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Alt 18.03.2006, 17:54   #1
Overkill
 
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Standard Bastard Intern from Hell?

Telefon

"Ich geh schnell auf Station. Passen Sie hier auf das Telefon auf, ja?" Und schon war sie verschwunden.

Eigentlich sollte ich mich ja geehrt fühlen. Schließlich passiert es nicht alle Tage, dass die Heimleitung, die Stelle, an der im Haus alle Fäden zusammenlaufen, einem simplen Praktikanten die ehrenvolle Aufgabe zuteil werden lässt, ihre Telefonate entgegenzunehmen. Darum kümmert sich normalerweise Verwaltraud. Und die ist heute nicht da. Und weil Chefin wahrscheinlich selbst keine Lust hat, ewig nervende Gespräche mit Firmenvertretern zu führen, hat sie wohl flugs beschlossen, einfach mal auf der Pflegestation nach dem Rechten zu sehen. Ohne Telefon. Das würde dabei ja nur stören. Zumal es sowieso nur Vertreter sind, die versuchen, uns irgendwelche Produkte zu verkaufen, die wir schon haben, zu Preisen, die doppelt so hoch sind wie die, welche wir normalerweise zahlen. Oder es geht um Artikel für das Krankenhaus, das früher hier mal drin war und vor guten zehn Jahren geschlossen wurde. Wobei ich mich bei diesen Anrufern frage, ob sie überhaupt registrieren, was zur Begrüßung am Telefon gesagt wird.

Noch bevor ich reagieren kann, höre ich, wie sie bereits am Ende des Flurs die Küchenleitung abwimmelt und in den Fahrstuhl hechtet. Ehrlich gesagt kann ich sie verstehen. Es gibt nichts Schlimmeres als schmierige Firmenvertreter, die dem Haus irgendwelche Produkte verkaufen wollen, die … na ja.

Ich begutachte für einige Sekunden das Mobilteil ihres Telefons, im Heimjargon schlicht ‚Handy' genannt, ehe ich es neben das Äquivalent der Verwaltung auf meinen Schreibtisch lege und mich wieder der Arbeit am Computer widme. "Ein historischer Abriss über den Verlauf des Israel/Palästina-Konflikts unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Vereinten Nationen". Klingt interessant.

Ich möchte gerade anfangen, dem entsprechenden Link zu folgen, da klingelt das Telefon. Entgeistert minimiere ich den Browser, öffne wahllos ein Word-Dokument aus dem Archiv, um eventuellen Besuchern im Büro zu zeigen, wie schwer ich arbeite, und hebe den Hörer pünktlich beim dritten Klingeln ab.

"Sankt-Benedikt-Altenstift Mühlbach, West, guten Tag", schalmaie ich.
"Ja, guten Tag, Schmitz, Firma Klein und Co. KG. Ich hätte gerne mit Ihrer Hausleitung gesprochen."
"Einen Moment, ich verbinde."

Ich wähle die Nummer von Chefins Handy, scolle mehrmals im Word-Dokument auf und ab, tippe einige Zeichen, lösche sie wieder und gehe an das klingelnde Handy der Chefin. Pünktlich beim dritten Läuten.

"Sankt-Benedikt-Altenstift Mühlbach, West, guten Tag", beginne ich, ohne auch nur meine Stimme verstellt zu haben. "Was kann ich für Sie tun?"
Ich merke, wie mein Gegenüber am anderen Ende der Leitung ein wenig irritiert ist.
"Öhm … ja … ich hätte gerne die Hausleitung gesprochen."
"Oh, das tut mir leid, die ist momentan nicht in ihrem Büro. Ich verbinde Sie mal mit der Zentrale, die wissen vielleicht, wo Sie sie erreichen können."

Noch bevor der Firmenheini etwas sagen kann, stelle ich ihn in die Warteschleife und verbinde zurück zum anderen Apparat. Um die Zeit bis zum dritten Klingeln totzuschlagen, sortiere ich die Fresszettel, die ich neben dem Telefon liegen habe und auf denen Mitteilungen stehen, welche ich mir während der Telefonate notiere. Auf einem Zettel finde ich eine Nachricht der Firma Klein und Co. KG, durchgegeben von einem Herrn Schmitz. Jetzt erst fällt mir das Gesicht der Chefin ein, als ich ihr ausrichtete, betreffender Herr würde heute anrufen. Geschickt gemacht, das muss man ihr lassen, denke ich noch. Da klingelt das Telefon zum dritten Male. Ich hebe ab.

"Sankt-Benedikt-Altenstift Mühlbach, West, guten Tag?"
Ich höre, wie der Firmenvertreter einen tiefen Atemzug nimmt.
"Ja, Schmitz hier, ich hätte gerne die Hausleitung gesprochen."
Respekt, denke ich mir, er muss wohl wirklich dringend ein paar überteuerte Artikel verkaufen.
"Aha, öhm …", beginne ich. Doch noch bevor ich aussprechen kann, fällt er mir ins Wort.
"Ja, wir hatten ausgemacht, dass ich sie heute um diese Uhrzeit anrufe. Jetzt wurde ich schon zweimal verbunden, aber beide Male war sie nicht an der entsprechenden Stelle."
"Hm …", spreche ich nachdenklich und bin erstaunt, wie gut ich diesmal das Gurren im Hals hinbekommen habe. "Hier ist sie leider auch nicht. Vielleicht ist sie ja in ihrem Büro, einen Moment, ich verbinde…"

Ich höre gerade noch, wie er tief Luft holt, um mich davon abzuhalten, aber ich habe ihn schon in die Warteschleife gestellt. So langsam gefällt es mir. Ich überlege kurz, ob ich ihn diesmal mit der Wohngruppe verbinden soll, die ihn selbstverständlich wieder nach hier unten, in die Verwaltung, verbindet, aber ich nehme Abstand davon, falls Chefin vielleicht einen kurzen Ausflug dorthin macht und dann doch noch mit ihm sprechen muss. Also verbinde ich ihn wieder mit dem Handy der Chefin.

"Sankt-Benedikt-Altenstift Mühlbach, West, guten Tag?"
Das Atmen am anderen Ende der Leitung hört sich fast wie ein Grunzen an.
"Bevor Sie irgendwas machen: Ist die Hausleitung in der Nähe?"
"Einen Moment", sage ich ruhig und lege das Telefon auf den Tisch. Dann fahre ich einige Male mit dem Bürostuhl vor und zurück, so dass es sich anhört, als würde ich mich tatsächlich umsehen. "Nein, tut mir leid, sie ist nicht hier. Aber vielleicht weiß ja die Verwalt…"
"Nein, um Himmels Willen!", tönt es mir entgegen und ich merke, wie er sich stark zurückhalten muss.
"Vielleicht kann ich Ihnen ja weiterhelfen?", frage ich höflich.
"Das glaube ich nicht", sagt er in einer Mischung aus Verzweiflung und Geringschätzung. "Aber einen Versuch ist es vielleicht wert."
"Gut, einen Moment, ich lege das Gespräch gerade eben auf den anderen Apparat", gebe ich zurück und setze ihn wieder in die Warteschleife.

Ich nehme den Fresszettel mit seinem Namen vom Stapel, zerreiße ihn und werfe ihn in den Papierkorb. Dann scrolle ich wieder einige Male durch das Word-Dokument. Es ist der wöchentliche Essens-Plan, den der KdV (Knecht der Verwaltung) jeden Freitag genau dann schreiben muss, wenn ich eigentlich in die Mittagspause gehen möchte. Ich mache mir eine gedankliche Notiz diesbezüglich. Dann klingelt das Telefon auch schon wieder zum dritten Mal. Ich hebe ab und frage mich selbst, ob dem Firmenvertreter das Lied "Greensleeves" genauso gut gefällt wie mir.

"Sankt-Benedikt-Altenstift Mühlbach, West, guten Tag?"
Ich höre nur ein aggressives Grunzen.
"Ach, Sie sind's!", werfe ich schnell ein. "So, worum geht es denn?"
Ich höre noch einige tiefe Atemzüge, bevor der Vertreter beginnt:
"Ich wollte eigentlich nur nachfragen, ob Ihr Haus am Erwerb eines neuen Röntgen-Apparates interessiert ist."
"Röntgen-Apparat?", frage ich mit gespielter Sachlichkeit.
"Ja. Sie wissen schon, so ein Gerät, mit dem man sich die Knochen anschauen kann. Meinen Unterlagen zufolge ist Ihr Gerät mittlerweile schon stattliche 25 Jahre alt. Da sollte man sich einmal Gedanken um einen neuen Apparat machen."
"Ich wüsste nicht, wofür wir hier einen Röntgen-Apparat brauchen sollten", antworte ich geschäftsmännisch.
"Deshalb wollte ich ja auch die Hausleitung sprechen."
"Die Hausleitung ist momentan nicht hier, aber wenn Sie Glück haben, dann kann ich sie verbin…"
"Nein!", schreit es aus dem Hörer. "Bitte nicht. Aber, sagen Sie, ist vielleicht der Oberarzt irgendwo in der Nähe?"
"Oberarzt?", frage ich ruhig, mein Lachen unterdrückend. "Wir sind schon seit knapp zehn Jahren kein Krankenhaus mehr."
Ich merke, wie sich mein Gegenüber am anderen Ende der Leitung die Faust in den Mund steckt, um nicht loszuschreien.
"Ah … OK … vielen Dank. Auf Wiederhören", dringt seine jetzt zittrige Stimme an mein Ohr.
"Auf Wiederhören. Und einen schönen Tag noch!", gebe ich zurück.

Ich bekomme gerade noch die ersten Millisekunden des gewaltigen Schreies mit, den er loslässt, ehe er auflegt.

Liebe ich meine Praktikantenstelle? Ja, manchmal schon.

(Eine von sechs Kurzgeschichten, inspiriert durch meine Arbeit im Altenheim von Dez 2004 - Juni 2005, geschrieben Anfang 2006)
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