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Alt 11.09.2011, 17:02   #1
Schrutgar
 
Dabei seit: 09/2011
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Standard Mein Untergeher

Ich betrat schlurfend, gebrochen, längst, heute, zur Nichtigkeit degradiert, wie ich damals noch von mir selbst dachte, das Lokal ohne grosse Erwartungen nur erstaunt der überraschenden Einwilligung.
Ich betrat das Lokal, schlurfend, doch, schlagartig, so lächerlich es sich nun auch anhört, und das tut es, spürte ich etwas, etwas, etwas ganz Besonderes, Sonderbares, Unbeschreibliches, ein Hauch, ein kurzer Stoss, der streifend einen schon erschauern lässt. Langsam bewegte ich mich weg vom Eingang, steuerte, unter meiner Last, die so schwer wog, damals, ja, damals, schwer ich den Tisch an.
Erstaunlich, wer er war, wusste ich nicht, seine Oberfläche hatte ich leicht gekratzt, wie er aussah, noch seinen Namen, und doch, ohne je ein Foto gesehen zu haben, kannte ich den richtigen Tisch. Auch heute vermöchte ich nicht zu sagen, wie sein Antlitz geformt ist, längst verschwunden im Grauen, nur die Erinnerung seiner Wort die bleibt, festgebissen hat sie sich tief drinnen, formt, lenkt, leitet, beeinflusst. So setzte ich mich also an seinen Tisch, schüchtern, ängstlich, wie er sagen würde, feige, geknickt, zog ich den Stuhl zurück und liess mich bedächtig, wie ein geschlagener Hund, der Prügel ahnende, sich selbstschützend nur nicht auffallen will. Ich zitterte.
Er schwieg. Ich schwieg. Ein Moment absoluter Stille, totalen Verständnisses, herrschte, dominierte, so schien es mir, die ganze Raumatmosphäre, jeder musste doch, denn so stark war, was ich fühlte, gemerkt haben, dass hier, eben hier und eben jetzt, etwas passieren würde, sogar musste.
Der Augenblick, widererwarten, fühlte er sich genau als solcher an, zerbrach sofort wieder, kurz emporgeschossen, schon wieder im Niedergang begriffen. Doch es hätte genügt, ich wusste mehr, mehr, mehr, als man mit Worten hätte sagen können, fühlte mehr, mehr, mehr ,als man es schildern könnte, so noch immer beben hob ich meinen Blick, die Tischkante, die Kaffeetasse, die dünne, fragile, vornehm bleiche Hand, die Zigarette, der einfach, teure, so war er sicher gewesen, Pullover, der Kragen, das Gesicht, all dies nahm ich wahr und doch auch nicht. Die Tasse war weiss aus Keramik, die Zigarette, ich erinnere mich genau der Marke, eine Maryland, der Pullover vornehm grün. Unvergessen verweilen diese belanglosen Dinge, nur sein Gesicht ist mir längst entglitten.
Er, so las ich ihn seinen Augen, hatte gefühlt, was ich so eben gefühlt, hatte getragen, was ich so eben vom Eingang hergeschleppt, nicht genug, er hatte getragen, ein Leben lang, noch viel mehr, er sah mir direkt ins Gesicht kurz, lang, wie mir schien, es war ein streicheln, sanft, wäre ich nicht so ein Narr, liebevoll ich es geschimpft, er streichelte mich. Langsam, unendlich langsam, öffnete er seine Lippen.
„Weisst du was Glück ist?“
„Ich denke ja.“
„Weisst du was Unglück ist?“
„Ich denke ja.“
„Hast du geliebt?“
„Nein“
Seine Stimme verebbte wieder, er hatte eine sonderbare Stimme, eine der eindrücklichsten, ich je gehört, sanft, leise, doch so klar vernehmbar, zittrig, gebrochen und gleichzeitig stark und sicher.
Er schwieg, zog an seiner Zigarette, blies aus, zog abermals, noch eine Rauchwolke.
„Ich galt immer als klug, Rat hatte ich immer für alle, doch meiner gedachte niemand, keiner riet mir, keiner. Mein Herz zerstochen, gebrochen, verbittert, war schon lange ohne Hoffnung. Doch ich war nicht immer so, als Kind, ich, einer dem es an nichts mangelte, war glücklich, zufrieden. Ich lachte viel, lebte den Tag, in den Tag, ich, in meiner infantilen Unschuld, verstand noch nichts, blühte unberührt, wie Blumen in windigen Höhen, gedieh und wuchs prächtig, ja, man glaube es kein, erfreute sogar mein Umfeld, ja wir waren glücklich.
Doch dann, irgendwann, ich erinnere mich nicht des genauen Jahres, wüsste ich es nicht besser, behauptete ich, es sei immer so gewesen, veränderte sich alles, eine Ursache, so sollte man meinen, muss es gegeben haben, aber nein, es war wie eine Flutwelle, unverdient, unerwartet, unangekündigt, bracht sie, und mit ihr all das Elend des Lebens, über mir zusammen, zog mich in die Tiefe und umklammerte mich. Ich verlor alles, alles, alles, was ich war, wurde ein neuer Mensch, meine Sonne war erloschen, ich war verwelkt, abgestorben, es gab kein zurück, und so vereinsamte ich.
Ich war 17, einsam, ich war 18, einsam, ich war 19, einsam, ich war 20, einsam, ich war 21, einsam, 22.
Dann Jahr 22, was für ein Jahr, es spielte mit mir, zufällig traf ich eine Person, die Person, es ist nicht meine Art kitschig zu sein, an die wahre Liebe, Schicksal, Seelenverwandtschaft, glaubte ich nicht, auch heute nicht, doch damals, da gab es eine Zeit, eine kurze nur, das glaubte ich, musste ich glauben.
Sie war so perfekt, so komplett, so passend, ich auf diesen Menschen jahrelang gewartet, und nun, da stand er, ein unglaublicher Mensch, du fragst dich bestimmt, wie ich so fühlen konnte, eine fremde Person, war doch dieser Mensch, weder ich ihm noch er mir bekannt, und doch, manchmal, ja, manchmal, da fühlt man eben.“
Er sah mich hilflos, verloren, verzweifelt, man muss sagen trauernd, an, suchte Bestätigung. Ich, längst verstummt, hängend an seinen Lippen, nickte nur, senkte die tränenden Augen.
„Atemlos, ganz in dieses Menschen Bann gezogen, verharrte ich, erntete ein Lächeln - hatte es denn überhaupt mir gegolten, ich weiss es nicht, will es nicht wissen, für mich hat es das, wird es immer - so berührt, vergessen all das ganze Eis der letzten Jahre, die Einsamkeit, die Misanthropie, die Depression alles weggeschwemmt und es riss mich mit, ich war machtlos, ein Lächeln wie lächerlich, ein Lächeln und anders war ich, verändert, ganz verändert, es ist doch verrückt, ein so prägender, einzigartiger Moment, und ich vermag heute nicht zu sagen, wo er sich ereignete, jedenfalls, es riss mich mit, es trieb mich, fluchtartig, weg von diesem Geschöpf. Doch ich hatte ein Lächeln und schloss es tief, am tiefsten, in mir ein, möge es mir in dunklen Zeiten Licht spenden, so dachte ich, angestachelt durch eine liebeslüstern pulsierende romantische Ader, töricht.
Später, darauf, erst wurde mir bewusst, wie einfältig ich gehandelt, angelächelt hatte mich sie, angelächelt und ich auf und davon. Irrsinn. Doch, doch, doch ich traf den Menschen wieder, zufällig, in der Strassenbahn von Passentenwogen in das gleiche Abteil gespült. Wieder dieses Lächeln, es macht einen wahnsinnig, gilt es einem selbst, dem anderen, der Welt, man glaubt es kaum, ich war gemeint, sie gab mir eine Nummer, beiläufig steckte er sie mir zu, als ob er dies ständig täte, als ob es nichts bedeutete, sachlich sagte er <Ruf mich an>, und stieg aus.
Ich weiss noch, wie ich zitterte, bebte, ich stand da, verharrte, verpasste meine Station, doch was meinte das schon, ich lebte nur die Situation und war noch immer gefangen in derselben. Lange schlief ich nicht oder nur wenig, viele Tage, zögerte ich, viele Nächte wachte ich, dann, schlussendlich, nachgebend dem Drang, der immer mächtiger werdend seinen Platz forderte, der sich, ganz ungewollt, eingefressen und ausgebreitet hatte, griff zum Telefon ich und tippte die Nummer ein, die Nummer, die verhängnisvolle Nummer.
Schnell, unglaublich schnell, er wieder mit dieser Geübtheit, als ob er dies ständig täte, verabredeten wir uns, wir spielten beide mit offenen Karten, kein Geheimnis, kein einziges, er wusste um meine Hingebung, er wusste um das Eis, das er gebrochen und geschmolzen hatte, wurde aus ich und er, weder dank seinen noch dank meinen, Absichten, uns gemacht.
Wir spielten und wir spielten gut. Es ging zu schnell, ich war mir dessen nicht bewusst, ich war nicht ansprechbar, wandelte in ganz anderen Welten, er, so ich, sich dessen vollkommen bewusst, wusste was er tat und wusste da schon, plante vielleicht, wie es ausgehen würde, und dennoch es war gut, Spaziergänge, Museen, Bänke, Dinners, Filme, alles machten wir, uns selbst manchmal wundernd woher wir die Zeit nahmen, doch es gab keine Grenzen. Alles war perfekt, wunderbar, einfach vollkommen. So blühten wir beide auf, ganz auf, in dieser herrlichen Umwelt, ich, der nur Einsamkeit, Ablehnung, Zurückweisung erfahren, fühlte erstmals Liebe, du magst lachen, doch, doch, doch es war Liebe, glaube mir, ich verachtete, und tue es wieder, dieses Wort, verhasst ist es mir, doch, wenn etwas Liebe ist, dann war das ein Paradebeispiel, ich gedieh wunderbar, löste mich ganz auf, gab mich ganz hin. Mit all der Macht, mit der ich mich einst verschlossen hatte, genoss ich den Rausch in vollen Zügen, und wurde süchtig, konnte, wollte nicht mehr ohne, dieser Mensch war alles, alles und nichts zugleich, für mich, ich konnte nicht mehr ohne ihn, ich, einst so kalt, so zerstört, gebrochen, spürte, was es bedeutet zu lieben, zu geben, zu erhalten.
Es ging zu schnell, es ging viel zu schnell, doch ich, das blinde Huhn, das in den Kornspeicher hineingestolpert war, pickte, frass, schlang, ich kannte nur Lust, Genuss, kein Mass, ich war unfähig zu denken, wir zogen zusammen. Wie schön sich das Übel doch immer kleidet, denn, was gab es wunderbareres als dies? Den ganzen Tag zusammen, die ganze Nacht zusammen, immer zusammen auf ewig.
Wir teilten uns eine Wohnung, Streit war uns genau so fremd wie Geheimnisse, es gab wenig, nur Liebe reine, unberührte, Märchenliebe. So lebte ich, lebte und genoss, wie noch nie etwas genossen, wie man in den Tag hinein lebt. Geniessen, ja, das ist alles was wir können, Schätzen, ach man verlernt es so schnell, so schnell…
Er trennte sich irgendwann, zum Abschied gab es ein Buch – Ich habe das Buch ins Wasser geworfen.“

Seine Zigarette war längst niedergebrannt und erloschen, wie er. Er erhob sich, blickte in mein tränenbenetztes Gesicht, ein letzter Hauch, und ging.
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