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Alt 20.06.2012, 19:39   #1
Alive93
 
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Standard Nebenan

Nebenan

„Könnten sie bitte die vier für mich drücken?“, fragte sie mich. Was für ein Zufall! Auch mein Zimmer war auf der vierten Etage. Die Fahrstuhltüren gingen zu. Sie schaute kurz in den Spiegel und dann für den Rest der Fahrt auf den Boden. Ihr Blick schien mir etwas zu sagen, doch ich wusste nicht genau was. Man sagt ja, manchen Menschen stünde ihr ganzes Leben ins Gesicht geschrieben. Die Türen gingen auf. Wir gingen den Korridor entlang. Ihr Zimmer befand sich genau neben meinem. Was für ein Zufall!
Später am Abend bekam ich ein Telefongespräch von ihr mit. Es war ein heftiges Streitgespräch. Die Wände in den Hotels sind manchmal dünner als einem recht ist. Ich setzte mich auf den Balkon. Eine halbe Stunde später setzte auch sie sich auf ihren Balkon und zündete sich eine Zigarette an. Ich war allein und sie war allein und schließlich fragte ich sie, ob ich mich zu ihr setzen dürfte. Da saßen wir dann zusammen auf ihrem Balkon. „Wissen Sie“, fing sie an zu erzählen,“ manchmal wünschte ich mir, ich könnte mein Leben noch einmal von vorne anfangen. Jeder sucht doch nach dem großen Glück. Manchmal glaube ich, ich habe es immer an den falschen Stellen gesucht und nie gefunden. Man kann einen Partner haben und trotzdem einsam sein und man kann einen Job haben und trotzdem das Gefühl nicht loswerden, man erreicht nichts und erschafft nichts.“ Nach einigen Minuten des Schweigens antwortete ich:“ Was sie gerade gesagt haben hat mich irgendwie getroffen. Ich habe genau das gleiche auch schon hin und wieder gedacht, doch meistens schaffe ich es, diesen Gedanken zu verdrängen, denn zu was ist er gut? Er könnte einen ja auf die Idee bringen, das es alles keinen Sinn macht.“ Sie zündete sich noch eine Zigarette an, schaute mir ins Gesicht und zeigte auf die Stadt. „Sieh dir doch mal die Stadt an! Die Menschen fahren morgens in die Stadt und abends aus der Stadt und das Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Sie sehen immer den gleichen Ort mit den gleichen Menschen und auch die Erlebnisse sind in ihrer Form immer gleich. Und selbst wenn sie unzufrieden sind, haben sie nicht genug Mut etwas daran zu ändern und haben sich längst damit abgefunden. Das ist doch bei fast allen so, oder? Bei dir doch auch, oder?“ Plötzlich duzten wir uns und es kam mir so vor, als würde ich sie schon ewig lange kennen. Wir schauten in die Nacht, unterhielten uns noch sehr lange und versprachen uns, wir würden die Nacht niemals enden lassen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war sie schon abgereist. Auch ich packte meine Sachen und wollte das Zimmer verlassen, da fand ich auf dem Boden einen Zettel, der wohl unter der Tür hindurchgeschoben wurde. Auf ihm stand „Glaubst du ans Schicksal?“ und eine Telefonnummer. Ich steckte ihn ein, verließ das Zimmer und ging zum Fahrstuhl. „Könntest du bitte das Erdgeschoss drücken?“, fragte ich ein Kind, welches gerade nach oben fuhr. Es schaute lange in den Spiegel und schnitt Grimassen, über die es selber lachen musste.
Ein paar Wochen später hatte mich der Alltag wieder und an einem traurigen Abend kramte ich den Zettel mit der Telefonnummer wieder hervor. Ich wählte die Nummer, aber es nahm keiner ab. Es meldete sich nur der Anrufbeantworter. Am nächsten Abend versuchte ich es wieder und wieder nahm keiner ab. Als ich zum letzten Mal die Nummer wählte war auch der Anrufbeantworter verschwunden.
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