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Alt 25.03.2008, 15:15   #1
Traumwächterin
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 112


Standard Wut aus der Flasche

„Sophia, kannst du bitte noch Mal losgehen und mir ein bisschen Trauer mitbringen?“
Der Tag flüchtete sich bereits hinter den Horizont der nicht allzu fernen Zukunft, in der das Mädchen mit seinen Eltern lebte. Sophia war 14 Jahre alt. In einem Alter also, in dem jeder glaubte, die Welt gehöre ihm, er sei erwachsen und könne für sich selbst entscheiden.
Und sie hatte sich verdammt noch Mal entschieden, nicht noch mal einkaufen zu gehen. „Wir haben noch Lebensfreude und Enthusiasmus übrig. Nimm doch das“, kam Sophias etwas patzige Antwort.
„Hör mal zu: Ich bin deine Mutter. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, damit wir es gut haben. Und jetzt willst du mir nicht Mal den Gefallen tun?“, ihre Mutter schüttelte den Kopf, „Du kannst das Wechselgeld auch behalten!“
Zehn Minuten später trottete sie über den gepflasterten Weg in Richtung Tankstelle; die hätte bestimmt noch auf. Es herrschte eine stille, unberührbare Abendstimmung, in der Sophia ihren Gedanken freien Lauf lassen konnte. Ja, klar, schick doch einfach deine Tochter. Die hat ja sonst nichts zu tun! Blöde Mutter, dachte sie und die Flasche Wut begann zu wirken.
Es war ein ziemlich merkwürdiger Tag gewesen. Ihr Schwarm hatte ihr heute vor der ganzen Klasse gestanden, dass er sie niemals im Leben lieben würde, selbst wenn sie der letzte Mensch auf der Welt wäre. Darum hatte sie sich ärgern wollen.
In der heutigen Gesellschaft aber war es so, dass die Kinder lernten ihre Gefühle zu unterdrücken. Sie gehörten nicht in die Schule und später nicht an den Arbeitsplatz. Die Empfindungen behinderten einen nur und verhinderten Karriere und Erfolg. Gefühle waren Privatsache. Wenn sie also fühlen wollte, nahm sie, sobald sie zu Hause war, die entsprechende Dosis zu sich. Es gab sie als Pillen, als Lotion, als Tee, in Flaschen, in Dosen, elektronisch, digital, manuell, konserviert oder frisch.
Heute Abend also konnte sie ihre künstlichen Empfindungen voll ausleben und hätte es auch weiter gekonnt, wenn nicht plötzlich wie aus dem Nichts ein Mann vor ihr aufgetaucht wäre. Sie fuhr zusammen und ärgerte sich über ihn. Wie konnte er sich ihr einfach so in den Weg stellen?
Dass er zuvor langsam auf sie zugegangen war, hatte sie natürlich nicht mitbekommen.
Jetzt stand er da und schaute sie an. Er sah aus, als wäre er heute Morgen aus der Mülltonne gestiegen und hätte anschließend ein frisches Bad im nächsten Schlammloch genommen. Darüber ärgerte Sophia sich noch mehr. Sie wusste natürlich nicht, warum. Wer wusste das schon?
„He! Was willst du?“, machte das Mädchen; ihre funkelnden Augen durchbohrten ihn.
„Ich lebe auf der Straße -“, begann er.
„Ja, das sehe ich, du machst auch nicht gerade ein Geheimnis daraus“, erwiderte sie, aber er ließ sich nicht beirren: „Ich habe nichts, so gut wie nichts … Hast du nicht eine kleine Spende für mich … vielleicht?“
Sophia wurde noch wütender. Dann sah sie etwas Seltsames: Er war verzweifelt und traurig. Nein, sie spürte, dass er es war. Das passierte selten. Heutzutage konsumieren die Menschen ihre Gefühle alleine. Ihre Wut zum Beispiel gehörte ihr alleine, niemand anders konnte sie spüren.
„Du hast überhaupt gar kein Mitgefühl, oder? Nein, wie könntest du … das habt ihr alle nicht.“ Der Mann seufzte.
Sie entdeckte mit einem Mal einen reichen Schatz an Gefühlen in seinen trüben Augen. Da war Bedauern, Trauer, Wehmut, Niedergeschlagenheit, Mutlosigkeit. Eine solche Mischung zu kaufen, wäre sehr teuer. Hätte sie gerade eine Dose Neid gehabt, ja, dann wäre sie neidisch geworden auf ihn, weil er soviel fühlen konnte.
Warum unterdrücken wir eigentlich die Gefühle, gerade das, was uns als Menschen ausmacht? Warum wollen wir Unmenschen sein, nur weil wir dann „erfolgreicher“ sind und uns eine sichere Zukunft erwartet? Aber wenn ich anders sein will und fühlen will, ende ich dann nicht so asozial wie der Penner?
Sie schüttelte nur den Kopf und schüttelte mit der Bewegung die seltsamen Gedanken ab, die plötzlich in ihr aufgekeimt waren.
Ohne den Mann noch einmal anzusehen ging sie geraden Schrittes zur Tankstelle. Unter tauben Atemzügen und gelähmten Gedanken, kaufte sie eine Tüte mit Trauermischung. Auf dem Weg nach Hause fühlte sie sich schutzlos und verletzt, aber sie wusste, was sie dagegen tun würde: Die Gefühle unterdrücken.
Auf der anderen Straßenseite sah sie den Bettler. Ihre leeren Gesichtszüge nahmen Farbe an und sie ging zu ihm herüber. Ohne ein Wort zu sprechen gab sie ihm das Wechselgeld. „Danke, Vielen Dank, du bist ein guter Mensch“, meinte er und strahlte übers ganze Gesicht. Seine Freude hatte einen seltsamen Effekt auf sie; auch sie lächelte.
Ich bin ein Mensch, dachte sie und lief nach Hause, wo eine ungeschriebene, weiße Zukunft sie erwartete.
Traumwächterin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.03.2008, 18:30   #2
Hans Werner
 
Dabei seit: 03/2008
Beiträge: 84


Hallo Traumwächterin,

schon einer der ersten Sätze Deiner Geschichte läßt aufhorchen:

Zitat:
Der Tag flüchtete sich bereits hinter den Horizont der nicht allzu fernen Zukunft, in der das Mädchen mit seinen Eltern lebte.
Das ist schön. Dann folgt die Kernthese Deines Textes, dass in unserer Zeit in unserer Gesellschaft Gefühle unterdrückt werden.

Zitat:
In der heutigen Gesellschaft aber war es so, dass die Kinder lernten ihre Gefühle zu unterdrücken. Sie gehörten nicht in die Schule und später nicht an den Arbeitsplatz. Die Empfindungen behinderten einen nur und verhinderten Karriere und Erfolg. Gefühle waren Privatsache.
An Deiner Stelle würde ich hier das Präsens verwenden. Denn Dein Text ist ja als ein zeitkritisches Dokument zu verstehen. Auch die Begegnung mit dem Bettler, die übrigens sehr eindrucksvoll darstellt wird, erweckt im Leser das Gefühl des Gegenwärtigen.

Zitat:
Dass er zuvor langsam auf sie zugegangen war, hatte sie natürlich nicht mitbekommen.
Jetzt stand er da und schaute sie an. Er sah aus, als wäre er heute Morgen aus der Mülltonne gestiegen und hätte anschließend ein frisches Bad im nächsten Schlammloch genommen.
Auch das ist schön geschrieben. Vor allem beeindruckt die Originalität Deiner Ausdrucksweise ("ein frisches Bad im nächsten Schlammloch"). Der Schlusssatz schließlich zielt eindeutig auf die Zukunft:

Zitat:
Ich bin ein Mensch, dachte sie und lief nach Hause, wo eine ungeschriebene, weiße Zukunft sie erwartete.
Insgesamt habe ich Deinen Text sehr gerne gelesen.

Viele Grüße

Hans Werner
Hans Werner ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.03.2008, 19:24   #3
Traumwächterin
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 112


Huhu Hans Werner :-)

Erst einmal Vielen Dank für deinen Kommentar, freut mich sehr, dass du die Geschichte gerne gelesen hast.

Ja, natürlich habe ich versucht diese Zukunftsvision stark an die Gegenwart anzulehnen – der Leser sollte sich ja auch angesprochen fühlen und sich darin wieder finden können -, aber ich weiß nicht, inwieweit es wirklich sinnvoll wäre Präsens zu verwenden. Ich persönlich finde es immer störend, wenn ein Text die Zeitform ändert, weil es meiner Meinung nach den Lesefluss behindert … obwohl ich dir natürlich zustimme, dass dieser Gegenwartsbezug dadurch noch deutlicher würde. Werde auf jeden Fall darüber nachdenken ;-)

Freut mich, dass dir das Bild mit dem Schlammloch gefällt – zumal es mir persönlich auch sehr gut gefallen hat … *g* War mir nur etwas unsicher, ob es so gut "ankommen" würde.

Liebe Grüße
Traumi
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