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Alt 16.05.2013, 00:34   #1
weiblich Damaris
 
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Beiträge: 261


Standard Nur wer die Sehnsucht kennt

Sie trafen sich und es traf sie der Blitz, mitten ins trauernde Herz.
Doch beginnen wir am Anfang meiner Geschichte.
Es war an einem verregneten Novemberabend um zwanzig vor acht. Dagmar machte sich auf den Weg zur Alten Heide. Ohne Geleit, den das Schicksal hatte gar grausam zugeschlagen, sie von ihrem Gemahl entzweit. Ach, wäre doch Heino noch bei ihr. Dagmar tupfte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Das zerknüllte Taschentuch behielt sie fest in ihrer Rechten, gleich einer Waffe gegen jedwedes Übel.
Lassen wir sie ein Weilchen allein und schauen zwei Querstraßen weiter in entgegengesetzter Richtung. Kühn schreitet er aus, groß ist er von Gestalt, mit Locken wie Bitterschokolade. Ein schöner Mann in den besten Jahren, doch zeichnet Gram seine edlen Züge. Ja, Leonhard ist auf dem Weg zur Alten Heide. Auch ihm widerfuhr das Schicksal der Trennung von seinem einst so geliebten Weibe Heidrun.
„Der Mensch ist nicht dafür gemacht, allein zu sein“, raunt Leonhard, öffnet mit entschlossenem Ruck das Tor zu dem alten Gemäuer, steigt die Wendeltreppe empor, sucht sich einen Platz im linken Eck des Saales und mustert gedankenschwer die anderen traurigen Gestalten.
Diesen gilt nicht unser Interesse. Wir warten auf Dagmar. Endlich steht sie vor selbiger Tür, hinter welcher Amor mit spitzen Pfeilen lauert. Nichts davon ahnend schluchzt sie:
„Ich sperre mein Herz in einen Käfig aus gefrorenen Tränen, dann kann es niemand mehr verletzen.“
Dagmar ist hier, um einen Schlussstrich zu ziehen. Aber das Leben ist ein Quiz und wir...
Gesenkten Blickes höflich grüßend sucht sie sich einen Platz im hintersten Winkel, rechts neben dem Stützpfeiler. Leonhard, am anderen Ende des Saales, kann seinen Blick nicht von ihrer anmutig schlanken Gestalt, ihrem langen blonden Haar und den vom Weinen geröteten Antlitz abwenden. Sie bemerkt ihn nicht.
Ein Gong ertönt. Der Referent erhebt sich. Das Trennungsseminar beginnt mit dem üblichen Begrüßungspallaver. Im Anschluss die Vorstellungsrunde, ein roter Stein wandert von Hand zu Hand:
'Ich heiße so und so, bin Punkt Punkt alt, von Beruf dies, zurzeit das, fühle mich wie und erwarte was. Und so weiter.'
Sicher interessiert es Sie, lieber Leser, so wenig wie mich, wie diese dreiunddreißig Personen heißen, was sie tragen, wo sie sitzen und ob sie hier sind wegen des Auseinanderlebens, Fremdgängertums oder der falsch ausgedrückten Zahnpastatube?
Doch, wirklich? Nun gut:
Am rechten Nebentisch sitzen zwei Senioren. Beide tragen rote Strickpullover, blaue Leinenhosen und graue Kurzhaarfrisuren. Die Frau heißt Walburga Koch, ist Hausfrau, Groß- und Mutter. Ihr Ehemann Fritz Koch war Koch in einer Großküche für Essenszubereitung. Nun kocht Fritz nicht mehr, nur noch Walburga. Der linke Nebentisch ist frei. Am Tisch gegenüber -
bla bla bla, schreiben sie sich ihre Geschichte doch selbst.
Fokussieren wir uns jetzt lieber auf unsere beiden Protagonisten.
Dagmar hebt ihren Kopf und sie sieht nur ihn. Leonhards samtbraune Augen halten ihrem stahlblauen Blick stand, mehr noch, er steht auf. Sie tut es ihm gleich. Wie von Zauberhänden bewegte Marionetten schweben sie aufeinander zu mittendurch den Wortschleim, schlagen die Hülsen beiseite, kicken die Satzzeichen zwischen sich hin und her. Das Universum hält den Atem an. Sie stehen einander gegenüber, zwischen ihnen nur noch ein Paar Anführungszeichen. Dagmar nimmt sie auf, wirft sie Leonhard zu:
„Durch diese hohle Gasse muss er kommen.“
Er fängt sie geschickt: „Es führt kein anderer Weg nach Kussnacht.“
Sie sinken einander in die Arme, vergessen alles um sich herum und...

Verdammte Türklingel, schrillt mitten hinein in mein Happy End.
Ich lege den Stift weg, stemme mich vom Stuhl hoch, schlurfe zur Tür, bediene die Sprechanlage, den Türöffner. Gehe ins Bad, tusche die Wimpern, lege etwas Puder auf. Er wird eine Weile brauchen, der Aufzug ist seit heute Morgen defekt und ich wohne im sechsten Stock. Kämme mein Haar, noch ein wenig Parfüm und Lipgloss.
'Ding Dong'
Ich öffne. Leo lässt sich aufs rechte Knie sinken:
„Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide! Allein und abgetrennt von aller Freude. Es schwindelt mir, es brennt mein Eingeweide. Geliebte Dagmar, weißt Du, was ich leide!
Dagmar, verzeih mir, es war nur ihr unwichtiger Körper. Ich wollte nicht, aber sie, Heidrun, hat mich, so gerissen. Ich liebe Dich ganz allein!“
Er holt seine Linke hinterm Rücken hervor, klemmt sich die dornenlose Rose zwischen die Zähne, nuschelt mit schmachtendem Blick: „Schau mir in die Augen, Kleines.“
Ich hole tief Luft: „Sehr schön, Moment, bleib so!“ gehe ich in meine Wohnung,
werfe seine Klamotten in den Wäschekorb, Zahnbürste oben drauf, Turnschuhe und die Blumen von gestern.
„Weißt Du, es liegt nicht an Dir“, tröste ich ihn. „Es liegt an mir. Ich habe etwas Besseres verdient.“
„Aber Daggy, weißt Du nicht mehr: Marmor Stein und Eisen bricht,“
ich drücke den Korb vor seine Brust
„und der Lift geht nicht“, jammert Leonhard.
„Du brauchst Hilfe?“ lächele ich und leere den Wäschekorb in die Treppenflucht.
„Nun brauchst Du nur noch der Spur nachzugehen“, schließe ich die Tür von innen, lehne mich dagegen und höre Leo fluchen: „Nur die Harten kommen in den Garten.“
Er klingelt, ruft: „Dagmar, bitte!“
„Verschwinde!“, schreie ich.
„Verschwinde, verschwinde wie ein Furz im Winde“, trällert Heino, mein Wellensittich.
Leo poltert die Treppen runter.
Ich gehe zum Schreibtisch, verarbeite auch diese Version der Geschichte zu Konfetti. Seit gestern Abend tue ich nichts anderes als schreiben und zerreißen. Trennungsseminar, doofes Thema, gibt es so was überhaupt? Warum will, nein, muss ich diese Story schreiben? In meinem Hirn existiert nur noch ein überdimensionales Fragezeichen. Scheinbar hat sich die restliche graue Substanz in Form der unzähligen Papierschnipsel auf dem Boden zerstreut. Ich hole den Besen, dabei fällt mein Blick in den Garderobenspiegel. Lasse den Besen, wo er war, zurück zum Schreibtisch.
Ich beginne die Geschichte von Neuem unter dem Titel:
'Augenringe statt Eheringe'.
Damaris ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.05.2013, 09:09   #2
weiblich simbaladung
 
Dabei seit: 07/2012
Alter: 67
Beiträge: 3.073


Hallo, Damaris,

wie gut, dass ich diese Geschichte bis zum Ende gelesen hab. Wollte zwischendrin schon aufhören. Sehr originell, voller Sprachwitz und überraschenden Wendungen. Eine Journalistin (selbst betroffen) muss über Trauerseminare schreiben ... gutes Thema, für mich sehr interessant umgesetzt. Die persönliche Verstrickung in Wünsche, Träume und Realität
bis zum Finden des "richtigen" Titels am Schluss, insgesamt ein interessantes Lesevergnügen.

lieben Gruß, simbaladung
simbaladung ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.05.2013, 10:11   #3
Ex-zonkeye
abgemeldet
 
Dabei seit: 05/2011
Beiträge: 504


Hallo Damaris,

ich schließ mich dem Vorredner an und stelle fest, dass der erste Teil dieses Textes nicht nur nicht so recht zum zweiten passen will, sondern auch ein wenig flüchtig hingeschrieben erscheint.

Der zweite Abschnitt, mit seinem wirklich trockenen, schwarzen Humor, ist sehr gut gelungen. Eine coole Nummer wie die bräuchte die vorangestellte, opulente Ouvertüre doch gar nicht. Eine einfache Einleitung genügte, die erklärte, dass die Autorin gerade an einer Auftrags-Liebesgeschichte schriebe, mit der sie nicht weiter käme und dass sie froh sei, dass es klingelt, statt sich darüber zu ärgern (lass die Sprechanlage besser weg - Leo sollte eine Überraschung für sie sein!). Das würde noch ein bisschen mehr Druck im Kessel machen und die Fallhöhe des Wäschekorbes steigern.

Ich hätte als Autorin am Ende die Programmmusik-Partitur nicht zerissen, sondern den Leser wissen lassen, dass jetzt erst der Kopf so richtig frei sei für eine love story, die so pappsüß werden wird, dass man beim Aufschreiben schon Karies bekommt, nicht erst beim Lesen.

lg

z
Ex-zonkeye ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.05.2013, 10:45   #4
weiblich Damaris
 
Benutzerbild von Damaris
 
Dabei seit: 03/2008
Ort: München
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Beiträge: 261


Liebe Simbaladung, lieber Zonkeye,
toll, dass ich so schnell und noch dazu so gutes Feedback bekomme, vielen Dank!
Bedenke alles nochmal in Ruhe.
Sonnige Grüße (auch wenn sie gerade nicht über München scheint)
Damaris, die tief in ihrem Herzen einen schmalzigen Kern verbirgt.
Damaris ist offline   Mit Zitat antworten
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