Die Gewitterfahrt

[Canción]

Da war ein morscher Baum, dem alle Äste fehlten. Es sah aus wie eine umgekehrte Zwiebelknolle. Darunter saß ein alter Mann mit Ziegenbart und tiefliegenden Augen. Als er dem Baum näher kam, merkte der Reisende, wie die Auen und Wege darum zu atmen schienen. Es lag eine Schwere über dem Ort.
„Hast du meine Schafe gesehen?“, fragte der Alte, die Augen fest auf den Reisenden gerichtet, ohne den Kopf zu bewegen. Ein Windstoß fuhr ihm durch den schwarzen Schlapphut und wehte ihn davon, doch den Alten kümmerte es nicht.
„Es ist gefährlich, hier Schafe zu hüten.“, sagte der Reisende knapp, im Absatteln begriffen.
„Das hast du mir nicht zu sagen, Junge.“, fuhr der Greis ihn an. „Ich hüte hier schon immer meine Schafe, deine Gefahr gibt es erst seit einem Augenblick.“
„So ist das mit der Gefahr.“, lachte der Reisende und wunderte sich insgeheim über den Alten. „An solche Veränderungen muss man sich schnell gewöhnen, sonst erwischt es einen.“
„Sieh dich um.“ Das Großväterchen steckte sich eine Pfeife an. „Glaubst du, dass sich hier so schnell etwas ändern wird?“
Der Reisende tat wie geheißen. Er fand sich inmitten eines flachen Tals wieder, die Halme der Gräser wuchsen hoch, doch sie waren vom Wind unbewegt. Das mutete seltsam an, denn es wehte eine starke Brise. Nirgendwo waren Tiergeräusche zu hören. Der Alte selbst, gleichmütig paffend wie er dasaß, war wettergebräunt und hatte mehr Falten im Gesicht als glatte Haut dazwischen. An manchen Stellen war seine schwarze Kleidung von Moos und Flechten bedeckt. Jede seiner Regungen war merkwürdig tief und klar. Es schien als würde nicht er sich durch den Raum, sondern der Raum sich um ihn bewegen.
„Du hast recht, Alter.“, gab der Soldat zu und stieg endgültig von seinem Pferd ab. „Ich helfe dir mit den Schafen. Kommt es denn häufiger vor, dass sie dir davonlaufen?“
Schulterzucken. „Ich habe ja nichts von Davonlaufen gesagt. Sie sind nur manchmal hier und manchmal nicht. Wenn du willst, dann such! Hier ist sowieso erstmal Endstation.“
Der Kavallerist gab gern seiner Neugier nach. Er ließ das Pferd am Baum zurück; Dieses blieb ruhig und musste nicht angebunden werden. Er schaffte es bis auf eine Anhöhe, wo das Gras besonders dicht wuchs. Dort fand er den ersten Kadaver, durchspießt von Halmen des Wiesenkrauts. Von unten her schallte die Stimme des Alten:
„Und?“
„Eines ist hier und weidet.“ rief der Reisende. Er sank neben dem zerfallenden Tier nieder und sah es sich genau an. Irgendwie erinnerte es ihn an etwas. Einen Kameraden? Nein, seine Mutter? Oder das Pferd, das er neben dem Alten zum Rotten zurückgelassen hatte...

Es dauerte Ewigkeiten, bevor er wieder den Baum erreichte. Dort saß der Greis unverändert und paffte immer noch achtlos unförmige Gebilde in die Abendluft.
„Es ist vielleicht kein schöner Anblick für ein junges Geschöpf wie dich, Söhnchen.“
„Ach was.“, lachte der Soldat. „Früher vielleicht.“
Er setzte sich neben den knorrigen Hirten und beobachtete das Wetter. Schlieren von Erde zogen sich über den Himmel, während zum ersten Mal seit Zeitaltern ein Sturmwind die Grashalme in den Auen des alten Gottes bewegte.