein Mann beklagt sich nicht, so etwas tun wir nicht, sonst wären wir keine Männer.

Gem
Gemini ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.08.2017, 15:04   #3
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.089

Zitat:
Zitat von Gemini Beitrag anzeigen
Ein Mann beklagt sich nicht, so etwas tun wir nicht, sonst wären wir keine Männer.
Danke für deinen Kommentar, Gem. Eigentlich ist mein Thema aber nicht, was ein Mann (bzw. Mensch) aushalten soll, sondern ob es tatsächlich sinnvoll ist, zu sehr um seine Gesundheit bemüht zu sein (natürlich auch im Hinblick darauf, auf Genuss zu verzichten) und ein möglichst hohes Alter anzustreben, wenn der Preis dafür trotzdem leidvolle Krankheiten sind (zwar oft erst später, aber dafür umso heftiger).

LG
Ilka
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