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Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt.

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Alt 15.02.2022, 12:00   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard An der S-Bahn

Teilnahmslose Bleichgesichter
starren müde auf die Schienen,
fahl sind selbst die Neonlichter
auf den resignierten Mienen.

Tauben picken Dreck und Brösel,
und knapp vor dem Bahnsteigrand
schnippt ein abgeklärter Schnösel
cool die Kippe aus der Hand.

Eine alte Frau beschwert sich,
und von Schnoddrigkeit besessen
keift er: „Dich hat offensichtlich
Eichmanns Manifest vergessen!“

Niemand schenkt der Szene Blicke,
nicht ein Mensch zeigt sich empört,
mit dem Alltag im Genicke
ist man schon genug gestört,

will nach Haus zu Bier und Glotze,
zu der Ruhe im Karton.
Wen geht diese alte Motze
etwas an, wem nützt sie schon?

15.02.2022
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Alt 15.02.2022, 12:38   #2
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Wenn jeder an sich selbst nur denkt
ist jederman doch auch bedacht
(welch Gleichgewicht des Schreckens senkt
wenn Schmerz/Wut(...) dann noch als Hassen lacht)

Das ist böse und/weil ganz schön banal
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Alt 15.02.2022, 13:16   #3
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Zitat:
Zitat von Anaximandala Beitrag anzeigen
Das ist böse und/weil ganz schön banal
Das Banale im Bösen hatte Hannah Arendt klar erkannt - und dafür, dass sie es aussprach, Prügel bezogen.

Heute ging durch die Rundfunknachrichten, dass zwei tote Welpen (mit Chips, also registriert!) gefunden wurden, die Anzeichen schwerer Misshandlungen aufwiesen. Sich an Wehrlosen zu vergreifen muss für manche Menschen ein irrer Spaß sein. Würde mich nicht wundern, wenn die entsprechenden Videoclips demnächst im Internet abrufbar wären. Der Mensch hat sich nicht geändert, er wechselt nur seine Opfer.
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Alt 15.02.2022, 13:35   #4
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Ich hab bisher zwar nichts von ihr gelesen, aber wenn das Böse auch noch banal, normal wird ist das wirklich böse.

Es ist ja schon schlimm genug, dass sowas passiert. Und leider scheinen irgendwo in uns solche Triebe in Möglichkeit vorhanden zu sein, Freude wehzutun/Macht auszuüben/stärker zu sein/ keine Ahnung. Manchmal einfach wegen falscher Umstände, Kleinigkeiten, können Kinder gemein oder grausam werden. Und dabei glücklich lachen.

Aber auch so eine massive Entwertung ist der Keim von schlimmen Dingen. Und Akzeptanz der Trieb.

In deinem Gedicht ist ist die alte Frau theoretisch beliebig austauschbar, es ist den anderen Menschen schlichtweg egal, oder?

Egal ist 88
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Alt 15.02.2022, 14:36   #5
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Zitat:
Zitat von Anaximandala Beitrag anzeigen
Ich hab bisher zwar nichts von ihr gelesen, aber wenn das Böse auch noch banal, normal wird ist das wirklich böse.
Muss man nicht, es gibt genügend Interviews mit ihr auf youtube, um sich mit ihrer Gedankenwelt vertraut zu machen. Ihre Erkenntnis der "Banalität des Bösen" geht auf ihre Beobachtung des Eichmann-Prozesses zurück, dem sie dieses Attribut verpasste und damit für einen Skandal sorgte. Sie nahm Eichmann als einen seiner vermeintlichen Pflicht gehorchenden Technokraten wahr, der sich nicht im Unrecht sah und deshalb seiner Meinung nach nicht für seine Taten verantwortlich war. Die Isreaelis sahen das allerdings anders und verurteilten ihn zum Tode.

Über Hannah Arendts Haltung zum Eichmann-Prozess gibt es einen Spielfilm mit Barbara Sukowa in der Titelrolle. Sehenswert ist auch der Film "Der Staat gegen Fritz Bauer", der zeigt, wie Eichmann aufgespürt wurde und weshalb er in Israel anstatt in Deutschland vor Gericht stand - eine ziemlich spannende Angelegenheit, denn Fritz Bauer hätte diese Tatsache, dass ihm die Isreaelis Eichmann weggeschnappt hatten, beinahe mit einer Anklage wegen Hochverrats bezahlt.
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Alt 15.02.2022, 15:41   #6
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Das klingt wirklich interessant, ich glaube ddie beiden Filme werde ich mir mal notieren. Das Milgram Experiment ist da ja ziemlich aussagekräftig. Und am Ende ist jeder für sein Handeln verantwortlich, manchmal kommen ungünstige Umstände zusammen und wer ein kleines Unrecht getan hat, ohne böse Absicht, kann sich ihm stellen und es lösen. Oder nicht, vielleicht verklärt er es sich auch als notwendig, akzeptabel,... das befreit auch von Schuld, kann aber auch den Rahmen verschieben. Einmal ist keinmal, nochmal wärs das erste mal und einmal ist keinmal und ich hätte Schuld wird grundsätzlich ok.

Das Stanford Prism Experiment ist auch interessant, aber nicht wirklich repräsentativ.

Mir schwirrt grad der Satz im Kopf rum 'Das wahrhaft Böse stammt aus der reinen Unschuld' oder so, das könnte man bestimmt auf einige interessante Arten interpretieren
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Alt 15.02.2022, 15:53   #7
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Zitat:
Zitat von Anaximandala Beitrag anzeigen
Und am Ende ist jeder für sein Handeln verantwortlich, manchmal kommen ungünstige Umstände zusammen ...
Im wahrsten Sinne des Wortes, und oft sind es Worte, die Taten einleiten. Man erinnere sich an den Kopfstoß des Fußballspielers Zidane an seinem Gegner. Zidane war der Buhmann, aber als das Gespräch, das zwischen den beiden Spielern voranging, analysiert wurde, sahen Ursache und Wirkung wesentlich anders aus.
https://www.youtube.com/watch?v=l4njkhfE1gg

Entschuldigen kann man damit natürlich trotzdem keine derartige Entgleisung.
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Alt 15.02.2022, 17:44   #8
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Den Vorfall kannte ich, zumindest hab ich davon schonmal gehört, aber das Gespräch nicht.

Ganz schweres Thema

Man sollte versuchen sein Handeln verantworten zu können, aber gerne auch wie man interpretiert und reagiert. Genauso aber wie man spricht. Dazu sind wir nicht gemacht.
Ich kenne die Farben meiner schwarzen Flecken nicht, und selbst wenn ich sie kenne, was brennt, das brennt, egal wie klug man vorher oder nachher ist.
Ich glaube auf jeden Fall, dass Worte und Gesten kraftvolle Waffen sein können und die Worte waren nicht ohne, vielleicht sogar gezielt schmerzhaft. Ich würde die Reaktion nicht entschuldigen, aber verstehn kann ich sie schon. Nur jeder Zuschauer hat einzig gesehen, dass Zidane am Shirt gezogen wurde und es geknallt hat und keiner wird gedacht haben "ja kann ich verstehen".
Leider ist das Handeln objektiv klar ersichtlich, Was gesagt, gemeint, gehört, interpretiert und beabsichtigt war, das kann alles etwas anderes sein.
Körperliche Schmerzen lassen sich in einordnen, alles geistige ist im Ausmaß subjektiv.
Ich glaube am Ende ist die Welt schlicht und einfach nicht geist, sondern anfassbar, und das ist oft nicht gut, Grund und Kontext, Trauma oder Angst, was weiß ich, das alles spielt eine oftmals nebensächliche Rolle, es lässt sich ja nur denken.

Und da sind wir dann wieder bei Verantwortlichkeit. Und schwarzen Flecken.

Ganz ehrlich ich find das ganze richtig schwierig, Gut ist es irgendwie nicht recht, es gibt ja auch Versuche das etwas zu verrücken. Und einen Mißbrauch des ganzen.

Angemessen, gerecht, Wahrheit, alles nur Ideen in Köpfen.

Es ist einfach schwer.

Aber, falsche Zeit, falsche Stimmung, falsches Wort, das hätte mir genauso passieren können.

Wenn wir doch nur alle reflektiert agierende Diplompsychologen wären, dann könnten wir alles geistige vielleicht angemessen erfassen. wenn.


Wie siehst du das?
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Alt 15.02.2022, 20:45   #9
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Ganz tragisch und real wär ja zum Beispiel die Geschichte, wo ein älterer Mann auf dem Boden einer Bankfiliale gestorben ist und während er da einige Minuten am sterben lag sind mehrere Leute über ihn rübergestiegen zum Automaten Geld abheben gegangen, beachtet hat ihn keiner.
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