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Alt 22.11.2017, 00:00   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Eddies Geschichte

Eddie empfand seinen Namen als Zumutung. Er hätte lieber Neil oder Buzz geheißen nach den ersten beiden Menschen, die den Mond betraten. Eddie! Der Name taugte allenfalls für einen Hundefänger in einem Walt-Disney-Film.

Mit seinem Namen musste er sich abfinden. Ebenso wie mit dem Schicksal, das ihn an den Rollstuhl band.

Aber was heißt „Schicksal“? Bis jetzt hatte er nichts vermisst. Bis auf das Missgeschick mit dem Namen hatten seine Eltern nichts falsch gemacht. Nie hatten sie ihm Steine in den Weg gelegt, mochte er auch die verrücktesten Ideen gehabt haben. Selbst als er die Schule abbrach, weil er sich eine Karriere als Disk Jockey ausgerechnet hatte, und ihre Gesichter bei dieser überraschenden Entscheidung versteinerten, murrten sie nicht.

Er war gut – richtig gut. Er gehörte zu der Sorte, die ohne Mühe mehrere Plattenteller zugleich bedienen konnte, ohne die Übersicht zu verlieren, und der im Minutentakt einen coolen Spruch draufhatte.

Der Job machte ihm Spaß, und er verdiente gut. Seine Augen glitten über die vom Tanz geröteten Gesichter und über die offenen Kehlen, die nach ihren Lieblingssongs grölten. Alles lief wie gewohnt. Bis sein Blick an einem Mädchen haften blieb, das sich mit gesenkten Lidern und geschlossenen Lippen im Rhythmus wiegte, in sich versunken und transparent wie eine Fee.

Sie war anders.

Beim ersten Wimpernschlag fühlte er, dass er verliebt war.

Beim zweiten Wimpernschlag wurde ihm bewusst, dass er in einem Rollstuhl saß, weil er gelähmt war.

Beim dritten Wimpernschlag fasste er den Entschluss zu kämpfen.

„Du musst es wollen!“ hatte seine Mutter immer wieder gesagt, um ihn zu ermuntern, vom Rollstuhl aufzustehen und das Laufen zu versuchen. Nach mehreren Stürzen und einem gebrochenen Handgelenk hatte er aufgegeben.

Gemessen an Jahren war er im Rollstuhl erwachsen geworden; an seinen Fähigkeiten gemessen war er noch ein Kind. Die Appelle seiner Mutter an seine physischen und psychischen Kräfte waren verpufft. Er konnte nicht, wollte nicht - sollte vielleicht auch nicht können und wollen ...

Doch jetzt wollte er. Und er dachte einen Moment lang, er könnte auch. Nämlich einfach aufstehen, zu dem Mädchen gehen und etwas sagen, das ihm Freude macht. Sein Haar berühren. Mit dem Finger die Konturen seiner Lippen nachzeichnen ...

In seinem Körper vermischten sich Sensationen zu einem unkontrollierbaren Spiel. Energien ungeahnten Ausmaßes durchfluteten seinen Körper und setzten ihn unter Hochspannung. Ein Brausen legte sich auf seine Ohren, und so hörte er nicht den Aufschrei der Menschen um ihn herum, als er beim Versuch, aufzustehen, mitsamt seinem Rollstuhl umkippte.

Während ihn helfende Hände zurück in den Rollstuhl hievten, sah er, wie das Mädchen von einem jungen Mann zum Ausgang der Disco geführt wurde. Gut sah er aus, groß und athletisch.

Es war nicht schwer für Eddie, den Namen und die Adresse des Mädchens herauszufinden, denn sie war Stammgast in der Disco. Aber was hätte er ihr bieten können?

Im nächsten Schritt bewarb er sich bei der NASA.

Die Zuständigen lachten sich kaputt, als sie von dem Rollstuhl erfuhren. Als sie jedoch Eddies mathematische Expertise unter die Lupe genommen hatten, verging ihnen das Lachen.

Eddie wurde engagiert. Aber nicht zu dem, was er wollte. Statt in einem Raumschiff ins All geschleudert zu werden, blieb er ein Rädchen im mathematisch hochkarätigen Bodenpersonal, fernab von jeder Geschichtsschreibung.

So vergingen die Jahre. Das Mädchen hatte längst den großen Athleten geheiratet und zwei Kinder geboren. Aber für Eddie war es immer noch die große Liebe.

Dann kam der Tag, an dem bei der NASA alles schief lief. Ein Astronaut hatte einen Herzinfarkt erlitten, und sein Ersatzmann lag auf dem Highway mit eingeklemmtem Bein im Trümmerhaufen eines Fahrzeugunfalls.

Eddie sah seine Chance und meldete sich sofort.

Kein Training, keine Erfahrung, keine Einweisung, keine Zeit ... unverantwortlich, todgeweiht ... wer hält dafür den Kopf hin?

„ICH!“

So kam Eddie seinen Wünschen ein Stück näher: Ihm wurde ein Platz in einem Raumschiff gewährt. Es ging zwar nur um die Versorgung einer Raumstation weit draußen, aber immerhin war es ein Anfang. Und er konnte wie die anderen sitzen und die Kontrollgeräte bedienen. Hier konnte er vergessen, dass er ein Krüppel war.

„Rollstuhlfahrer rettet Astronauten vor dem Verhungern“ lautete die Kolportage einer Tageszeitung, die Eddie zu einem „unrühmlichen Ruhm“ verhalf und gegen die er nicht ohne Aufwand hätte angehen können. Jedenfalls kannte jetzt jeder seinen Namen.

Als Eddie wieder festen Boden unter sich verspürte, klopfte er an des Mädchens Tür. Es war eine schäbige Tür an einem schäbigen Haus. Eddie hatte keine Erwartungen, sondern wollte sich nur vergewissern, dass es dem Mädchen gut geht.

Er sah sich einer verhärmten Frau gegenüber, deren alkoholschwerer Atem ihm entgegenschlug und die ihn fragte, wer er sei und was er wolle. Für Almosen an Krüppel reiche ihre Geld nicht.

Es tue ihm leid, zu spät gekommen zu sein, stammelte er und drehte mit Leibeskräften an den Rädern seines Rollstuhls, um fortzukommen.

Erschöpft hielt er am Straßenrand an. „Das war es also,“ dachte er und konnte die Tropfen nicht verstehen, die ihm aus den Augen perlten.

So verweilte er, bis zwei Hände seinen Rollstuhl ergriffen und eine weibliche Stimme, die hart und weich zugleich war, bestimmte, dass er dort nicht bleiben könne und sagen möge, wo er wohne.

Eddie nannte seine Adresse. Und weil sein Körper und sein Geist in heller Aufruhr waren, fragte er die Stimme, ob sie ihn heiraten möge.

Sie sagte Ja.


21.11.2017
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.11.2017, 08:13   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
Dabei seit: 07/2015
Alter: 60
Beiträge: 6.706


Liebe Ilka-Maria,

ein schönes Märchen und schön erzählt, so mein erster Eindruck (zunächst einmal).

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.11.2017, 09:17   #3
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.082


Danke, Silbermöwe. Ich wolle mal etwas Absurdes schreiben, und da kam ich auf den Rollstuhlfahrer, der Astronaut werden will.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.11.2017, 12:46   #4
männlich dr.Frankenstein
 
Benutzerbild von dr.Frankenstein
 
Dabei seit: 07/2015
Ort: Zwischen den Ostseewellen ertrunken
Alter: 41
Beiträge: 5.468


Schon ganz gut für den Anfang. Spiegelt auch vieles wieder, wie so ein Motivationstext.

Mach ma weiter mit sowas.
dr.Frankenstein ist offline   Mit Zitat antworten
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