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Alt 21.05.2018, 16:59   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Blind Date

Ich stand am verabredeten Platz vor dem Schaufenster eines Buchantiquariats, über dessen Eingang eine altertümliche Uhr hing. Mein Plan war gewesen, fünf bis zehn Minuten später zu meiner Verabredung zu kommen, stattdessen hatte mich die Ungeduld eine Viertelstunde zu früh hergetrieben, wofür ich böse auf mich war, denn ich fühlte einen Verlust an Selbstkontrolle. Mein Herz pochte nach allen Seiten, als suchte es einen Weg aus meinem Körper, um sich in Sicherheit zu bringen.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Seit fünf Minuten stand ich hier, zehn galt es noch totzuschlagen. Um mich abzulenken, betrachtete ich die Auslage des Ladens: viel über Stadtgeschichte, preußische Geschichte und Kunst; ein Exemplar der vollständigen Ausgabe eines alten Brockhaus.

Noch acht Minuten.

„Dumme Kuh,“ fuhr es mir durch den Sinn, „was hast du hier zu suchen? Er wird nicht kommen. Oder er steht in der Nähe, beobachtet dich und macht sich über dich lustig.“

Ich hatte Angst, mich zu blamieren. Zu deutlich sichtbar werden zu lassen, dass ich mich nach Zweisamkeit sehnte, nach Anerkennung, nach allem, was einen Menschen zum Menschen macht – nach Liebe.

Noch fünf Minuten.

„Wenn er dieselben Gefühle hätte wie du, wäre er längst da,“ sagte mein innerer Teufel zu mir. „Dreh ab und gib dich geschlagen!“

Doch ich blieb und sah auf die Uhr. Noch drei Minuten.

Linienbus 3 fuhr an mir vorbei, fast leer an diesem Sonntag. Zehn Meter weiter bremste er an einer Haltestelle und ließ einen Fahrgast aussteigen. Ich hätte den Bus nehmen können, um schneller zu Hause zu sein.

Zehn Minuten über die Zeit. Mein Herz sah keinen Grund mehr, auszubrechen, und fügte sich dem Rhythmus seines Gefängnisalltags. Ich schlenderte zur Bushaltestelle, entschlossen, die nächste Gelegenheit zur Heimfahrt zu nutzen. Es begann zu regnen.

Neben mir hörte ich das „Wuusch“ eines sich entfaltenden Regenschirms.

„Lila Lackmantel über weißen Jeans, roter Schal und rote Schuhe … Sie müssen es sein …“

Mein Herz hüpfte von der Pritsche, auf die es sich gerade zur Ruhe gelegt hatte. Er hielt den Schirm über mich. „Gehen wir? Ich habe einen Tisch bestellt. Gleich vorn um die Ecke.“

Mir blieb nichts übrig, als ich mich bei ihm einzuhaken, damit wir beide unter den Schirm passten. Trotz meiner Verwunderung darüber, mich sofort mit ihm vertraut zu fühlen, blieb ein Rest von Unbehagen. Warum kam von ihm kein Wort über den Grund seiner Verspätung?

„Wie heißen Sie wirklich?“

Seine Frage überraschte mich. „Mein Name ist echt.“

„Also Vera – die Wahrheit.“

„Und Sie?“

„Florian.“

„Nicht Rouven?“

„Gefällt Ihnen ‚Florian‘ nicht?“

„Doch – auch.“

Wir saßen im Restaurant und hatten bestellt. Der Wein war bereits eingeschenkt, und wir stießen an. Nach dem ersten Schluck wollte ich eine spaßige Bemerkung machen, aber sie blieb mir im Hals stecken, weil mir Florian todernst in die Augen sah.

„Ich will gleich damit heraus, Vera. Ich bin verheiratet.“

Mein Herz verkrümelte sich sofort in eine Ecke seiner Zelle und tastete danach, ob es verwundet war.

Vor mir saß der Mann, von dem ich immer geträumt hatte: Groß, stattlich, breite Stirn, kräftiges Kinn, volle Lippen, Augen wie tiefe Seen, geschmackvolle Kleidung …

Aber alles im Leben hat einen Haken. Wie konnte ich nur so einfältig sein, dass es für mich keine Haken geben könnte?

Richtig wäre gewesen, aufzustehen und zu gehen. Aber ich wollte nicht altmodisch erscheinen, sondern jugendlich, aufgeklärt, tolerant und bis zur Halskrause verständnisvoll. Also nippte ich an meinem Wein und kicherte.

„Na und? Kann doch jedem passieren.“

Er lächelte wie ein Sieger. „Ich freue mich, dass du es locker siehst, Vera. Verzeihung, ich meinte Sie …“

„Schon gut, bleiben wir beim Du.“

Doch da begann mein inneres Teufelchen sich wieder zu regen. „Mach dem Kerl die Hölle heiß!“

„Wie heißt deine Frau?“

„Warum willst du das wissen?“

„Vielleicht hat sie auch einen hübschen Namen. Wann hast du sie kennengelernt? Wie lange seid ihr verheiratet? Habt ihr Kinder? Wie oft hast du sie schon betrogen? Hat sie das Geld, oder hast du es? Sie weiß, dass du fremdgehst, aber es ist ihr egal, weil du ihr nichts bedeutest. Stimmt doch, oder?“

„Was soll das jetzt?“

„Hast es schon leichter gehabt, so wie du aussiehst, oder?“

Er stand abrupt auf. Sein Glas fiel um, und der Wein benetzte das Tischtuch mit einer rosaroten Lache.

„Was geht dich mein Privatleben an?“

„Eine ganze Menge, wenn ich entscheiden muss, welche Rolle ich dich in meinem Privatleben spielen lassen will. Und die sieht im Augenblick nicht nach einer Nominierung aus.“

Ich sah im triumphierend nach. Der Kellner, der gerade unsere Menus servieren wollte, grinste ihm breit hinterher.

„Endlich hat es ihm mal eine gezeigt! Was ist für Sie?“

„Stellen Sie beides ab, ich habe gerade einen mächtigen Appetit.“

Ich nahm von beiden Tellern reichlich und ließ mir hinterher die Rechnung kommen. Selten hatte es mir besser geschmeckt.

21.05.2018
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.05.2018, 12:28   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
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Ziemlich selbstgerecht, die Protagonistin. Sie lässt ihn sich nicht mal erklären, sondern für sie steht gleich fest, dass er ein Schuft ist - nach seinen ersten Worten beim persönlichen Kennenlernen.

Etwas zur Textgestaltung am Anfang:
Zitat:
.Um mich abzulenken, betrachtete ich die Auslage des Ladens: viel über Stadtgeschichte, preußische Geschichte und Kunst; ein Exemplar der vollständigen Ausgabe eines alten Brockhaus.
Ist dieser Einschub notwendig? Für die Geschichte spielt er ja eigentlich keine Rolle.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.05.2018, 13:39   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Ist dieser Einschub notwendig? Für die Geschichte spielt er ja eigentlich keine Rolle.
Doch. Der Zustand des Wartenmüssens und das Gefühl, dass die Zeit nur schleichend vergeht, wird dadurch hervorgehoben.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.05.2018, 15:00   #4
männlich San Fabiano
 
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Vielleicht ist das etwas ueberinterpretiert.
Aber mir gefällt dass in der Geschichte ein preußisches Bild in dem Augenblick vorkommt. Das wirft für mich ein zweites Licht auf den inneren Konflikt der (un)Pünktlichkeit.
Ueberhaupt gefallen mir die Bilder der Szenerie die das Geschehen untermalen.
San Fabiano ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.05.2018, 16:50   #5
weiblich DieSilbermöwe
 
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Zitat:
.dass in der Geschichte ein preußisches Bild in dem Augenblick vorkommt
Und das ist genau das, wo ich dachte: Oha, ist das nicht so ein Satz, der die Geschichte ausbremst, anstatt sie voranzutreiben? So hätte ich - nach allem, was ich bis jetzt übers Geschichten schreiben mitbekommen habe - den Satz darüber, was da im Schaufenster liegt, egal, was es ist, interpretiert.
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
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