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Alt 02.09.2017, 16:29   #1
männlich Diofernes
 
Dabei seit: 06/2017
Ort: Berlin
Beiträge: 2


Standard Sich nix gefallen lassen (eine Hommage an Gerhard Zwerenz)

Möchte euch endlich mal mit einem Beitrag beglücken, nachdem ich mir bisher nur stumm eure Beiträge angeschaut habe.

Sich nix gefallen lassen

Ich war früher oft selbst mit dem Fahrrad unterwegs. Und als Autofahrer hatte ich auch nie erwähnenswerten Ärger mit Radfahrern. Alles nur eine Frage der Perspektive. Leben und leben lassen war meine Devise.
Das hat sich dann aber gründlich geändert. Nämlich als mir ein Radfahrer in der Schönhauser Allee beim Vorbeischlängeln an einer roten Ampel mit dem Ellenbogen den linken Seitenspiegel abgeknickt hat und bei Rot über die Ampel weitergefahren ist.
Das wollte ich mir natürlich nicht einfach so gefallen lassen. Ich fuhr dem Verkehrsrowdy hinterher und bedachte ihn auf gleicher Höhe mit einigen Schimpfworten und zeigte ihm den Stinkefinger. Statt einer schuldbewussten Geste, mit der ich eigentlich gerechnet hatte, zog sich diese bunte Nylonwurst die Stöpsel aus den Ohren und den schnittigen Helm tiefer in die Stirn und trat mit seinem linken Fuß kräftig gegen die Beifahrertür meines Autos.
Ein paar Querstraßen weiter, vor einer Ampel, habe ich ihn wieder eingeholt und verpasste mit meiner Stoßstange seinem Hinterrad einen leichten Schubs. Er verlor sofort das Gleichgewicht und schlitterte genau wie sein protziges Rennrad über den Asphalt. Ich stieg mit einem zufriedenen Lächeln aus und stellte mich triumphierend vor ihm in Pose. Halb nackig, nur mit den zerrissenen Fetzen seiner Radlerkluft am Leib, glotzte er mich ungläubig an.
Doch in diesem Moment hieb mir völlig unerwartet ein anderer Radfahrer, der den Vorfall beobachtet zu haben schien, mit voller Wucht eine Luftpumpe ins Kreuz. Worauf ich mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden ging.
Nun schaltete sich aber ein anderer Autofahrer in die Auseinandersetzung ein und schlug mit einem großen Schraubenschlüssel auf den hinzugekommenen Radfahrer ein.
Ein fester Tritt ins Gemächt von einer behelmten Rennradlerin stoppte den mir zu Hilfe gekommenen Mann mit dem Schraubenschlüssel.
Während der Rotphase der Ampel hatten offenbar einige der Autofahrer das Geschehen beobachtet. Zu meiner Überraschung erfasste sie eine Welle der Solidarittät. Sie ließen ihre Fahrzeuge einfach auf der Straße stehen und eilten herbei. Der Verkehr auf der von Auto- und Fahrradfahrern gleichermaßen vielbefahrenen Straße kam nun vollständig zum Erliegen.
Doch auch die Fahrradfahrer zeigten Flagge. Schon bald standen sich zwei jeweils etwa 30 Personen zählenden Parteien kampfbereit und pöbelnd gegenüber. Ein heimtückischer Steinwurf aus der Gruppe der Radler, der die Windschutzscheibe eines Autos bersten ließ, war das Signal zur Attacke. In blinder Wut stürzte ich mich zusammen mit anderen Autofahrern auf die abgestellten Fahrräder, während sich die Fahrradfahrer über die verlassenen Autos auf der Straße hermachten.
Die unbeteiligten Fußgänger, die mittlerweile eine größere Menschenmenge bildeten, applaudierten begeistert und feuerten beide Parteien an. Ebenso die Menschen auf den Balkonen und an den Fenstern der umliegenden Häuser, die durch den Lärm und das geschrei aufmerksam geworden waren. Im Nu war alles Schrott, ganz gleich, ob es zuvor 2 oder 4 Räder gehabt hatte.
Über die sozialen Netzwerke sprach sich der Tumult im Prenzlauer Berg wie ein Lauffeuer in ganz Berlin herum und wiederholte sich andernorts. Erst nur vereinzelt, aber dann immer öfter und schließlich gab es überall in Berlin gewalttätige und unversöhnliche Auseinandersetzungen zwischen Fahrrad- und Autofahrern. Und es dauerte nicht lange, bis der von mir verursachte Zwist ganz Deutschland erfasste.
Der Bundesregierung blieb nichts anderes übrig, als zu meiner Genugtuung und unter dem schärfsten Protest der Umweltverbände und der Grünen, das Radfahren in Deutschland zu verbieten.
Holland ergriff natürlich sofort Partei für die Radler und verbot Deutschen die Einreise mit dem Auto. Daraufhin verbot Deutschland den Holländern die Ein- und Durchreise mit auf Autodächern oder am Heck von Caravans montierten Fahrrädern. Dies wiederum konterte die holländische Regierung mit einem sofortigen Einfuhrverbot deutscher Autos. Was deutschland natürlich keine andere Wahl ließ, als die Einfuhr holländischer Tomaten zu verbieten.
Da nun aber Frankreich sehr empfindlich auf jede Restriktion im Handel mit Agrarprodukten reagiert, solidarisierte es sich mit Holland und belegte den Import deutscher Autos mit saftigen Strafzöllen. Das konnte sich Deutschland nicht gefallen lassen und verhängte seinerseits Strafzölle auf französischen Käse und Croissants und verbot die Übertragung der Tour de France. Weil die Italiener passionierte Autofahrer sind und Radfahrer schon immer für eine lästige Unterart von Fußgängern hielten und überdies Zölle auf ihre rasch rostenden Fiats befürchteten, schlugen sie sich auf die deutsche Seite.
So hat es dann nicht lange gedauert, bis die EU auseinanderbrach und Europa sich in zwei in etwa gleich große Blöcke einander feindselig gesinnter Staaten aufspaltete. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis irgendjemand aus einem der beiden Lager heimtückisch einen Stein warf.
Und nun hocke ich in einem kalten Bunker und warte auf die Entwarnung des Fliegeralarms, nur weil ich mir nicht alles gefallen lassen wollte.
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kurzgeschichte



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