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Alt 19.09.2020, 17:01   #1
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Standard In Memoriam Frau Buhmann

In Memoriam Frau Buhmann

Über Namen soll man sich ja eigentlich nicht lustig machen, denn die meisten ihrer Träger können sie sich selbst nicht aussuchen und allenfalls unter erheblichem Verwaltungsaufwand ändern lassen. Doch es gibt immer wieder Fälle, wo sich eine humorvolle Beschäftigung mit auf die eine oder andere Weise einprägsamen Namen geradezu aufdrängt: Wenn sie zu der Person, die sie bezeichnen, wie die Faust aufs Auge passen; wenn sie, genau im Gegenteil, mit ihrem Sinn dem jeweiligen Namensträger krass entgegenstehen; und letztlich auch, wenn sie sich von einer konkreten Person zu lösen scheinen und über Jahre in verschiedensten Gesprächssituationen als Namen ein skurriles Eigenleben zu entwickeln in der Lage sind. Gilt es, aus meinem Umfeld und meiner Erinnerung ein Beispiel für die letztgenannte Kategorie zu nennen, so taucht beinahe zwangsläufig Frau Buhmann aus dem Dunkel auf.


Die Verwandtschaft meiner Mutter als weitläufig und breit gefächert zu bezeichnen, wäre eine bodenlose Untertreibung. Jedes ihrer beiden Elternteile hatte mindestens acht oder neun Geschwister, die sich in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in vergleichbar fruchtbarer Gebärde und mit Schwerpunkt im mittleren Ruhrgebiet niederließen. Ergebnis war aus Perspektive meiner Mutter eine Schar von Vettern und Kusinen, die kaum überschaubar war. Einige davon verblieben in den ursprünglichen Wohngebieten der Familie im später dann polnischen Ostpreußen – andere gingen über den „großen Teich“ und wanderten nach Kanada und Mexiko aus. Die meisten waren aber ohne Zweifel in und um Herne zu finden und gingen dort verschiedensten handwerklichen und kaufmännischen Tätigkeiten nach. Von den Frauen waren viele in Beschäftigungsverhältnissen untergekommen, die in den Anfangsjahren noch als Haushaltshilfe, Perle oder auch einfach als „Mädchen“ bezeichnet wurden. In späteren Jahrzehnten, nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Eindruck eigener Kinder und Familien, die versorgt werden mussten, wurden daraus meistens schlichte Putzstellen in besser gestellten Häusern, mit denen die eigene Haushaltkasse aufgebessert wurde. Auf jeden Fall war es Mutters gleichaltrige Kusine Selma, die über viele Jahre bei Frau Buhmann putzte und im Haushalt half, um davon immer wieder auch mal etwas zu erzählen.


Tatsächlich war es sogar weniger Selma selbst, welche Frau Buhmann ab und an erwähnte, als vielmehr andere Vertreterinnen aus dem weitgespannten Netz verwandtschaftlicher Klatsch- und Klönzirkel: Mutters ältere Schwester Else, oder Ilse, welche als Kusine lediglich „angeheiratet“, dann früh verwitwet und nach ihrer Wiederverheiratung dennoch ein beliebter Pol im erweiterten Kreis unserer Familie war. Als Kind und später auch als Jugendlicher habe ich auf endlosen und einschläfernden Kaffeetrinken und Familienfeiern – denn es gab fast alle paar Wochen einen Geburtstag – immer dann ein wenig aufgemerkt und auch geschmunzelt, wenn die Rede wieder einmal auf Frau Buhmann kam: „Als Selma Freitag bei Frau Buhmann war, hat sie gehört, dass …“ oder „Bei Frau Buhmann steht doch so ein Ungetüm von Schrank, darin bewahrt sie doch tatsächlich …“. Es tauchten dann nicht Leichen oder Liebhaber auf, sondern irgendwelche alltäglichen Dinge, die aber aufgrund des Namens in Erinnerung blieben. In späteren Jahren habe ich mir einen Spaß daraus gemacht, Frau Buhmann an geeigneten Stellen der Gespräche selbst ins Spiel zu bringen: „Was hat denn Frau Buhmann dazu gesagt?“ oder „Frau Buhmann?“ auf die Frage sagte, wer denn nochmal dieses ständig winselnde Schoßhündchen besaß. Das hatte selbst nichts mehr mit wirklichen Geschehnissen zu tun, war aber immer – seltsam oder nicht – für einen Lacher gut.


Aus irgendeinem Grund – ich muss es irgendwo gehört haben – hatte sich bei mir die Überzeugung ausgebildet, dass Frau Buhmann eine Opernsängerin im Ruhestand war. Das mag mitten im Ruhrgebiet komisch klingen, aber immerhin stammt Dorothee Mields, die für mich beste Sopranistin im gesamten Feld „Alte Musik“, ebenfalls aus Gelsenkirchen, ist dort aufgewachsen und auch ausgebildet worden. Im Lauf der Jahre war dann allerdings auch festzustellen, dass auf Familientreffen von Frau Buhmann immer weniger zu hören war. Kusine Selma hatte ihre Putzstelle wahrscheinlich auch aus Altergründen aufgegeben, sodass real beweisbare Bezüge und Zusammenhänge ausblieben. Und irgendwann war es tatsächlich so weit, dass in bestimmten Kreisen die Vermutung ausgesprochen wurde, meine – seltenen – Einwürfe oder Fragen zu Frau Buhmann seien grundsätzlich „gefaked“, und die Dame würde überhaupt nicht existieren. Da mich das zunehmend verunsicherte, fragte ich eines Tages meines Mutter, ob sie Frau Buhmann denn jemals begegnet sei. Nach kurzem Nachdenken leuchteten ihre Augen auf, und sie berichtete, dass sie mit Ilse einmal auf dem Herner Markt war, als diese eine ältere Frau sehr freundlich, aber irgendwie auch ehrerbietig grüßte. Auf ihre Frage, wer das sei, habe sie dann die gleiche Antwort wie jetzt ich erhalten. „Das war Frau Buhmann?“ habe sie noch etwas ungläubig gefragt – denn es sei einfach ein kleines Frauchen gewesen, das ihr sonst nicht weiter aufgefallen wäre. Was meine Mutter wohl erwartet hatte? Ein vollkommen schwarz gekleidetes Ungetüm, das mit weit ausgebreiteten Armen und brüllend hinter kleinen Kindern herläuft?


Ich selbst habe Frau Buhmann selbstverständlich nie gesehen, und mit den Jahren ist sie auch als Name aus allen Gesprächen verschwunden. Zwischen 2015 und -18 sind meine Mutter und die letzten aus ihrer einst unübersehbaren Kusinenschar verstorben. Nur ihre Schwester – meine Tante – lebt noch mit weit über neunzig in Brandenburg. Frau Buhmann aber ist nun endgültig zu einem kommunikativen Phänomen geworden, für das mir – auch ein Zeichen unserer Zeit? – nicht wirklich ein deutscher Begriff einfällt. Hitchcock hätte sie vielleicht als MacGuffin bezeichnet, als nicht definiertes und geheimnisvolles Element, welches die Filmhandlung vorantreibt. Und auch als Running Gag könnte man Frau Buhmann möglicherweise definieren – über den nur niemand lacht und den auch niemand mehr versteht, weil das Publikum dafür nicht mehr vorhanden ist. Vielleicht ist das der Grund, warum ich das Bedürfnis hatte, der Dame hier an völlig anderer Stelle und vollkommen ungefragt ein Denkmal zu setzen.
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