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Alt 08.07.2018, 17:52   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Nur ein Traum ist zu wenig

11:30 Uhr. Ich betrete meine Stammkneipe und sehe vertraute Gesichter. Nachtfalken. Noch ehe ich mich über die Theke beugen kann, hat der Schankwirt ein Glas Whiskey für mich gefüllt und die angebrochene Flasche daneben gestellt.

Das Gesicht neben mir ist neu. Ein Mann mittleren Alters sieht mir beim Trinken zu und hält mir sein leeres Glas entgegen. Ich nehme die Whiskeyflasche und gieße ihm ein.

„Danke. Lust zu reden?“

„Sind Sie einer von diesen Psycho-Gurus, die jedem Menschen den Weltschmerz von der Nasenspitze puhlen wollen?“

Er lacht. „Ich bin Löscharbeiter im Hafen, der sich zufällig für Menschen interessiert. Laufen mir schließlich genug davon täglich über den Weg.“

Inzwischen habe ich mein Glas gelehrt, und er schenkt mir nach.

„Also, wo tut es weh?“

„Ich habe einen Sohn.“

„Das ist doch wunderbar.“

„Ich bin nicht sein Vater.“

Der Fremde schweigt. Er lässt mir Zeit. Die Flasche Whiskey ist halb leer.

„Als ich zwei Jahre nach dem Krieg aus der Gefangenschaft zurückkam, stand Katharina am Bahnhof, und als ich aus dem Waggon stieg, fiel sie mir um den Hals und weinte. Ich dachte, sie weinte wegen mir, und ich war glücklich.“

Mein Glas ist leer, und der Fremde schenkt nach.

„Sie hatte das Kind in der Obhut meiner Schwiegermutter gelassen. Ein hübscher Junge. Hohe Wangenknochen, große blaue Augen, helle Haut, blondes Haar. Freundlich, offen und vertrauensselig. Das Kind eines Russen.“

„Ihre Frau war vergewaltigt worden?“

„Nein. Es war ein Handel. Schönheit ist eine harte Währung. Schönheit vergewaltigt man nicht, man macht sie zum Geschäft. Ein russischer Offizier versorgte die Familie … und sich selbst.“

Der Fremde lässt eine neue Flasche Whiskey kommen.

„Ihre Frau weinte, weil sie sich schuldig fühlte?“

Ich nehme einen Schluck und nicke.

„Aber Sie wissen, dass es nichts mit Gefühlen zu tun hatte, sondern mit dem Instinkt, überleben zu wollen.“

Meine Antwort kommt spontan. „Genau das weiß ich nicht!“

Der Fremde weicht erschrocken zurück. „Aber es war doch eine Notlage.“

„Was wissen Sie denn? Katharina schweigt sich über den Russen aus. Ich sei ihr Mann, niemand sonst, sagt sie. Wenn ich sie frage, ob der Russe jung oder alt, attraktiv oder hässlich war, weicht sie aus. Das sei nicht wichtig, sagt sie. Aber wenn ich den Jungen ansehe …“

„Sie lieben das Kind?“

„Vom ersten Augenblick an.“

„Sie könnten Vater eines leiblichen Kindes werden.“

„Nicht mit Katharina, das ist vorbei. Ich hasse sie.“

„Warum lassen Sie sich nicht scheiden? Sie sind jung genug, nochmal anzufangen. Besser, als sich dem Suff zu ergeben.“

„Mann, sie verstehen aber auch gar nichts. Wie heißen Sie überhaupt?“

„Jung, Karl Jung. Aber das ist reiner Zufall. Und Sie?“

„Arschloch. Ich heiße Arschloch. Ich weise die Frau zurück, die sich nach mir verzehrt, und ich liebe ein Kind, das nicht mein eigenes ist. Ich bin verrückt vor Eifersucht und bis ins Mark gekränkt. Ich sehe den Weg vor mir und kann den Fuß nicht auf ihn setzen, weil ich Angst habe, mir die Sohle zu verbrennen. Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten und wo links und rechts ist.“

Der Fremde lässt mich ausschweigen, bis ich endlich wieder Worte finde.

„Ich habe meinen Traum verloren. Den einzigen, den ich hatte.“

08.07.2018
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.09.2018, 16:54   #2
wolfgang
 
Dabei seit: 02/2005
Beiträge: 223


Gut erzählt und auch noch mit Bonmots.
wolfgang ist offline   Mit Zitat antworten
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