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Philosophisches und Nachdenkliches Philosophische Gedichte und solche, die zum Nachdenken anregen sollen.

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Alt 24.07.2023, 23:07   #1
weiblich Ottilie
 
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Standard Feige Völker

Ach, es suchen feige Völker,
wenn ihr Staat zusammenbricht,
ziemlich schnell nach einem Grunde,
der sie zeigt in bess’rem Licht.

Plötzlich waren Sie Akteure,
Widerständler und furchtlos.
Viele schreien: Seht, wir gaben
diesem Staat den Todesstoß!


Dabei haben sie gezögert,
abgewartet bis zuletzt
und geschaut aus sich’rer Deckung,
wer sich wohl zum Schluss durchsetzt.

Vielleicht noch die alten Kräfte,
Dienste, Apparatschiks, Militär?
Vielleicht doch die Träumer, Spinner?
Manchmal fällt ein Urteil schwer…

Ist die Sache dann entschieden
und am Ende, was einst war,
schrein der Völker Feige: Wende!
Hoch lebe der neue Zar!


Mutig sind immer nur wen’ge,
unabhängig, frech und frei.
Diese ruft man an fürs Ganze –
eine echte Sauerei.
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Alt 25.07.2023, 10:10   #2
männlich Heinz
 
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Ach, liebe Ottilie,
ich trete an Deine Seite und könnte mit zahlreichen Beispielen Dein Urteil untermauern!
Wieso dann "Ach"?
Deine berechtigte Anklage käme besser an, wenn da nicht der eine oder andere Holperer wäre. Wenn schon (mit Recht) lästern, dann mit geschmeidiger Zunge.
Beispiel:
Plötzlich waren Sie Akteure,
Widerständler und furchtlos. ------------ hier hakt es.
Viele schreien: Seht, wir gaben
diesem Staat den Todesstoß!

Wie kriegt man den Haken weg? Die Verse beginnen trochäisch. Das passt zum Inhalt. Der Reimteufel sucht einen Reim auf Todesstoß. Sch... was auf den Reim und schau Dir diese Fassung an:

Plötzlich waren sie Akteure,
Widerständler ohne Furcht.
Viele schreien: Seht, wir gaben
diesem Staat den Todesstoß!
XxXxXxXx
XxXxXxX
XxXxXxXx
XxXxXxX

Zweites Beispiel:
Dabei haben sie gezögert,
abgewartet bis zuletzt
und geschaut aus sich’rer Deckung,
wer sich wohl zum Schluss durchsetzt. --------- auch hier hakt es.

Dabei haben sie gezögert,
abgewartet bis zuletzt
und geschaut aus sich’rer Deckung,
wer sich wohl am Ende durchgesetzt.

XxXxXxXx
XxXxXxX
XxXxXxXx
XxXxXxXxX.

Im dritten Beispiel wechselst Du ohne Not den Versfuß:

Vielleicht noch die alten Kräfte, ------------xXxxXxXx
Dienste, Apparatschiks, Militär?------------XxXxXxXxX (okay)
Vielleicht doch die Träumer, Spinner?------xXxxXxXx
Manchmal fällt ein Urteil schwer…----------XxXxXxX (okay)

Mauscheln noch die alten Kräfte,
Dienste, Apparatschiks, Militär?
Oder doch die Träumer, Spinner?
Manchmal fällt ein Urteil schwer…

XxXxXxXx
XxXxXxXxX
XxXxXxXx
XxXxXxX

Auch die vorletzte Strophe bettelt um Glättung.

Fazit: Inhaltlich gebe ich Dir uneingeschränkt Recht.
Es ist noch vieles faul nicht nur im Staate Dänemark!
Das Dümmste wäre, das Kind mit dem Bade ausschütten und von ehemals scharflinks auf scharfrechts umschwenken! Und da, fürchte ich, bekommt Schillers Spruch eine bedrohliche Aktualität:
Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens. (Jungfrau von Orleans)
Liebe Grüße,
Heinz
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Alt 25.07.2023, 10:38   #3
weiblich Ilka-Maria
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Feigheit ist ein probates Mittel, um zu überleben. Die Mutigen verlieren nämlich allzu oft die Fähigkeit, sich zu reproduzieren, denn leicht beruht ihre Risikobereitschaft auf Selbstüberschätzung, die zu tödlichem Ausgang führt. Ich halte es mit Peter Sloterdijk: "Es gibt keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung."

Wem Sloterdijks Zitat eingeht, hält Feigheit für keine Verfehlung mehr und kann offen zugeben, dass er oder sie zu Widerstand nicht stark genug gewesen ist. Dann muss auch niemand so zun, als habe er zu den "Guten" gehört, oder muss sonstige Lügengeschichten auftischen. Wer moralisch über Menschen urteilt, die sich vor Konflikten und Gefahren scheuen, soll erst einmal selber vormachen, wie Mut "funktioniert", und über seine eigene Rolle im Falle der Unterdrückung und Drangsalierung Rechenschaft ablegen. Aber es steckt ja, wie jeder Psychologe bestätigen kann, in jedem Menschen der Drang, ein positives Bild von sich zu zeigen.

"Völker" sind ohnehin nicht feige, eine solche Behauptung ist nichs als ein oberflächlicher Rundumschlag. Es sind immer Indiviuen oder Gruppen, die ihre Eigeninteressen durchzusetzen trachten. Wäre ein ganzes Volk feige, hätte es in Frankreich die Résistance nicht gegeben, ebensowenig den Bürgerkrieg in Franco-Spanien, nicht die Draft Riots in New York 1863, nicht den Widerstand dere Geschwister Scholl oder das Attentat des Grafen Stauffenberg, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Meinen Beifall, man liest es heraus, findet das Gedicht nicht. Von der Holperei der Verse zu schweigen.
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Alt 25.07.2023, 11:41   #4
männlich Heinz
 
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Liebe Ilka-Maria,
Feigheit als Überlebenstaktik, na ja, kann man so sehen. Aber ist es nicht so, dass dem Begriff Feigheit etwas Abschätziges anhängt?
Ist es nicht besser, mal auf einen lebenserfahrenen Mann wie Goethe zu hören?

Beherzigung.

Feiger Gedanken
Bängliches Schwanken,
Weibisches Zagen,
Ängstliches Klagen
Wendet kein Elend,
Macht dich nicht frei.
Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen,
Rufet die Arme
Der Götter herbei.

Liebe Grüße,
Heinz
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Alt 25.07.2023, 12:12   #5
weiblich Ilka-Maria
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Lieber Heinz,

wenn man, wie es bei Goethe der Fall war, in einer gutsituierten Familie großgeworden ist, Jura studiert hat und später in einer exponierten staatlichen Stellung weitgehend Unabhängigkeit erlangt hat, so dass man nebenbei lange Reise antreten, sich den Wissenschaften und der Dichtung widmen kann, als Intendant und Schauspieler seinen Spaß hat und einfach so mal nebenbei Gartenlandschaften baut, zudem in einer für die Gesellschaft heiklen "wilden Ehe" lebt und in dieser Ehe Kinder zeugt, weil er so wohlhabend ist, dass er es sich leisten kann, der Welt zu sagen, sie müsse ihn "am Arsche lecken" (seinem Götz sehr schön in den Mund gelegt), ist es keine Kunst, Menschen an den Pranger zu stellen, die viel zu verlieren haben, weil sie ohnehin auf mindestens dem vorletzten Loch sitzen.

Ein zeitgenössischer Milliardär hat in einem Interview einmal, auf ein Weltproblem angesprochen, geantwortet: "Ich bin zu reich, um mich aufzuregen." Auch das entspricht dem LMA-Prinzip, wenn man es sich leisten kann.

Gleichwohl hatte auch Goethe seine angstbesetzten, feigen Momente. Er konnte nämlich nicht ertragen, über Krankheiten und Tod nachzudenken, weshalb er an kein Krankenbett trat - nicht mal an Christianes Sterbelager. Es ist überliefert, dass er, selbst im Sterben liegend, eine Scheißangst hatte.

Warum nimmst du zum Vergleich nicht Georg Büchner? Er wusste, dass er in einem Gefängnis seelisch zugrunde gehen würde und entging der Vorladung vor dem Amtsgericht in Offenbach durch die Flucht zu seiner Verlobten nach Straßburg. Der große, aufmüpfige Büchner, der den Woyzeck und den Danton schrieb und der sich dazu überreden ließ, den "ketzerischen" Landboten zu schreiben! Versteckt sich hinter einem Weiberrock! Na so was! Muss man ihn dafür verachten? Und obliegt es nicht seinem freien Willen, sein Tun zu beschönigen oder sich dafür zu schämen? Jeder Mensch hat das Recht, sich gut zu fühlen, solange er niemand anderem absichtlich geschadet hat.

Was nützte dem Arzt Ignaz Semmelweiß der Mut, die Kollegen seiner Zeit von der Wichtigkeit der Hygiene zu überzeugen und sich zwischen den Behandlungen der Patienten und den Operationen die Hände zu waschen? Sie erklärten ihn für verrückt, bis er schließlich in eine Irrenanstalt eingeliefert wurde und dort unter mysteriösen Umständen zu Tode kam. Angeblich starb er an einer Blutvergiftung, einer anderen Aussage nach wurde er zu Tode geprügelt. Es dauerte noch lange, bis die Ärzteschaft erkannte, dass er mit seiner Behauptung, es gebe gefährliche Keime, recht hatte, aber bis dahin starben noch unzählige Patienten an Infektionen.
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Alt 25.07.2023, 19:00   #6
männlich Heinz
 
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Liebe Ilka-Maria,
darf man, was man anderen ankreidet (nämlich das lyrische Ich mit dem Verfasser verwechseln), bei Goethe?
Dann könnte ich mit gleichem Recht fragen, ob Schiller soviel Mut hatte, nicht einen Jüngling in den Schlund tauchen zu lassen, sondern selbst zu hüppen.
Wenn Goethe fordert, edel sei der Mensch, hilfreich und gut, dann gehe ich doch nicht automatisch davon aus, dass er selbst edel, hilfreich und gut war.
Du führst Semmelweis an, diesen verdienstvollen Arzt, und die Reaktionen vieler ärztlicher Zeitgenossen und fragst, was dem sein Mut genutzt habe.
Semmelweis ist, wie Du sagst, unter recht dubiosen Umstanden gestorben - es wird heute wohl nicht mehr lückenlos aufgeklärt werden können, ob sein Verbringen in eine Irrenanstalt rechtens war. Sein Schicksal, an einer Blutvergiftung zu sterben (der Verdacht, dass seine Konkurrenten da nachgeholfen haben, ist nicht von der Hand zu weisen, hört sich wie ein Treppenwitz der Geschichte an. Aber: Sein Verdienst brachte ihm den Titel "Retter der Mütter", und dieser Ehrentitel bleibt ihm ewig. (Jetzt frag ja nicht, was ihm das nützt).
Liebe Grüße,
Heinz
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Alt 25.07.2023, 19:20   #7
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Heinz Beitrag anzeigen
... darf man, was man anderen ankreidet (nämlich das lyrische Ich mit dem Verfasser verwechseln), bei Goethe?
Kommt darauf an, Heinz, ob man über das Leben des Dichters genügend Bescheid weiß und es Anhaltspunkte gibt, es mit seinem Werk in Bezug zu setzen. Das von dir hier angeführte Gedicht von Goethe ist eine Belehrung, eine Moralpredigt, eine These, von der ich ausgehe, dass Goethe sich damit identifiziert hat, denn am Ende ergeht sogar ein Aufruf, sich niemals zu beugen und zur Not die Unterstützung der Götter herbeizurufen. Das ist der erhobene Zeigefinger eines Lehrers.

Beim Faust sähe ich es anders, Goethe war bestimmt nicht identisch mit Faust oder Mephisto.

Darum geht es aber nicht, sondern du hast Goethes Gedicht herbeigezogen, um Ottilies Thesen zu verteidigen und meine Einwände in Frage zu stellen. Das kann man natürlich versuchen. Aber ja, in diesem Falle sehe ich durchaus bei Goethe ein inneres Anliegen, und es ist nicht das einzige Mahn- und Belehrungsgedicht, das er geschrieben hat. Hier geht es um etwas anderes, nämlich ob es eine morallische Pflicht gibt, genügend Mut zum Widerstand zu zeigen. Da kann man durchaus die Frage stellen, ob das immer klug wäre.

Aber auch darum alleine geht es mir nicht. Ich bin grundsätzlich gegen Pauschalurteile wie hier, wo das Volk, also das Kollektiv, für die moralischen Defizite von Individuen oder Gruppen verantwortlich gemacht und die gesamte Völkerschaft ausnahmslos als Heuchler deklariert wird. Wer ist so frei von Verfehlungen, dass er sich zum moralischen Richter über andere und erst recht über ganze Völker erheben kann? Und wer bestimmt, was moralisch ist und was nicht?

Moral ist keine Tatsache, sondern eine Option, die außerhalb der Justiz steht.
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Alt 26.07.2023, 09:20   #8
weiblich Ottilie
 
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Standard Masse statt Volk...

Hallo Heinz,

ich gebe Dir recht: Das „Ach“ ist fehl am Platz! Ich ersetze es durch ein „Ja“. Für die „Völker“ setze ich das Wort „Masse“ – Ilka-Maria liegt schon richtig, wenn sie anmerkt, es gäbe keine komplett feigen Völker. Es gibt aber wohl in jedem Volk eine Mehrheit mit eindeutigen Verhaltensweisen, denke ich. Die Mehrheit würde ich nach wie vor als abwartend, berechnend, opportunistisch und feige einschätzen. Im Gedicht rede ich natürlich erkennbar vom Volk der „friedlichen Revolution“. Diese „friedliche Revolution“ ist für mich eine Erfindung zur Selbstrechtfertigung, in dichterischer Übertreibung halt die Erfindung eines „feigen Volkes“.

Wirklich vorangetrieben haben die Prozesse der Wende ein paar wenige Bürgerrechtler, Kirchenleute, Künstler, man schätzt die Zahl auf paar hundert. Angemaßt haben sich den Widerstand kurze Zeit später so ziemlich alle Duckmäuser, Mitläufer, Opportunisten…

Mit Stauffenberg, der Weißen Rose und Co. verhält es sich ähnlich: Noch Jahre nach dem Krieg hielten viele Deutsche diese für Vaterlandsverräter. Als die Wahrheit über die Passivität und Willenlosigkeit der Mehrheit des deutschen Volkes so langsam in die Köpfe sickerte, begann die Suche nach Widerständlern – zur Entlastung der sich übel fühlenden Volksseele…

Deinen Korrekturen am Metrum kann ich leider nur teilweise folgen: „Widerständler ohne Furcht“ ist vielleicht flüssiger als mein „Widerständler und furchtlos“, der Reim geht nur verloren. Wenn Du aus „Wer sich wohl am Schluss durchsetzt“ (ich sehe da kein rhythm. Problem!) eine Zeile wie „wer sich wohl am Ende durchgesetzt“ machst, wird das Schema von Rhythmus und Silbenzahl aufgebrochen.

Die Fassung lautet jetzt, nach Berücksichtigung eines Teils Deiner Vorschläge:

Ja, es sucht die feige Masse,
wenn ihr Staat zusammenbricht,
ziemlich schnell nach einem Grunde,
der sie zeigt in bess’rem Licht.

Plötzlich waren Sie Akteure,
Widerständler und furchtlos.
Viele schreien: Seht, wir gaben
diesem Staat den Todesstoß!


Dabei haben sie gezögert,
abgewartet bis zuletzt
und geschaut aus sich’rer Deckung,
wer sich wohl zum Schluss durchsetzt.

Vielleicht noch die alten Kräfte,
Dienste, Apparatschiks, Militär?
Vielleicht doch die Träumer, Spinner?
Manchmal fällt ein Urteil schwer…

Ist die Sache dann entschieden
und am Ende, was einst war,
schreit die feige Masse: Wende!
Hoch lebe der neue Zar!


Mutig sind immer nur wen’ge,
unabhängig, frech und frei.
Diese ruft man an fürs Ganze –
eine echte Sauerei.

Viele Grüße Ottilie
Ottilie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.07.2023, 09:31   #9
weiblich Ottilie
 
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Standard Ein mutiges Bekenntnis...

Feigheit ist ein probates Mittel, um zu überleben. Die Mutigen verlieren nämlich allzu oft die Fähigkeit, sich zu reproduzieren, denn leicht beruht ihre Risikobereitschaft auf Selbstüberschätzung, die zu tödlichem Ausgang führt. Ich halte es mit Peter Sloterdijk: "Es gibt keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung."

Hallo Ilka-Maria,

Du hast ein mutiges Bekenntnis zur Feigheit abgegeben! Auch Herrn S. halte ich zugute, das er mit seinem Satz im Prinzip jegliches Duckmäusertum entschuldigt. Folgt man dieser Maxime, ziehe man sich, wenns brenzlig wird, unters Sofa zurück und reproduziere sich dort...

Richtig liegst Du, wenn du sagst, es gäbe keine "feigen Völker". Wohl aber gibt es in jedem Volk eine mehrheitliche Masse. Wie schätzt man diese ein? Sind die Taten einiger weniger Widerständler, egal wann und wo, immer auf diese Mehrheit zu beziehen? Wenn ich mir die Geschichte des Umgangs mit dem Verhalten gerade der Deutschen in schwierigen Zeiten ansehe, habe ich den Eindruck, dass genau diese Aneignung immer wieder erfolgt, um eine Mehrheit zu entlasten und moralisch aufzuwerten.
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Alt 26.07.2023, 10:30   #10
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Ottilie Beitrag anzeigen
...Du hast ein mutiges Bekenntnis zur Feigheit abgegeben! Auch Herrn S. halte ich zugute, das er mit seinem Satz im Prinzip jegliches Duckmäusertum entschuldigt.
Eher nicht, sondern lediglich die banale Erkenntnis, die Biologen und Anthopologen vertreten. Und ein "Duckmäuser" ist kein Synonym für einen feigen Menschen, denn bei ersterem kommt Scheinheiligkeit dazu.

Zitat:
Wohl aber gibt es in jedem Volk eine mehrheitliche Masse. Wie schätzt man diese ein?
Woran machst du das fest? Es gibt so viele Schichten und Gruppen, wo soll denn da eine mehrheitliche, geschlossene Masse erkennbar sein? In der Geschichte kam der Widerstand immer von Minderheiten (vornehmlich Intellektuellen als Anführer einer Bewegung) oder durch militärischen Putsch, die "Masse" - woraus immer sie bestehen mang - rekrutiert dann nur noch die Zuläufer, die aber immer in Gruppen mit unterschiedlichen Interessen gespalten ist. Das beste Beispiel dafür ist die Französische Revolution. Nicht zu vergessen: Immer wenn es zu Umstürzen gekommen ist, haben ausländische Interessen die Bewegungen beeinflusst.

Zitat:
Wenn ich mir die Geschichte des Umgangs mit dem Verhalten gerade der Deutschen in schwierigen Zeiten ansehe, habe ich den Eindruck, dass genau diese Aneignung immer wieder erfolgt, um eine Mehrheit zu entlasten und moralisch aufzuwerten.
Was genau meinst mit "des Umgangs mit dem Verhalten"? Was für ein "Verhalten"? Worauf beziehst du "diese Aneignung"? Welche Mehrheit soll entlastet werden? Wo gibt es denn eine moralische Aufwertung der Mehrheit, und welcher Mehrheit?

Der "Deutsche" unserer Zeit ist der Pokalsieger in Selbstbeschuldigung, Wiedergutmachungsmanier, moralischer Belehrung der ganzen Welt, Besserwisserei und Aufklärung der wahren Werte, denn er hat ja Erfahrung aufgrund der Segnung, den Nationalsozialismus in seiner schrecklichsten Form durchlebt zu haben und somit dafür qualifiziert zu sein, im Büßergewand und mit Asche auf dem Haupt vor allen Machthabern der Welt - den Guten und den Bösen - den Kotau zu machen. Böse Zungen nennen das "Sündenstolz".

Übrigens: Die Nationalsozialisten in Deutschland wurden nicht von der (absoluten) Mehrheit gewählt, und was Presse und Film verkündeten, fußte auf nichts anderem als Propaganda, meisterlich von Göbbels dirigiert, der die Methoden des Österreichers Edward Bernays akribisch studierte und umsetzte. Zur Info: Bernays war ein Neffe Sigmund Freuds und hatte sich dessen Erkenntnisse über Tiefenpsychologie für die Entwicklung propagandistischer Methoden zu eigen gemacht. Wobei nicht zu vergessen ist, dass Hitler nur deswegen Kanzler wurde, weil ein altersschwacher Hindenburg gegen seine eigene Überzeugung ihn dazu ernannt hatte. Mit der "Masse" hatte das nichts zu tun.

Sorry, aber das Thema ist viel zu komplex, um es mit einer naiven Weltanschauung abzuhandeln. Wenn man tiefer hineingehen sollte, käme ein Buch dabei heraus.
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Alt 26.07.2023, 15:00   #11
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Standard Was ich meine...

Viele Fragen, viele Antworten...

Es stimmt ja, Ilka-Maria, dass nicht die Mehrheit die Nazis wählte. Aber eine Mehrheit nahm es hin und gab sich anschließend sehr engagiert... Die "Masse" ist für mich jene Menge des Volkes, die eine Mehrheitsmeinung und -einstellung hat.

Die Masse eines Volkes hat m.E. bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen, es sind weniger solche, die mit Kontinuität, Charakter, Eigenständigkeit zu tun haben...

Du schreibst: Was genau meinst mit "des Umgangs mit dem Verhalten"? Was für ein "Verhalten"? Worauf beziehst du "diese Aneignung"? Welche Mehrheit soll entlastet werden? Wo gibt es denn eine moralische Aufwertung der Mehrheit, und welcher Mehrheit?

Du brachtest ja das Beispiel Stauffenberg und Rote Kapelle: Nach dem Krieg galten die paar Widerstandskämpfer als Landesverräter. Focus schreibt:

Die „Rote Kapelle“ war eines der größten Widerstands-Netzwerke im Dritten Reich. Als angebliche Spione wurden viele von ihnen hingerichtet – und noch Jahrzehnte später als „Landesverräter“ diffamiert. siehe

https://www.focus.de/wissen/mensch/g...d_7242454.html

Als dann die Ungeheuerlichkeiten der Nazizeit in den Köpfen der Nachkriegsdeutschen zu Realitäten der Geschichte gereift waren, entstand ein großes Bedürfnis nach Sühne und Ausgleich. Na, was passierte dann wohl? Dann gab eine "Umwertung der Werte"... Dieser Mechanismus vollzieht sich immer wieder, er wirkte auch mit bei der Entstehung des frommen Mythos von der "friedlichen Revolution".
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Alt 26.07.2023, 15:49   #12
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Zitat:
Zitat von Ottilie Beitrag anzeigen
Viele Fragen, viele Antworten...

Es stimmt ja, Ilka-Maria, dass nicht die Mehrheit die Nazis wählte. Aber eine Mehrheit nahm es hin und gab sich anschließend sehr engagiert... Die "Masse" ist für mich jene Menge des Volkes, die eine Mehrheitsmeinung und -einstellung hat.
Ja, viele Fragen. Aber mit den Antworten wird es schwierig, das ist völlig normal. Es ist nicht so, dass ich nicht versuche, deine Argumente zu verstehen, nur sind sie mir zu einfach.

Die Nationalsozialisten verbreiteten schon vor der Machtübernahme Terror und schalteten ihre Gegner aus, wobei sie vor Mord nicht zurückschreckten (Röhm-Putsch, Verfolgung der Kommunisten). Die Nachwirkungen der gescheiterten Weimarer Republik in ihren vielen Facetten war für den Normalbürger gar nicht zu analysieren, geschweige denn zu durchschauen. Vor Weimar war Deutschland ein Kaiserreich, niemand wusste, wie Demokratie funktioniert. Mit anderen Worten: Hitler entmachtete das Parlament, setzte die Notverordnung ein und errichtete im Handumdrehen eine Diktatur. Was passiert, wenn sich jemand gegen einen Diktator erhebt, dürfte klar sein, also bleibt man still und nimmt es hin. Das ist jedoch kein Beweis dafür, dass die breite Masse gedanklich damit einverstanden war. Schließlich zogen es eine Menge Leute schon damals vor, das Land zu verlassen.

Zitat:
Zitat von Ottilie Beitrag anzeigen
Die Masse eines Volkes hat m.E. bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen, es sind weniger solche, die mit Kontinuität, Charakter, Eigenständigkeit zu tun haben ...
Das sind Mythen, die schon tausendfach als falsch widerlegt wurden. Aber du schreibst ja "meines Erachtens" dazu. Okay, eine Meinung darf jeder haben. Ich gebe nur zu bedenken, dass alle Staaten aus einem Konglomerat ständig hinzugezogener und mehr oder weniger vermischter Femdvölker zusammensetzt. Was ist denn der Volkscharakter von Russland mit seinen vielen Völkerschaften, Dialekten, Historien, Mythen, Zeitzonen, klimatischen Verhältnissen usw.?

Eine rhetorische Frage, auf die ich keine Antwort erwarte.
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Alt 27.07.2023, 07:39   #13
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Hallo Ottilie,

Zitat:
.Plötzlich waren Sie Akteure,
Widerständler und furchtlos.
Viele schreien: Seht, wir gaben
diesem Staat den Todesstoß!
Ich finde, das haut rhythmisch nicht wirklich hin, da „furchtlos" auf der ersten Silbe betont wird und „Todesstoß" auf der letzten.

Zum Thema des Gedichtes kann ich nur sagen, dass es nicht so leicht ist, nicht „feige" zu sein, wenn man Mut unter Umständen mit dem Leben bezahlen muss.

Schöne Grüße
DieSilbermöwe
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Alt 28.07.2023, 13:45   #14
männlich dunkler Traum
 
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... Staufenberg und die weiße Rose in einem Atemzug zu nennen, ist für mich ein Kapitalverbrechen.
Staufenberg war einfach ein Attentäter, der nach dem Tod Hitlers mit den Westmächten weiter in den Krieg nach Osten ziehen wollte. Am System selbst wollte er nichts ändern.
Das ist nicht vergleichbar mit der weißen Rose, welche die Unmenschlichkeit des Naziregimes an sich an den Pranger stellten und die Menschen aufrütteln wollten.

Der Mehrheit der Menschen will einfach nur sein Leben leben und gibt sich Mühe, nicht aufzufallen. So war es auch im "dritten" Reich, man schwimmt lieber mit, man hat doch gesehen, wie "die" mit Widerstand etc. umgehen. Und so ist es heute noch, vielleicht noch etwas vom Kuchen abschneiden ...

dT
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Alt 28.07.2023, 14:32   #15
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
... Staufenberg und die weiße Rose in einem Atemzug zu nennen, ist für mich ein Kapitalverbrechen.
Staufenberg war einfach ein Attentäter, der nach dem Tod Hitlers mit den Westmächten weiter in den Krieg nach Osten ziehen wollte. Am System selbst wollte er nichts ändern.
Das ist ein anderes Thema, dunkler Traum. Es geht hier nicht um die künftigen Interessen einzelner Personen oder Gruppen, also um Motive, sondern darum, ob man ein ganzes Volk der Feigheit bezichtigen kann, sozusagen als "Volkscharakter" (den es nicht gibt), oder ob riskanter Widerstand die Entscheidung von Individuen ist. Welche Absichten Stauffenberg (dessen eingeweihtes Umfeld sicherlich auch eigene Interessen verfolgte) oder die Geschwister Scholl hatten, müsste separat besprochen werden. Jedenfalls hatten sie alle auf ihre Art Widerstand geleistet und sind gescheitert.

Mit dem Begriff "Kapitalverbrechen" solltest du behutsamer umgehen. Um sich eines Kapitalverbrechens schuldig zu machen, müsste die Tat beispielsweise unter eine Kategorie wie "first degree murder" fallen, was u.a. eine lange Planung, niedere Motive, eventuelle Heimtücke und die absolute Wehrlosigkeit des Opfers beinhaltet.
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Alt 30.07.2023, 19:44   #16
weiblich Ottilie
 
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Hallo Silbermöwe,

zu Deinen Anmerkungen:

Ich finde, das haut rhythmisch nicht wirklich hin, da „furchtlos" auf der ersten Silbe betont wird und „Todesstoß" auf der letzten.

Du hast ja recht, die Betonung ist nicht ganz gleichmäßig. Aber - damit kann ich leben, es versetzt mir nicht den metrischen Todesstoß...


Zum Thema des Gedichtes kann ich nur sagen, dass es nicht so leicht ist, nicht „feige" zu sein, wenn man Mut unter Umständen mit dem Leben bezahlen muss.

Stimmt auch. Aber: Bei grundlegender Feigheit aller Menschen hätte es wohl keine Entwicklung der menschlichen Zivilisation gegeben. Wären nicht die wenigen mutigen Menschen in der Nazizeit gewesen, wie würden wir uns heute als Volk fühlen? Ohne die paar hundert Aktivisten in der DDR wäre es nicht zur Gründung des Neuen Forums und zu den Demos in Leipzig, Berlin und anderen Städten gekommen, wobei allerdings - siehe mein Gedichtchen - erst ein massenhafter Zulauf zu diesen Demos stattfand, als es nicht mehr vielen Mutes bedurfte...
Ottilie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.07.2023, 19:46   #17
weiblich Ottilie
 
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Es geht hier nicht um die künftigen Interessen einzelner Personen oder Gruppen, also um Motive, sondern darum, ob man ein ganzes Volk der Feigheit bezichtigen kann...

Hallo Ilka-Maria,

ich habs ja eingesehen: Kein Volk will als komplett feige gelten. Ich habe daher das "Volk" durch "Masse" ersetzt.
Ottilie ist offline   Mit Zitat antworten
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