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Alt 10.08.2007, 12:32   #1
Riif-Sa
 
Dabei seit: 11/2004
Beiträge: 253

Standard Das Lächeln der Anderen

Alle glücklichen Menschen ähneln einander.“ Sagte einst Lew Nikolajewitsch Tolstoi, aber der hatte gut reden. Der war ja auch adelig. So kam er vermutlich niemals in den Genuss, sich in dem Menschenmeer einer Fußgängerzone einer ganz normalen deutschen Großstadt treiben zu lassen. Wobei er das vermutlich wörtlich genommen hätte und damit bereits im 19. Jahrhundert das Stage-Diving erfunden hätte, aber das ist natürlich albern. Auch er wäre vermutlich staunend an all den Menschen vorbeigegangen und hätte sich, in Ermangelung eines bestimmten Zieles, ebenjene genau angesehen. Diesen Part übernehme ich dafür heute, denn ich bin nicht adelig und auch wenn ich ein Ziel hätte, so ginge es in der nie endenden Strömung einer Fußgängerzone mit Sicherheit verloren. Also schaue ich mir die Menschen an. Nicht jeden einzeln, aber so viele das Auge erfassen kann. Besonders Frauen, aber das hat, wie schon Funny van Dannen Schulter zuckend und oft unter lautem Gelächter feststellen musste, vermutlich hormonelle Gründe.

Gelegentlich offenbaren sich mir dabei Schicksalsmomente, doch weil das immer so episch klingt und meine Offenbarungen nichts wirklich Weltbewegendes an sich haben, nenne ich sie lieber Schicksalsmomentchen. Doch unterschätzen sollte man es nicht, wenn ein Mensch lächelt und genau darum geht es nämlich bei eben jenen Schicksalsmomentchen. Von Schicksal muss deshalb gesprochen werden, weil das Lächeln eines Menschen vergänglich ist. Wenn jemand doof aussieht, dann sieht derjenige über einen langen Zeitraum doof aus, aber wenn jemand lächelt, dann nur kurz. Ein paar Sekunden, höchstens. Manchmal ist es sogar nur der Bruchteil einer Sekunde. Wenn jemand mit einem Dauerlächeln durch die Gegend läuft ist das nicht nur irgendwann äußerst schmerzhaft, sondern sieht auch noch doof aus, womit wir wieder am Anfang wären. Das ist es, das ist der Punkt. Wenn ich jemanden lächeln sehe, den ich vorher nicht kannte und wenig später schon wieder vergessen haben werde, dann muss erst wenige Augenblicke vorher etwas passiert sein, dass eben dieses Lächeln, nebenbei bemerkt eine Meisterleistung des menschlichen Gesichtes, ausgelöst hat.

Das würde uns dann wieder zum kosmischen Gefüge führen, Schicksal, Selbstbestimmung und Chaostheorie, aber das ist alles schon viel zu oft durchgekaut und in viel zu vielen Filmen und viel zu vielen viel zu schnulzigen Liebesgeschichten verwurstet wurden, also lassen wir das für heute. Fakt ist, oftmals ist es kein Ereignis, sondern die Gedanken des Lächelnden, die dann letztendlich das Schicksalsmomentchen auslösen. So war es auch bei mir, als ich durch die Fußgängerzone lief und ein bestimmter Teil der Geschichte, nämlich genau dieser hier, vor meinem geistigen Auge Gestalt annahm. Bei dem Gedanken an stage-divende russische Schriftsteller konnte ich auch meine Gesichtsmuskeln nicht mehr beherrschen und musste lächeln. An diesem Punkt noch eine interessante, wenngleich sicherlich bereits bekannte Beobachtung: Das Lächeln ist scheinbar mit dem Gähnen verwandt, denn auch das Lächeln ist ansteckend. Am Anfang aller Zeit, als ich zaghaft damit begann, Fußgängerzonen zu durchqueren, fürchtete ich in jenen Momenten, diese Leute könnten meine Gedanken lesen und würden deshalb lächeln (oft glaube ich auch, ein Zwinkern erkannt zu haben), aber das erwies sich als albern. Denn man lächelt, wenn man andere lächeln sieht. Besonders Kinder, wobei die nicht einmal lächeln müssen. Bei denen ist es egal, ob sie lachen, weinen, schlafen, staunen, gähnen oder pupsen. Kinder bringen die Menschen seit jeher zum Lächeln. Nun ja, bleibt nur zu hoffen, dass jetzt nicht weniger gelächelt wird, nur weil es nicht mehr so viele Kinder gibt. Ich erwähne das nur, weil, und das sage ich obwohl ich sehr wohl weiß, dass es furchtbar kitschig klingt, ein Lächeln immer noch jeden Menschen zu einem schöneren Menschen machen kann.

Und es weckt auch egoistische Züge in mir, denn, obgleich es für mich einer Katastrophe gleichkäme, könnte jemand meine Gedanken lesen, so wünschte ich mir doch manchmal einen Blick in die Gedanken eines Menschen werfen zu können um herauszufinden, welches Bild ihm wohl das Lächeln entlockt haben mag. Grade wenn man, was Frauen ja angeblich gut können, verschieden Typen des Lächelns auseinander halten kann. Das normale Lächeln eines Vaters, der grade an seinen Baby denkt, welches im Schlafe lachend und staunend die Welt entdeckt, dann aber pupsen muss und deshalb weint. Das boshafte Lächeln einer Frau, die einer verhassten Konkurrentin gerade gesagt hat, dass ihre neue Frisur aussieht wie ein abgebrannter Bienenstock. Das verschmitzte Lächeln eines jungen Mannes, der sich selbst grade von allen möglichen Blickwinkeln dabei zuschaut, wie er eine Erdbeere aus dem Bauchnabel seiner Angebeteten verspeist. Jedoch ist all das natürlich rein spekulativ und letzten Endes nicht zu beweisen. Für uns zählt, wer lächelt, der ist glücklich, jedenfalls für einen kurzen Moment und daran teilzuhaben, das nenne ich ein echtes Schicksalsmomentchen.

Doch zurück zu Tolstoi, dessen Zitat ich ungerechterweise für eine Ausführung über das Lächeln nicht nur missbraucht, sondern auch noch abgeschnitten habe. Das komplette Zitat lautet nämlich „Alle glücklichen Menschen ähneln einander; jeder unglückliche Mensch ist auf seine eigene Weise unglücklich.“, und da muss ich ihm recht geben. Scheint es doch grade in der heutigen Zeit wieder gesellschaftlich akzeptiert, ja sogar modern zu sein, in seinem Unglück zu schwelgen in der sicheren Gewissheit, dass absolut niemand auch nur ansatzweise dazu in der Lage ist, die eigenen Probleme zu verstehen. Tolstoi hat das schon früh erkannt. Nun hätten ihm Piercings, Schwarz-Violette Kleidung und tief ins Gesicht gekämmte dunkle Haare vermutlich nicht gestanden, also setzte er sich in sein Arbeitszimmer und schrieb „Krieg und Frieden“ und als er damit fertig war, erschienen auf seinen Schultern ein Engel und ein Teufel und der Teufel sagte „Wirf es ins Feuer, das Buch ist Scheiße!“ und dann sagte der Engel „Ja, wirf es weg. Es ist langweilig.“ Tolstoi jedoch ließ sich nicht beirren und veröffentlichte eines der wichtigsten Bücher der Menschheitsgeschichte und falls Sie mich jemals in irgendeiner Weise über dieses Buch reden hören, dann wissen sie, dass es sich dabei nur um Wichtigmacherei handelt, denn ich habe dieses Buch nie gelesen und habe es auch nicht vor. Doch verraten sie es niemanden. Das garantiert mir die Aufmerksamkeit meiner Zuhörer und gibt ihnen die Möglichkeit, einmal wissend zu lächeln.
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