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Alt 22.11.2017, 15:08   #1
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.076


Standard Glühwürmchen

Der Sommerabend war lau. Im letzten Schein der Sonne verblassten die Blüten der Rhododendren. Kristin stand auf der Terrasse und wartete, bis die Nacht sich gesenkt hatte und die ersten Glühwürmchen über dem Rasen tanzten. Dann trat sie zum Tisch, wo zwei Gläser und eine Flasche edlen Rotweins bereitstanden, schenkte ein und beobachtete, wie das Licht hinter dem Fenster im Obergeschoss erlosch.

Als Kristin verhört wurde, vermochte sie nicht zu bezeugen, was schneller war: Die aufblitzende Erkenntnis ihres Gatten, im nächsten Bruchteil einer Sekunde zu sterben, oder die Kugel, die seine Hauptschlagader durchschlug.

Sie saß im Dunkel ihrer Zelle und wunderte sich, dass sie völlig gefühllos war. Weder bereute sie den tödlichen Schuss, den sie als letzten Ausweg sah, sich aus einer Hölle zu befreien, die sie nie für möglich gehalten hatte, noch wollte sich Trauer auf sie legen über enttäuschte Hoffnungen, widersinnige Illusionen und ein falsch gelebtes Leben. Nicht einmal Verbitterung wollte sich einstellen, dass sie zu viele Jahre an Saschas Seite ausgeharrt hatte, ehe sie zur Waffe griff.

Sie war merkwürdig ruhig, beinahe glücklich. Die engen Wände, die fest verschlossene Tür ihrer Zelle und das mit dicken Stäben vergitterte Fenster gaben ihr Sicherheit. Sie war frei!

Es hatte sie Überwindung gekostet, auf Sascha zuzugehen und ihm die einsichtige Ehefrau vorzuspielen, ohne seinen Argwohn zu wecken. Jedes Wort wollte überlegt sein, denn er war unberechenbar. Doch es war ihr gelungen, ihn neugierig zu machen, was sie zur Lösung ihres gemeinsamen Problems vorzutragen gedachte. Dabei hätte er wissen müssen, dass er allein alle Trümpfe in der Hand hielt, während sie ihm nichts anderes als ihre totale Unterwürfigkeit hätte anbieten können - zu wenig für einen Mann, der ohnehin schon den Fuß auf ihrem Nacken hatte.

Als er das Glas vom Tisch hob und ihr ins Gesicht sah, verzog er die Lippen zu einem abschätzigen Lächeln: Weshalb sie sich mit einer viel zu weiten Hose derart die Figur verbaue, sie sähe schrecklich darin aus. Kristin lächelte zurück, griff nach ihrem Glas und nippte am Wein. Das sei die neue Mode und außerdem praktisch, erwiderte sie, zog die Pistole aus der Hosentasche, richtete die Mündung auf ihn und drückte ab.

Ihr war nahegelegt worden, sich einen Anwalt zu nehmen. Aber was hätte sie zu seiner Verteidigungsstrategie beitragen können? Sie hatte aus Notwehr gehandelt, ohne Beweise dafür vorlegen zu können. Sascha war raffiniert genug gewesen, bei all seinen Versuchen, sie aus dem Weg zu räumen, keine Spuren zu legen, die auf ihn hätten verweisen können. Deshalb konnte die Anklage gegen sie nur auf Mord lauten. Fünfzehn Jahre ...

Kristin trat zum Fenster, um den Nachthimmel zu betrachten. Draußen schwebten wieder zahllose Glühwürmchen, wie um der Finsternis eine Seele zu verleihen.

Angeregt vom Zusammenspiel der glimmenden Punkte begann Kristin, sich im Kreis zu bewegen, eine Melodie zu summen und sich im Rhythmus zu wiegen. Sie lebte! Und sie war frei!


22.11.2017
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.11.2017, 19:29   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
Dabei seit: 07/2015
Alter: 60
Beiträge: 6.703


Liebe Ilka,

du bist ja fleißig! Eine Geschichte nach der anderen - schön.

Diese gefällt mir noch besser als das Märchen heute morgen. Ich kann Kristins Freiheit im Eingesperrtsein, wo Sascha ihr jetzt nie wieder etwas tun kann, einerseits verstehen - andererseits auch wieder nicht. Draußen frei zu sein, wäre gewiss noch schöner gewesen für sie...

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
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