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Alt 04.01.2008, 16:30   #1
Grimnir
 
Dabei seit: 12/2007
Beiträge: 12


Standard Vollmondnacht

Ich sage mal nichts dazu und überlasse jedwegliche Interpretation den Lesern
Vollmondnacht

Ich erinnere mich noch genau an die Worte, die mir erst vor ein paar Minuten gesagt worden sind: „Soldat Keiler, ab übermorgen werden Sie die Ehre haben, unser Deutsches Reich gegen die Gefahr von Außen zu verteidigen. Begeben Sie sich zum Berliner Hauptbahnhof, dort werden Sie dann mit dem Zug an die Front befördert!“ Der Oberstfeldmarschall stand ganz stramm da, als er das sagte. Wie man es ihm beigebracht hatte. Gehorsam, keine Befehle hinterfragend. Sein „Heil dem Führer“ war sehr laut und riss mich aus den Gedanken, aus dem Schock, den diese Hiobsbotschaft bei mir hinterlassen hatte. Er ging aus der Tür in Richtung Alexanderplatz und ließ mich wie ein begossener Pudel dastehen. Ich blickte ungläubig auf den Zettel in weiß, den er mir ausgehändigt hatte. Ich brauchte nicht drauf zu schauen, denn ich wusste schon, was auf diesem Stück Papier stand.
Erst jetzt stiegen Panik und Furcht in mir auf wie kochendes Wasser in einer dünnen Säule. Das, wovor ich mich monatelang gefürchtet hatte, trat hier und jetzt ein: Die Einberufung zum Kriegsdienst, der Einsatz an der Front, oder, wie ich es zu sagen pflege, das „Sinnlose Abschlachten“. Wankend ging ich ins Wohnzimmer, ließ mich auf dem Sessel nieder und betrachtete den Raum. Der Blick, mit dem ich dies tat, signalisierte Angst; ich starrte auf jeden Gegenstand, als ob ich ihn zum letzten Mal sehen würde: Auf das Foto meiner vor kurzem ins Konzentrationslager verschleppten Mutter. Man hatte ihr nachgesagt, sie sei eine Jüdin, obwohl das nicht stimmte. Das musste ein Gerücht der Nachbarn sein, die uns nicht unbedingt wohl gesonnen sind. Auf die kleine Kommode schaute ich, die seit meiner Kindheit in diesem Haus steht. Das Pendel der Standuhr meines Großvaters beobachtete ich, wie es gleichmäßig hin und her schlug. Als letztes fiel mein Blick auf das, was ich am meisten verabscheute, das aber aus bestimmten Gründen hier stand: Ein „Kraft durch Freude“ Plakat, ein „Volksempfänger“ und andere nationalsozialistische Dinge wie etwa das Hakenkreuz oder das Mutterkreuz.
Warum ist es soweit gekommen? Warum kam ein kleiner, machthungriger Mann namens Adolf Hitler, der einen ganzen Kontinent ins Elend stürzte, an die Macht? Wie konnte das geschehen? Die Antworten auf diese Fragen lagen auf der Hand: Das Scheitern der Weimarer Republik, das Begehren des Volkes nach einer führungsstarken Person, den es in Hitler zu finden geglaubt hatte und die Ignoranz der anderen, inzwischen verbotenen Parteien. Nun läuft der Krieg, der sich seit dem Eintritt Amerikas zum Weltkrieg ausgeweitet hatte, bereits seit fünf Jahren. Die ersten zweieinhalb Jahre sah es so aus, als ob Deutschland unschlagbar wäre; Sieg folgte auf Sieg. Doch seit dem Russland-Feldzug ist alles anders: Deutschland befand sich auf dem Rückzug, nicht nur im Osten, jetzt auch im Westen.
Und genau in diesem Moment drängte sich mir eine neue Frage auf: An welche Front werde ich geschickt? Werde ich in das Massengrab des Ostens oder in die blutige Schlacht des Westens befördert? Ich dachte kurz über die „Vor- und Nachteile“ der jeweiligen Front nach: „Im Westen sterben nicht so viele wie im Osten“, sagte ich mir leise, um mir im Falle eines Einsatzes im Westens wenigstens einen kleinen „Trost“ zu haben.
Ich verfluchte den nationalsozialistischen Machtapparat, wie ich es so oft tat, doch diesmal brüllte ich es laut heraus, anstatt es bei den üblichen Gedanken zu belassen. Im Zimmer umher laufend versuchte ich, meine Wut im Zaum zu halten, als mir auf einmal etwas bewusst wurde, an das ich vorher nur schemenhaft gedacht habe, als ob ich es verdrängen wollte: Meine Verlobte. Ich sackte zusammen, spürte, wie mein Lebensmut aus mir wich; weinend saß ich auf dem Teppich, Krämpfe durchzuckten mich. Was wird aus ihr werden? Wird sie diese Nachricht verkraften? Ich beschloss, es ihr umgehend zu sagen, wischte meine Tränen aus den Augen, eilte zu meinem KdF-Wagen und fuhr wie von der Tarantel gestochen zu ihr. Unterwegs kamen mir die verrücktesten Gedanken: Wie werde ich wohl sterben? Wird es schmerzhaft sein und schnell vonstatten gehen?
Obwohl die Fahrt nur fünf Minuten dauerte, kam mir die Zeit dreimal so lange vor. Ich kam an und stieg hektisch aus, hastete zur Haustür und klingelte Sturm. Mir wurde geöffnet; vor mir stand meine Verlobte. Ihre Freude, dass ich sie besuchte, wich einer besorgten Miene, als sie mich sah. Sie wollte mich schon fragen, was los ist, doch als ich sie stumm umarmte, wusste sie anscheinend, was vor sich geht, denn sie brach in Tränen aus. Das war ein schöner Moment: Es gab nur sie und mich. Wünschend, das diese Umarmung niemals zu Ende geht, lösten wir uns voneinander. Ich schaute sie an, sie erwiderte meinen Blick. Wir wussten, was jetzt zu tun ist.
Zu unserem Glück hatten wir schon zu Beginn des Krieges im Falle einer solchen Situation eine Vereinbarung getroffen, nämlich das wir sofort heiraten und ein Kind zeugen würden Es ist zwar lange nicht so romantisch, aber viele Menschen machen das. Alle machen das. Besonders im Krieg. Und jetzt ist Krieg. Ein Krieg, in dem niemand gewinnt; es gibt nur Verlierer.
Wir legten fest, morgen zu heiraten. Für heute Nacht gab es nur eine Wahl; wir beschlossen, an den See zu fahren.
Ich musste auch schon wieder gehen, denn ich hatte noch viele Besuche bei meinen Verwandten vor mir; meine Schwester, meinen Bruder und meinen Onkel besuchte ich. Dann ließ ich noch vorsorglich ein Testament aufsetzen. Meine Verlobte und das zukünftige Kind würden alles erben, das war selbstverständlich. Aber noch war es nicht so weit, noch lebte ich.
Es dämmerte schon, als ich mit diesen Erledigungen fertig war und zu meiner Verlobten fuhr. Sie stand vor der Tür; ich konnte ihre freudige Erwartung, zugleich auch die Angst in den Augen sehen. Sie kam aufs Auto zu, ich öffnete ihr die Tür, ließ sie einsteigen und wir fuhren zum See. In Gedanken daran, dass dies vielleicht unsere letzte gemeinsame Nacht ist, stoppte ich das Auto auf dem Parkplatz. Wir gingen auf die mit duftenden Gänseblümchen übersäte Wiese, legten uns hin und genossen den wunderschönen Sonnenuntergang, der sich auf dem klaren und ruhigen Wasser des Sees widerspiegelte. Wir blieben zwei Stunden lang liegen; erst als sie aufsah und den Vollmond entdeckte, der jetzt halb hinter einer Wolke hervorlugte, richtete auch ich meinen Blick darauf und sprach Worte der Verzückung, die dieses Bild in mir hervorriefen: Der Mond schien mit seinen silbernen Strahlen auf den See hinab, sein weißes Licht machte sie noch schöner, als sie es tagsüber je sein könnte. In mir stieg augenblicklich Verlangen auf; ich küsste sie, sie erwiderte meinen Kuss und so führten wir den Akt der Liebe durch.
Diese kurze, intime Zeit schien sich eine Unendlichkeit lange zu ziehen; nach dem Ritual der Liebe schlief ich auf ihr ein und träumte von Dingen und Ereignissen, wie sie sehr wahrscheinlich bald geschehen würden...

>Maschinengewehrsalven liegen mir in den Ohren, Granaten schlagen vor und hinter mir ein, Rufe von verwundeten und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Soldaten hallten auf dem Schlachtfeld wider und Panzer rücken mit tödlicher, aber langsamer Geschwindigkeit vorwärts. „Deckung“, schreit ein Soldat neben mir. Ich ducke mich und kurz darauf schlägt ein Geschoss in 2 Metern Entfernung ein und schleudert mir Dreck ins Gesicht. Ich wische mein Gesicht sauber und feuere mit meinem Maschinengewehr auf den „Feind“, obwohl ich ihn nicht sehe. Ich schieße, verstecke mich, feuere nochmals, verstecke mich wieder, ein ständiges Hin und Her. Plötzlich brüllt ein deutscher Soldat über das Feld: „Sie haben die Linien durchbrochen! Rückzug! Zieht euch zurück!“ Dies setzen wir dann auch in die Tat um: In heilloser Panik versuchen wir in eine nicht existierende Sicherheit zu flüchten. Ich rannte, so wie ich noch nie in meinem bisherigen leben gerannt bin; die schwere Ausrüstung ist dabei sehr kontraproduktiv. Die Schüsse werden immer lauter, ich kann das Schnaufen der uns verfolgenden Soldaten und das Quietschen der tonnenschweren Panzer beinahe fühlen. Plötzlich spüre ich einen stechenden, sich in meinem ganzen Körper ausbreitenden Schmerz im Rücken. Ich falle auf die Erde, kann nur schwer atmen. Ich bin getroffen worden. Gleich werde ich sterben, einsam und verlassen auf dem Feld der Grausamkeit.
So ist es also, zu sterben. Nicht schmerzvoll. Es ist... angenehm, als ob man von einer schweren Last befreit wird. Ich durchlebe mein Leben in einer einzigen Sekunde; alles Geschehene rast an mir vorbei. An einer Stelle bleiben meine Gedanken jedoch stehen; diese Stelle hat sich so stark in mein Gehirn festgebrannt, dass ich den Rest dieser einen Sekunde nur noch daran denken muss: An die Nacht mit dir, die Vollmondnacht.<
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Alt 06.01.2008, 16:14   #2
Shin0
 
Dabei seit: 12/2007
Beiträge: 21


Alles in Allem eine sehr tollte Geschichte. So eine Situation muss zu der von dir beschriebenen Zeit wirklich sehr grausam gewesen sein. Ein weiterer Punkt für mich das damahlige Regim zu hassen. Trotz allem kommt Romantik in der Szene am See auf, Hut ab das du das geschafft hast


Zitat:
Ich rannte, so wie ich noch nie in meinem bisherigen Leben gerannt bin; die schwere Ausrüstung ist dabei sehr kontraproduktiv.
Das ist der einzige Fehler der mir auf Schlag auffällt
Shin0 ist offline   Mit Zitat antworten
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