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Alt 24.07.2021, 06:19   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Bingo

Wie es seit Generationen Brauch war, zogen auch in diesem Jahr zwischen Ostern und Pfingsten die Wagen des Zirkus Karaban durch die Hauptstraße von Thirschenau und nahmen auf dem Festplatz, einer breitflächigen Wiese zwischen der Stadtkirche und dem Binzbach, ihre gewohnten Plätze ein.

Niemand nahm von dem Wandervolk Notiz. Die Epochen, in denen die Kinder der kleinen Stadt schreiend und gestikulierend den Wagen hinterher liefen und, kaum dass sie an ihrem Ziel angekommen waren, einen nach dem anderen nach exotischen Tieren oder einer bizarr gekleideten Gestalt absuchten, gehörten der Vergangenheit an. Im Zeitalter des Internets konnte der Zirkus mit den Sensationen, die Jung und Alt zur Verfügung standen und jederzeit abrufbar waren, nicht mehr konkurrieren.

Als Familienunternehmen beschäftigte der Zirkus zwar schon immer eine überschaubare Anzahl von Künstlern, dennoch forderten die schwindenden Zuschauerzahlen und verknappten Einnahmen ihren Tribut. Über die Jahre schrumpfte das Unternehmen, indem man Vorführungen aus dem Programm nahm, umsichtig wägend, um trotz ihres hohen technischen und finanziellen Aufwandes nicht ausgerechnet jene Nummern zu streichen, die zu den attraktivsten gehörten. Am Ende war von den Zugnummern nicht viel übrig geblieben, denn einem Trend zufolge, der die Dressur exotischer Tiere verteufelte, schickte man die Dompteure der Löwen, Tiger, Kamele und Elefanten in die Wüste. Auch bei den weniger spektakulären Nummern reduzierte man alles, was Futter verbrauchte und Kosten beim Veterinär verursachte, auf das Minimum von fünf Pferden und acht Hunden, so dass die Hauptlast des Programms auf den Artisten, Akrobaten, Zauberkünstlern und Spaßmachern lag.

Mit den Jahren war auch das Zelt kleiner geworden, so dass es am selben Tag, an dem der Zirkus in Thierschenau angekommen war, aufgebaut werden konnte, am Abend fix und fertig dastand und die Künstler am nächsten Morgen ihre Nummern für die Nachmittagsvorstellung einüben konnten. Reine Routine, aber ein täglicher Kampf ums Überleben.

* * * * *

„Bingo der Clown“ stand mit seinen Partnern „Pepe der Hofnarr“ und „Carlos der Patron“ hinter dem Eingang zur Manege und hörte der Ankündigung ihres Auftritts zu. Während der Zirkusdirektor das Publikum unterhielt, stellten seine Assistenten das Gerüst für die akrobatischen Einlagen der Spaßmacher auf. Neugierig lugte Bingo durch einen Spalt des Vorhangs in die Manege und prüfte die Zuschauerränge. Wie nicht anders zu erwarten, waren sie nur halb besetzt. Weibliche Besucher waren in der Überzahl, Mütter, Großmütter, Tanten, ältere Schwestern – was auch immer -, die Mädchen vom Kindergarten- bis zum Grundschulalter begleiteten. Buben waren wenige zu sehen, die meisten klein genug, um sich von den Darbietungen eines Zirkus noch beeindrucken zu lassen.

Die Ansage wurde mit einem kurzen Schlagzeuggetöse und dem Willkommensapplaus des Publikums beendet. Bingo gab sich einen Ruck, um sein Gefühl der Resignation abzuschütteln und sich auf seine Nummer zu konzentrieren, und betrat mit seinen beiden Partnern die Manege.

Als eingespieltes Team spulten sie ihre akrobatischen Nummern mit absichtlich ungeschickten Verrenkungen und Beinahe-Unfällen ab, unbekümmert, ob dabei etwas schiefgehen könnte oder nicht, denn ihr körperlicher Einsatz war ungefährlich und deshalb jeder Lapsus leicht als eine zusätzliche komische Einlage verkäuflich. Sowieso schienen sie heute beim Publikum wieder nicht zu punkten, wie der laue, manchmal fehlende Beifall bezeugte.

Kurz vor Ende des Auftritts verbeugte sich Carlos zum Abschied, knapp und eckig, denn er hatte keinen Grund, enthusiastisch zu sein. Der letzte Teil gehörte Bingo, der auf der uralten Nummer des Dummen August nicht verzichten wollte, obwohl sie mittlerweile den Charme einer ausgeleierten Schallplatte hatte. Für ihn war sie ein Klassiker, ein Stück Tradition, die weit in die Geschichte der fahrenden Schaustellerkaste zurückreichte und deshalb wie das Vaterunser abgebetet werden musste.

Nachdem er eine einfache Aufgabe, die Pepe ihm gestellt hatte, nicht lösen konnte und in Tränen ausbrach, kam der unvermeidbare Gummihammer zum Einsatz, und als Pepe damit auf Bingos Glatze schlug, formte sich eine rosarote Blase auf seinem Kopf, die immer größer wurde, bis sie wie nach dem Knall eines Pistolenschusses zerplatzte. Ein paar Kinder im Publikum Grölten vor Vergnügen, doch die schon größeren riefen „Buh“, und manche saßen teilnahmslos auf den Rängen und bearbeiteten ihre Smartphones. Als Pepe den Gummihammer nochmal hob und ihn auf Bingos Kopf sausen ließ, mischte sich in die Geräuschkulisse aus Gegröle und Buhrufen ein steinerweichender Schrei: „Nein, nicht! Das tut ihm doch weh!“

Bingo sah in die Richtung, aus der er den Protest vernommen hatte. In der Mitte des Rundes, gegenüber dem Zutritt zur Manege, saß eine Frau mit einem kleinen Mädchen, das lauthals schluchzte. Das Kind mochte sieben oder acht Jahre alt sein, eigentlich groß genug, um diesen Spaß nicht mit Ernst zu verwechseln. Offensichtlich handelte es sich um ein besonders empfindsames Wesen. Die Frau versuchte, das Mädchen zu trösten, vergeblich. „Der da soll aufhören!“ Dabei zeigte das Kind auf Pepe, der von Bingos nachlassender Aufmerksamkeit für ihre Darbietung einen Moment lang verunsichert war. Als er dann aber doch wieder den Gummihammer hob, hielt Bingo ihn mitten in der Bewegung am Arm fest. „Schluss. Wir beenden die Nummer. Verbeug dich.“

In seinem Wagen ließ er sich erschöpft auf sein Bett fallen. Nicht erschöpft von der Arbeit in der Manege, sondern von den Bildern, die seinen Kopf überfluteten wie ein wild zusammengeschnittener Kinofilm. Die Frau im Publikum, die das kleine Mädchen tröstete, Ende dreißig und immer noch so attraktiv wie damals. Er rechnete nach, so gut es sein Gedächtnis erlaubte. Das Mädchen. Es musste ziemlich genau sieben Jahre alt sein.

* * * * *

„Ich kann nicht mehr so weitermachen, Tanja. Etwas muss sich ändern.“

„Es wird sich aber nichts ändern. Wir wurden alle mal auf ein Gleis gesetzt, und jetzt müssen wir darauf weiterfahren. Sonst war alles zuvor umsonst.“

„Nichts ist für ewig in Stelen gemeißelt. Selbst die babylonischen Herrscher ließen sie von ihren Inschriften befreien und wieder glätten.“

„Wir sind aber nicht in Babylonien, und du bist nicht Hammurabi. Was ist denn für dich so unerträglich, dass du meinst, ein besonderes Leben führen zu müssen?“

„Ich will kein besonderes Leben führen, sondern mein eigenes Leben. Der Alte gibt mir im Stundentakt zu verstehen, dass er mich für ein Arschloch hält, obwohl ich gute Arbeit leiste und ihm den Laden schmeiße, so dass er mit seiner Prunkvilla und seinem Porsche angeben kann. Und dein Vater hält mich für einen Versager, weil ich noch immer von der ersten Million meilenweit entfernt bin. Als ob Geld alles im Leben wäre.“

„Und was ist deiner Meinung nach alles im Leben?“

„Das zu tun, für das man geschaffen ist. Berufung. Kein Korsett, sondern die Freiheit, sich zu entdecken und seinem innersten Drang nachzugehen.“

„Das ist absurd. Und unrealistisch. Wir sind Teil einer Gesellschaft, und wenn wir in ihr leben und ihren Schutz genießen wollen, müssen wir die Rolle spielen, die sie stabil erhält. Dafür wurden wir erzogen, und zu recht. Alles andere sind Flausen.“

„Flausen …“

„Jawohl, Flausen. Du hast eine gute Ausbildung und einen Beruf. Dein Gehalt ist hoch genug, einer Familie alles bieten zu können. Dein Chef macht dich nieder, weil er spürt, dass du ihm überlegen bist, aber du bist sein bestes Zugpferd. Warum stehst du nicht einfach über den Dingen?“

„Über den Dingen? Du hast es nicht kapiert, Tanja, diese Dinge machen mich kaputt. Es gibt Tage, da würde ich am liebsten vom Dach springen.“

„Du steckst in einer Krise. Vielleicht solltest du zu einem Therapeuten gehen und …“

„Hör doch endlich auf mit dieser Klugscheißerei! Ich versuche dir, etwas klarzumachen. Ich will keine Ratschläge von dir, sondern dass du mich verstehst.“

„Aber wenn es so wäre … Also, gesetzt den Fall, ich verstünde, was du mir sagen willst, würde das etwas ändern? Wäre da nichts mehr zwischen uns, keine gemeinsame Zukunft, nichts mehr von unseren Plänen. Wäre ich dann nicht schwanger?“

Er ließ entmutigt den Kopf sinken und schwieg.

* * * * *

Bingo stand auf, ging zum Einbauschrank, holte eine Flasche Remy Martin heraus und goss sich ein Wasserglas dreiviertelvoll. Während er daran nippte, ließ er seiner Erinnerung weiterhin freien Lauf. Sie war ohnehin nicht zu stoppen und dabei, ihn nicht nur zu überrennen, sondern niederzutrampeln.
Wie hatte er das nicht berücksichtigen können? Thierschenau. Sie lebte noch immer hier, sie hatte eine kleine Tochter, und auch, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass sie mit ihr zu einer Zirkusveranstaltung gehen würde, gegen Null tendierte, lag sie doch im Bereich des Möglichen.

Tanja. Sie war schwanger, die Hochzeit geplant. Aber je mehr sie über ihre Zukunft sprachen, umso häufiger stritten sie sich. Was wie traute Einvernehmlichkeit erschienen war, wurde zu einem von Erdbeben und Gräben durchzogenes Land, auf dem das Gehen immer unsicherer wurde.
Dann kam der Tag der Eskalation. Mit dem Rücken zur Wand donnerte es aus ihm heraus: „Nicht ich bin hier das Arschloch, sondern Sie. Erledigen Sie Ihren Scheißkram selbst und fahren Sie mit ihrem Porsche zur Hölle!“

Er stand auf der Straße. Beim Heimgehen, als er überlegte, wie er seine Rebellion und ihre Folgen Tanja beibringen konnte, kam er am Festplatz vorbei. Dort waren die Zirkusleute dabei gewesen, das Zelt aufzubauen.

Er schlenderte zwischen den Wagen hindurch und fragte einen Jongleur, den er beim Üben unterbrach, nach dem Direktor.

Der sah ihn skeptisch an. „Was können Sie?“

„Eigentlich nichts. Ich bin als Schüler in der Theatergruppe aufgetreten. Komische Rollen. Aber ich glaube, darin war ich ganz gut.“

„Verkappter Schauspieler. Wir können einen Clown gebrauchen. Trauen Sie sich das zu? Erst einmal ohne Gage. Nur für Kost und Logis.“

„Bin dabei.“

Er warf seine Aktentasche in den Binzbach, zog seinen Anzug aus und schlüpfte in die bunten Flicken eines Clowns. Das Abendessen nahm er mit seinen neuen Kollegen ein.

* * * * *

Die Ausreden von Männern, die sich aus der Verantwortung stehlen oder erkennen, dass sie im falschen Leben gelebt haben, sind vielfältig. Sie reichen von der Flucht aus Altlasten, die sie nicht verursacht hatten, sondern ihnen aufgebürdet wurden, bis hin zum Zigarettenholen, von dem sie nicht mehr zurückkehren.

Bei Bingo, für den sein bürgerlicher Name längst zum Pseudonym geworden war, hatte der Zirkus die Stelle des Zigarettenholens eingenommen.

Er war nicht über Nacht, sondern über Tag verschwunden. Unter den Schutz eines Zeltes, unter dessen Himmel er sich aus seiner Puppe befreien und zu einem Schmetterling werden konnte. Zu einem Falter mit kurzer Lebenszeit. Er war ein Saisonarbeiter, dessen Uhr runtertickte.

Thieschenau. Er machte sich auf den Weg zu dem Viertel, in dem sie damals lebten. Wie in einem Zwang ohne Auflösung. Mit Sicherheit lebte sie nicht mehr dort, nach all den Jahren, und er würde innerlich beruhigt wieder in den Schutz seines Wagens zurückkehren können. Jeder seiner Schritte war begleitet von den Geistern der Vergangenheit, die ihn verlachten. Nichts bleibt, du Narr, alles fließt.

Die Außenwand des Hauses war vom Wetter fleckig geworden. Durch den Mörtel zogen sich blitzlinienartige Risse. Die Umgebung wirkte heruntergekommen und billig. Auf dem Zugangsweg zur Haustür spielten ein Junge und ein Mädchen mit vor Ehrgeiz geröteten Wangen Federball.

Das Mädchen aus dem Zirkus. Bingo ging auf das Kind zu. „Wohnst du hier?“

Es nickte, fügte aber hinzu: „Ich darf nicht mit Fremden sprechen.“

„Aber ich bin …“. Er besann sich und behielt den Rest dessen, was ihm beinahe über die Lippen gerutscht wäre, für sich. Der Junge eilte herbei, nahm das Mädchen schützend in die Arme und machte mit seinem Blick keinen Hehl aus seinem Misstrauen.

Bingo ließ von den beiden ab und ging zur Haustür. Auf der Klingelleiste stand noch immer ihr Name. Während er überlegte, sie zu drücken oder nicht, kam eine Frau heraus, schwer beladen mit einem Koffer und nicht in der Laune, von ihm Notiz zu nehmen. Er nutzte die Gelegenheit, ins Treppenhaus zu schlüpfen.

Zweiter Stock. Wie damals. Dieselbe Tür, mittelbraun furniert, Sicherheitsschloss, Spion auf Augenhöhe. Sogar die Fußmatte war noch dieselbe wie vor acht Jahren: grauer Untergrund, darauf eine schwarze Katze, die auf ihren Hinterpfoten stand und versuchte, einen rosa Schmetterling zu fangen.

Er setzte den Daumen auf die Klingel, und nach kurzem Zögern drückte er sie.

* * * * *

Tanja hatte zu tun. Es war Kristinas Geburtstag, und nach Tanjas erstem Geschenk an ihre Tochter, dem Zirkusbesuch, war eine Kinderparty angesagt. Eine ganze Rasselbande war eingeladen, und wohlweislich, um ihre Nerven zu schonen, hatte sie eine Freundin um Unterstützung gebeten, die von Beruf Erzieherin war und eine Menge Programm auf Lager hatte, um die Kinder zu unterhalten, aber auch in Schach zu halten.

Als sie den Kuchenteig in den Ofen schob, war ihr, als habe jemand geläutet. Sie drehte die Lautstärke des Radios runter, um sicher zu gehen. Ja, da war jemand, der etwas von ihr wollte.

Durch den Spion konnte sie niemanden sehen. Sie öffnete die Tür, trat hinaus und schaute in den Schacht des Treppenhauses. Nichts. Kein Schritte, kein hörbares Atmen. Absolute Stille.

Nichts außer dem Duft, der in der Luft hing und eine Saite in ihr anschlug.

Benommen ging sie in ihre Wohnung zurück und schloss die Tür.
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Alt 24.07.2021, 14:40   #2
männlich Dionysos von Enno
 
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Standard liebe ilka

Tanja gefällt mir gut. Sie verurteilt nicht. Das macht ihren Storyeinstieg für MICH berührbarer, ernstzunehmender. Etwas befremdlich finde ICH ihre emotionale Distanz in entscheidenden Schlaglichtern, an den gezeigten Schlüsselpunkten.

Gerade am Anfang war MIR der Schreibstil zu nüchtern: es las sich für MICH wie ein wissenschaftlicher Artikel. Das hat sich aus MEINER Sicht später positiver aufgelöst.

Ich konnte zu beiden schnell eine Beziehung aufbauen und beider Schicksal ist mir recht schnell nicht mehr gleichgültig gewesen.

Es war mir stellenweise etwas zu wenig: "Show, don´t tell" aber der Dialogfluss ist gelungen. Der Rapport, der Stream of consciousness fließt, was ICH sehr schön finde. Ich habe mich also in Deiner Geschichte recht schnell eingefunden. Schade, dass sie so schnell vorbei war, gerade da, wo es interessant wird...

Manchmal waren MIR ein paar Klischees zu viel dabei (der porschefahrende Chef, der STÜNDLICH nörgelt (Wer wirklich Geld hat und das zeigen will, fährt möglicherweise eher Bentley oder Maserati). Dass man in den Managementetagen von "der Alte" spricht kenne ich jetzt so nicht.. Dass es immer um Geld und dann gleich um MILLIONEN ist mir etwas zu klischeehaft. Ist das wirklich das wichtigste, was sich Tanjas Vater für sie wünscht im Hinblick auf ihren Ehemann ? Gut gelungen finde ich die Milieustudie bezüglich des Zirkuslebens.

Das Bingo sich mit den Babyloniern so gut auskennt fand ICH etwas unglaubhaft. DAS hätte ICH eher Tanja zugeschrieben. Warum sollte jemand, der es als Erfüllung erlebt, Clown zu werden, ein derart genaues Hintergrundwissen in diesem doch sehr speziellen Bereich sich angeeignet haben ? Als verbindende Gemeinsamkeit erscheint es mir nach allem was ich über beide bisher erfahren hatte nicht glaubhaft.

Dass Tanja mit ihrer siebenjährigen Tochter NICHT in den Zirkus in der Kleinstadt gehen würde, das hätte ICH eher für das unwahrscheinlichere gehalten. Dass also ihr Vater dort auf sie treffen würde, wäre für mich das eher wahrscheinlche gewesen. Wenn er immer noch so viel Interesse an ihnen und ihrem Leben hat, hätte man möglicherweise das im VORFELD der Vorstellung noch besser beleuchten können. Das hätte uns einen besseren Blick auf Bingos tatsächliches Verständnis seiner aktuellen Situation und Einordnung in seinem Leben ermöglicht. So bleibt die Figur MIR etwas zu reduziert.

Ich mag Tanja, ich würde gern mehr über sie, ihr Leben, ihre Herausforderungen aber auch ihre Ängste und Unsicherheiten als starke alleinerziehende Frau lesen und natürlich gerne ihre Entwicklung lesend begleiten. Da steckt eine MENGE Potential drin, meine ICH.

mes compliments

Dio

Geändert von Dionysos von Enno (24.07.2021 um 16:31 Uhr)
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Alt 24.07.2021, 16:49   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Dionysos von Enno Beitrag anzeigen
Manchmal waren MIR ein paar Klischees zu viel dabei (der porschefahrende Chef, der STÜNDLICH nörgelt (Wer wirklich Geld hat und das zeigen will, fährt möglicherweise eher Bentley oder Maserati). Dass man in den Managementetagen von "der Alte" spricht kenne ich jetzt so nicht.. Dass es immer um Geld und dann gleich um MILLIONEN ist mir etwas zu klischeehaft.
Danke für die Rückmeldung.

Ich greife nur mal dieses Zitat auf. Mit den Autos bist du offensichtlich nicht auf der Höhe der Zeit. Ein Porsche ist seit Jahren ein Muss, nicht selten als Zweitwagen, denn geschäftlich reisen Manager im BMW oder Mercedes - daran hat sich nichts geändert. In der Tiefgarage der Law Firm, in der ich arbeitete, standen die Porsche reihenweise herum, sogar die Office Managerin fuhr so ein Ding. Ich hatte mal den Porsche meines Bosses gefahren, ein Wahnsinnsgeschoss, bei dem ich mich fühlte, als säße ich in einem Flieger. Der Porsche gilt als Geldanlage, denn keine andere Marke ist so gut wiederverkäuflich. Für einen BMW, um das Gegenbeispiel zu bringen, bekommt man so gut wie nichts mehr.

Bingo gehörte nicht zur Mangement-Etage, sondern unterstand ihr.

Eine Million ist heutzutage Pillepalle. Altkanzler Kohl hätte "Bimbes" gesagt.

Was die Story insgesamt angeht: Sie ist eine Grundidee, die ich im Schnellgang festhalten wollte. Natürlich ist sie noch überarbeitungs- und ausbauwürdig. Das ist jeder Text, denn es gibt nichts Perfektes.

Zitat:
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Das Bingo sich mit den Babyloniern so gut auskennt fand ICH etwas unglaubhaft. DAS hätte ICH eher Tanja zugeschrieben. Warum sollte jemand, der es als Erfüllung erlebt, Clown zu werden, ein derart genaues Hintergrundwissen in diesem doch sehr speziellen Bereich sich angeeignet haben ?
? Das lernt man im 5. Schuljahr, jedenfalls war das zu meiner Zeit so. Was soll daran denn Hintergrundwissen sein? Noch nie etwas von Keilschrift und den frühen Gesetzgebern gehört?
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Alt 24.07.2021, 17:37   #4
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Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Für einen BMW, um das Gegenbeispiel zu bringen, bekommt man so gut wie nichts mehr.

Bingo gehörte nicht zur Mangement-Etage, sondern unterstand ihr.
Das mit dem Porsche ist definitiv richtig. Mein langjährigster Freund der in London lebt und seinen eigenen Industriekonzern aufgebaut hat, fährt Porsche. Bentley ist eine ganz miserable und kitschige luden-schaukel. schaut innen aus wie eine furnierte Küche.

Ich bin 18 Jahre lang 750ER BMW gefahren und habe den letzten (Kaufpreis 1,4 mio ATS) nach acht Jahren um 1500€ verschenkt. ich fahre nun seit 12 jahren S500 lang (der letzte 167.000€ ist noch genau 25K wert.

Der Text gefällt mir gut und ich mag deinen Stil. Man kann da und dort ev. sagen: ich würde es ein bisschen anders schreiben, was keine bedeutung hat. Dann muss man so eine Geschichte selbst schreiben
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Alt 24.07.2021, 18:22   #5
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In meiner Familie fährt sogar ein Handwerker einen Porsche. Außer dem Firmenwagen natürlich. Ich würde mir selbst einen Porsche kaufen, wenn mein Mercedes in die Knie ginge. Tut er aber nicht. Der absolviert im Moment sein 33. Lebensjahr, läuft wie Lottchen und ist als der "W 124" legendär ("der Unverwüstliche"). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte ihm vor ein paar Jahren eine ganze Seite Bericht gewidmet, weil er auf dem gesamten Erdball noch immer gesichtet wird.

Die Karre wird von mir gefahren, bis sie mir unter dem Hintern zusammenbricht. Ich bin noch nie in meinem Leben so kostengünstig Auto gefahren wie mit dem W 124. Auf Klimaanlage und Navi ist gepfiffen. Ich bin gesund genug, Hitze zu vertragen, und ich gehöre zu den seltenen Exemplaren, die noch Straßenkarten lesen können.
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Alt 24.07.2021, 21:08   #6
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Zitat:
Das Bingo sich mit den Babyloniern so gut auskennt fand ICH etwas unglaubhaft.
Ich muss noch mal auf diesen Einwand zurückgreifen, weil er das klassische Beispiel dafür ist, wie man einen Menschen unterschätzen kann.

Kennt hier noch jemand Peter Frankenfeld? Als er auf einer Zugreise war, saß er im selben Abteil mit Lonny Kellner, einer bekannten Schlagersängerin. Frankenfeld missbilligte die Schlagerszene. Die Frau ihm gegenüber war hübsch, konnte aber nichts im Hirn haben, wenn sie so einen Schmalz sang. So dachte er.

Sie las in einem Buch. Darin ging es um Philsophie. Frankenfeld: "Ich kann es Ihnen erklären, falls Sie es nicht verstehen."

Sie lächelte. "Danke, ich komme zurecht."

Die beiden heirateten und führten eine gelungene Ehe, denn Lonny war mit ihrem klugen Kopf Frankenfelds zuverlässigster Berater bei der Ausrichtung seiner Fernsehshows.

Never ever underestimate a human being!
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Alt 24.07.2021, 21:29   #7
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Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Ich muss noch mal auf diesen Einwand zurückgreifen, weil er das klassische Beispiel dafür ist, wie man einen Menschen unterschätzen kann.

Kennt hier noch jemand Peter Frankenfeld? Als er auf einer Zugreise war, saß er im selben Abteil mit Lonny Kellner, einer bekannten Schlagersängerin. Frankenfeld missbilligte die Schlagerszene. Die Frau ihm gegenüber war hübsch, konnte aber nichts im Hirn haben, wenn sie so einen Schmalz sang. So dachte er.

Sie las in einem Buch. Darin ging es um Philsophie. Frankenfeld: "Ich kann es Ihnen erklären, falls Sie es nicht verstehen."

Sie lächelte. "Danke, ich komme zurecht."

Die beiden heirateten und führten eine gelungene Ehe, denn Lonny war mit ihrem klugen Kopf Frankenfelds zuverlässigster Berater bei der Ausrichtung seiner Fernsehshows.

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Liebe, ICH vermutete seine INTERESSENLAGE dort einfach nicht so wie ich ihn aufgenommen hatte und Du es mir jetzt noch einmal auseinandergesetzt hattest.

Aber Bingo ist doch ein total spektakulärer Typ, wie er einfach so ausbricht und "seinem Weg" folgt, trotz des kommenden Babys etc. In seiner Figur ist offenbar eine große Leidenschaftlichkeit, Berührbarkeit und Bildungstiefe aber eben auch Radikalität angelegt. Sonst hätte er das Wort "Berufung" in dem Gespräch doch nicht in diesem Kontext bringen können. Er sagt: Ich will kein besonderes Leben führen, sondern mein eigenes. Er wusste von dem kommenden Baby, wusste von der schönen, klugen Freundin, die ein GEMEINSAMES Leben wollte und doch lässt er das hinter sich, um der Clown zu werden. Das setzt doch EINIGES an Reflektionsfähigkeit voraus, sich dann SO zu entscheiden, meine ICH und da ist eben eine wunderbare Spannungskurve und Entwicklungspotential in der Beziehung angelegt in dem total konservativen Sicherheitsgedanken der werdenden Mutter auf der einen Seite, das Sie andeutet und seiner radikalen "Flucht" zu oder von sich selbst, jedenfalls aber weg von seiner Familie. Das würden wir vermutlich im weiteren Verlauf des Buches noch erfahren.

Wenn Du sagst, die babylonischen Stelen sind für ihn total vertraut, und im Konfliktgespräch über die Zukunft der Beziehung ist das der gemeinsame Nenner, auf dem sie sich initial begegnen und von dem alles weitergesponnen wird, dann ist das so. Er spricht ja aus Dir.

Dann aber wieder auch Octavio Paz: »Der Schriftsteller spricht nicht vom Nationalpalast, vom Volksgerichtshof oder von den Büros der Zentralkomitees aus; er spricht nicht im Namen der Nation, der Arbeiterklasse, der Parteien. Er spricht nicht einmal im Namen seiner selbst: das erste, was ein wahrhaftiger Schriftsteller tut, ist, an seiner eigenen Existenz zu zweifeln. Literatur beginnt, wenn einer sich fragt: wer spricht in mir, wenn ich spreche?«

In meinen Augen ist es ohnehin -wie Ralf zutreffend schrieb- für die Magie, die der Text ohne Zweifel innehat "ohne Bedeutung". Die bereits angelegten Spannungsbögen bieten so schon genug Entwicklungspotential bei den Figuren.

mes compliments

Dio
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Alt 24.07.2021, 23:12   #8
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der moderne Mann pfeift auf ein zu erwartendes Baby, denn was kann er dafür nur dass er frühzeitig e...hm...ja...kuliert hatte. Ich bin der Meinung man müsste diese irrtümlich gezeugten Kinder unverzüglich in spezielle Ultra moderne Institutionen bringen und ihnen dann dort zeigen wie das wahre Leben ausschaut und sie nicht bei einer armen verlassenen Mutter herum lungern lassen. Ich würde so ein Projekt LEBENSSPORN nennen. Die Kinder werden total verwöhnt und angespornt zu Höchstleistungen.
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Alt 25.07.2021, 04:35   #9
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Menschen handeln nicht ständig rational. In Konfliktsituationen kommt es sogar zu extremen Reaktionen. Genau davon leben die Geschichten, die in der Literatur und auf der Kinoleinwand erzählt werden.

Eine kluge Freundin zu haben und die Aussicht, Vater zu werden, kann für einen jungen Mann sowohl eine Verheißung wie auch eine Überforderung darstellen. Oft wird unterschätzt, dass junge Menschen mit einem Berufsleben und der Familiengründung konfrontiert sind, ohne dafür ausreichend gewappnet zu sein. Wir legen ein Alter fest, um Jugendliche für mündig zu erklären, aber das ist kein Maßstab für ihre wirkliche Reife. Ich habe beides kennengelernt: Mein Vater hatte die Reife, mein Ex-Mann nicht. Weil ich in einem starken Vertrauen auf einen Mann, nämlich meinem absolut standfesten Vater, herangewachsen bin, war die Erfahrung mit meinem labilen, nur an Oberflächlichkeiten interessierten Ex-Mann eine Sicht auf die Welt, die ich mir besser hätte ersparen sollen.

Vielleicht braucht man solche Erfahrungen, um Geschichten schreiben zu können.
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Alt 26.07.2021, 19:16   #10
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Zitat:
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Menschen handeln nicht ständig rational. In Konfliktsituationen kommt es sogar zu extremen Reaktionen. Genau davon leben die Geschichten, die in der Literatur und auf der Kinoleinwand erzählt werden.
Absolut richtig ich erlebe das seit ungefähr zwei Jahren mit der Gefährtin und geliebten eines engen Freundes
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