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Alt 19.03.2014, 15:00   #1
weiblich Blaue-Ente
 
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Standard Der alte Trott der Gewohnheit

Da sah er sie endlich. Sie sah wunderschön aus mit ihrem roten, engen Kleid, welches im matten Licht der Barbeleuchtung schimmerte. Es hatte einen weiten Ausschnitt, der aber nicht zu aufreißend, sondern elegant wirkte. Ihre kastanienbraunen Haare waren leicht gewellt, was ihre Gesichtsform besonders betonte. Selbst ihr Make-Up und Lidschatten, die passend zum Kleid gewählt wurden, wirkten schlicht und machten sie besonders attraktiv.
Auf was wolle er sie zuerst ansprechen? Auf ihr Haar, ihren Job, ihr schickes Kleid oder vielleicht auf das Wetter? Bei solch einer Frau muss man genau wissen, wie man taktisch vorgehen sollte, um nicht aufdringlich oder gar unkultiviert zu wirken. Aber was war sie für ein Typ von Frau? Nach ihrer leicht schrägen Kopfhaltung zu urteilen, könnte sie etwas schüchtern sein. Oder ist dies nur eine Masche, um bei den Männern als „süß“ anzukommen? Vermutlich könnte sie jeden Mann in dieser Bar ansprechen, dazu bräuchte sie wahrscheinlich nicht mal mehr tun, als zu lächeln.
Er sah sich um – und tatsächlich: so gut wie alle Männer richteten ihren Blick in Richtung der Frau, die doch eigentlich er treffen wollte. Wenn er sie jetzt anspricht, würde er sicherlich die Achtung der anderen Männer erlangen. Ein Gefühl der Bestätigung. Aber andererseits wäre es fatal, sich vor allen zu blamieren, falls er nicht die richtigen Worte finden würde. Also was tun? Es war ein Teufelskreis. Egal, welche Methode, sie anzusprechen, er durch den Kopf gehen ließ, sie war unpassend. Noch hatte sie ihn wohl nicht erkannt, denn sie ging nicht auf ihn zu. Sie blickte nicht ein mal in seine Richtung. Sie sah sich in der Bar um. Ob sie ihn wohl suchte? Oder machte sie das nur, damit er sie endlich ansprach? Suchte sie nach den Blicken der anderen Männer, um zu sehen, ob vielleicht ein anderer interessanter Mann unter den Gästen war?
Er fragte sich, was die ganzen inneren Konflikte bringen. Eigentlich doch nur, dass er sich selbst einschränkt. Deswegen musste er jetzt unbedingt eine Methode finden, sie anzusprechen und den weiteren Abend mit ihr zu verbringen. Doch – er hatte sich noch gar keine Gedanken gemacht, wie genau der Abend eigentlich ablaufen solle. Sollte er sie auf einen Drink einladen? Sollte er überhaupt selbst Alkohol trinken? - Der Erfahrung nach machte Alkohol ihn distanzlos und das könnte ihm den ganzen Abend verderben. Also war wohl ein Glas Wasser die bessere Wahl. Gesprächsthemen vorher zu wählen bringe nichts, da sich diese selbst entwickeln. Wichtig ist – das wusste er – nicht zu viel von sich zu erzählen, sondern vor allem ihr die Fragen zu stellen. Doch das ist auch nicht gerade einfach, denn er wollte nicht den Anschein machen, die Frau auszuquetschen.
Falls der Abend gut verlaufen würde, sollte er sie fragen, zu ihm nach Hause zu kommen? Oder ist dies zu dreist beim ersten Treffen? War vielleicht ein Spaziergang im Park unter den Sternen passender?
Die hübsche Frau öffnete ihre Handtasche aus dunkelrotem Leder und holte eine kleine, goldene Uhr heraus und sah auf die Zeit. Mit leicht ungeduldigem Blick schloss sie die Tasche, blickte sich wieder um und setzte sich schließlich an die Bar, ohne jedoch was zu bestellen.
Jetzt sollte er sie endlich ansprechen, bevor ein anderer die Gelegenheit ergreift. Denn die Männer in der Bar glotzten sich schier die Augen aus dem Kopf und lechzten vor Gier. Was wohl in deren Köpfe vorgehen muss, fragte er sich. Wahrscheinlich nichts Gutes. Nach ihren Blicken zu urteilen, wollten sie eh nur das Eine. Eine Schande, wenn es um solch eine schöne Frau ging. Sie hat wohl etwas besseres verdient als ihn, dachte er. Sie würde sich bestimmt nicht mit einem wie ihn abgeben. Am Ende würde sie noch die Bar verlassen, sobald sie ihn erblickte. Er hatte nur noch den einen, schäbigen Anzug an, den er damals auf dem Abschlussball der High-School trug. Das Hemd bekam er nicht einmal mehr komplett zu, denn der Frust, den er des Öfteren beim Bier abließ, machte sich am Bauch bemerkbar.
Dass es keinen Sinn machte, sie anzusprechen, traf ihn tief ins Herz. Es lag alles nur an ihm selbst. Hätte er damals, als er noch sportlich und jung war, seine High-School-Liebe angesprochen, wäre jetzt wahrscheinlich alles anders. Vielleicht hätte er schon eine Familie mit drei Kindern, er hätte seinen damaligen Körper behalten und einen gut bezahlten Job, um auch die Familie ernähren zu können. Doch da dies alles nicht zustande kam, reichte ihm die Arbeit als Zimmermann, in der er nur so viel verdiente, dass er alleine gerade so zurecht kam. Mehr brauchte er auch nicht.
Nein, so konnte es nicht weitergehen, ermahnte er sich. Er musste auf sie zugehen, um endlich sein Leben in den Griff zu kriegen. Er ging langsam auf die hübsche Frau zu. Jeder einzelne Schritt kam ihm vor wie das Besteigen des Mount Everest. Die Füße schienen wie bleigefüllt. Er zupfte sein Hemd zurecht, strich sich ein letztes Mal durch die Haare und setzte ein mattes Lächeln auf. Eben das beste, was er in dieser aufregenden Situation zustande bekam.
„Hallo!“, sprach er sie von Hinten an. Mehr kriegte er gerade nicht aus dem Mund. Aber es reichte, dass sie sich zu ihm drehte. Ihre Wimpern schwangen, als sie zu ihm aufsah. Ihre perfekt geformten Lippen setzten ein Lächeln in ihr wunderschönes Gesicht. Sie hatte blaue Augen – ein Blau, welches er noch nie zuvor gesehen hatte. Wie das Meer, welches an einem heißen Sommertag in der Sonne schimmerte und den wolkenlosen Himmel spiegelte.
„Hallo!“, grüßte sie freundlich zurück und reichte ihm die Hand.
Doch ihn überfiel wieder das altgewohnte Gefühl der Minderwertigkeit. Es wurde ihm plötzlich übel. Was soll's - er hatte doch eh keine Chance bei solch einer schönen Frau.
Er brachte nur ein „Entschuldigen Sie bitte!“ heraus, drehte sich um und verließ mit gesenktem Kopf rasch die Bar.
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