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Alt 23.03.2010, 22:15   #1
Aporie
 
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Standard Die Frau, die sich in mein Leben schnitt

Das ist nun schon etwas länger her, und die Frau, von der die Rede sein wird, stand im Lauf der Jahre auf Balkonen und vor Fenstern mit unterschiedlicher Aussicht. Deshalb würde auch die Geschichte etwas länger. Aber ich werde nur über den Tag schreiben, an dem ich dieser Frau zum ersten Mal begegnet bin. Da ich nicht weiß, wie lange Geschichten hier sein dürfen, die lange dauern, in 2 Teilen, und damit hat sich’s denn auch, obwohl das Leben danach weiterging.

Sie wurde mir als die neue Cutterin der Zeta-Film vorgestellt. Ich saß bereits im Schneideraum, als die Tür sich öffnete. Der von einem Termin zum anderen hetzende Produktionsleiter behielt die Klinke in der Hand und sagte mit einem Lächeln, das Männer aufsetzen, wenn von einer attraktiven Frau die Rede ist: „Das ist Frau Eva Sommer, sie wird sich Ihnen gleich selbst vorstellen.“
Hinter dem Fenster, vor dem ein sonnenstrahldurchlässiger, aber schwarzer Vorhang die Sicht auf einen Innenhofgarten erschwerte, spielte sich der lang erwartete Frühling ab. Bevor ich mich morgens in mein Auto setzte, hatte ich auf der Terrasse den Gartenschlauch gepackt und den ersten vorwitzig sich entfaltenden Keimlingen das überlebenswichtige Wasser in ihre Töpfe gegossen. Als nun Frau Sommer unerwartet auf mich zukam. verwirrte mich nicht nur ihr Name, mit dem sie die mir liebste Jahreszeit vorweg nahm, sie pflanzte sich in meinen Blick, als stünde sie bereits auf meiner Terrasse. Und in meiner Überschwänglichkeit kam mir vor, ihre Bewegungen würden einer sich im Wind sanft schaukelnden Birke ähneln. Aus ihrem Schulterbeet wuchs ein Hals, der in der staudigen Kompaktheit seiner sorgfältig angeordneten Blütenpracht einem Fingerhut glich, der nach Frühlingssonne lechzte. Und ihre Brüste, - ach ihre Brüste- , sie keimten unter dem Viola einer locker gespannten Seidenbluse im nur knapp Verborgenen und hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit sorgfältig geschälten Frühlingszwiebeln, an deren leicht auskragenden Rundungen noch der nippelige Ansatz der Wurzel zu erkennen ist. Mein Gärtnerherz klopfte der Ernte entgegen. Als sie mir ihre Hand entgegenstreckte, rankte sich um ihren etwas klein und schmallippig geratenen Mund ein Lächeln, das sich über das ganze Gesicht verzweigte. Ich spürte den weichen, warmen Druck auch später noch, als hätte ich mir die Finger verbrannt, und der Schmerz ließe nur langsam nach. Die Aussicht, den Rest des Nachmittags neben ihr zu verbringen, hinterließ weitere, ähnlich knisternde Halluzinationen. (Frauen haben diese üppige Schilderung wahrscheinlich angewidert überlesen, Männer können es eher nachvollziehen, aber sich untereinander in Derartigem zu verständigen, ist nicht Männerart.)
Ich fahre trotzdem weiter in meiner Sicht auf Frau Sommer, die unterdessen einen zweiten Rollsessel aus der Ecke geholt hatte, da ich auf ihrem sass. Sie registrierte das mit einem grosszügigen Lächeln, setzte sich an den Schneidetisch und spannte das Filmmaterial ein. Weil der Schalthebel, den sie bedienen musste, sich auf der anderen Seite des Monitors befand, rollte sie den Sessel etwas näher an ihren von mir besessenen Sessel heran, noch nicht ahnend, dass darauf ein von ihr Besessener sass. (Aporie, so wirst du nie mit dieser Geschichte fertig! Aber das war halt lange Zeit auch in Wirklichkeit so.) Während wir zu zweit am Schneidetisch, der den sinnigen Namen Moviola trug, saßen und gleichzeitig auf das flimmernde Movens starrten, verspürte ich in Kopf und Gliedern eine nicht unangenehme Verspannung, die sich, hervorgerufen durch die nur schwer einzuhaltenden, weil sich gegenseitig überlappenden Tabuzonen auch nicht zu lockern gewesen wäre, wenn das in meiner Absicht gelegen hätte. Bisher überkam mich ein solches Gefühl, freilich in weit weniger angenehmer Form, nur auf Flugreisen, wenn ich mir irgendwie die Seitenlehne mit einem unbekannten Nachbarn teilen musste. Oder, verwandter noch mit dem Ort meiner nach und nach sämtliche Körperteile erfassenden Besessenheit, - im Kino, wo die Besessenen einander fast den Arm reichen und körperliche Nähe besonders dann an Vereinnahmung grenzt, wenn man vor dem gleichen langweiligen Film sitzt. In unserem Fall waren das siebenhundertfünfzig Meter Arbeitskopie für einen auf dreißig Sekunden zu schneidenden Werbespot von MIGROS.
Nach der ersten Materialsichtung sagte Frau Sommer. dass ihr das Licht sehr gefalle. Nicht meine Arbeit. Das Licht. Als sie Licht sagte, intonierte sie das L weit vorne. Wie bei Leuten, die das S lispeln, erschien dabei die Zungenspitze für einen Moment direkt unter den Vorderzähnen. Das i zog sie in die Länge und spreizte gleichzeitig die Lippen, sogar in ihren gefährlich verdunkelten Augen leuchtete dieses Wort kurz auf. Wie man sieht, warf ich keinen Blick auf dieses Licht. Und auch meine Gedanken wanderten wieder aus und weideten sich wie meine Augen am Anblick von Frau Sommer. Sie trug einen enganliegenden Rock in einem baumrindenartig gesprenkelten, jedoch glänzenden Schwarzbraun, die Manschetten der dunkelvioletten Seidenbluse hatte sie über ihre Handknöchel nach oben geschlagen. Der aufgestellte Kragen war in der Art einer Mao-Jacke geschnitten, zweifingerbreit lag er fast platt an ihrem Hals. Sie hatte die Bluse bis oben zugeknöpft und ziemlich genau über dem Busen verlief eine Naht. Nach unten weitete sich der Stoff nur mäßig. Wenn Frau Sommer sich rührte, warf er zuweilen schlanke Falten, über die helle Reflexe des auf den Monitor projizierten Lichts huschten. Ich blickte unter die Moviola auf Frau Sommers grau bestrumpfte Beine. Sie hielt sie so weit ausgestreckt, als gehörten sie während der Arbeit nicht zu ihr, die Füße hatte sie übereinander geschlagen, die roten Schuhe ragten auf gekippten Absätzen ins Halbdunkel.
Später war ich vollauf damit beschäftigt. ihre flinken Hände zu betrachten. Sie streichelten, knubbelten, zupften und drückten unentwegt. Während sie mit der einen Hand den Schalthebel bediente und den Film vor- und zurücklaufen ließ, beschäftigte sich die andere bereits mit dem nächsten Abschnitt und legte ihn in die offene Klebepresse, bevor Frau Sommer mit den Fingern der anderen Hand über das Zelluloid strich, damit es sich gleichmäßig verzahnte und verklebt werden konnte. Sie hantierte das Material mit einer Mischung von Grazie und Entschlossenheit. Gewisse Handarbeiten begleitete sie mit Lippenbewegungen. Manchmal schien sie etwas sagen zu wollen, aber schließlich öffneten sich die Lippen nur zu einem stillen Lächeln, das eine erstaunliche Anzahl kräftiger Zähne aufblitzen ließ. Die leicht vorstehende obere Zahnreihe gab ihrem, nur dem Arbeitsmaterial geltenden Lächeln, den Charakter von Biss zeigen. Sie lächelte auch, als plötzlich das Telefon schellte, zuerst entschuldigend in meine Richtung, dann in die Sprechmuschel, als sie den Namen Sommer kurz aufblühen ließ. Und sie lächelte, obwohl sie in ihrer Arbeit gestört wurde, auch weiter, während sie das Gespräch führte. Sie lächelte selbst dann, wenn sie bloß zuhörte. Da am anderen Ende der Leitung niemand ihr Lächeln sehen konnte, war es ein Gratislächeln, es schien sich um eine automatisierte Reaktion ihres limbischen Systems zu handeln.
Meine Gedanken konzentrierten sich so sehr auf Frau Sommer, dass ich zu dem, was von meiner Arbeit an mir vorbei lief, nur in kargen Worten Anweisungen erteilte. Meine Wahlmöglichkeiten waren auf Einstellungen beschränkt, die zwar in unterschiedlichen Versionen vorlagen, aber was Frau Sommer betraf, war sie für mich nur in der Version vorhanden, die ich an dieser Stelle ausführlich beschrieben habe, ohne ihr Einverständnis stand sie nicht zur Wahl, und für meine Einstellung ihr gegenüber war sie nur passiv verantwortlich. Ich ließ also dem, was sich auf dem Monitor und dem, was sich in mir abspielte seinen Lauf. Als wir uns gegen sechs Uhr abends gemeinsam den Rohschnitt angesehen hatten und Frau Sommer das Laufwerk stoppte, blickte sie mich zum ersten Mal erwartungsvoll an.
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