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Alt 26.01.2011, 19:15   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Der Alte von nebenan

Meine Vorliebe für kalifornischen Rotwein war der Segen des Abends.

Ich hatte meinen Feierabend brav mit meinem dreißigminütigen Gestampel auf dem Home-Trainer begonnen und dann die Glotze eingeschaltet, um mir die Liveübertragung des Pokalspiels anzusehen. Was dem einen sein Bierchen beim Fußball ist, war für mich ein gepflegtes Glas kalifornischen Rotweins. Der Ärger war nur: Ich hatte keinen im Haus.

Also schlüpfte ich nach der ersten Halbzeit in meine Schuhe, schnappte mir die Autoschlüssel und düste in die Tiefgarage. Der Supermarkt hatte bis bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet, und er war nicht weit, ich konnte es pünktlich bis zum Wiederanpfiff schaffen.

Als ich mit meiner Beute das Treppenhaus hinaufgestiegen war und vor meiner Wohnungstür stand, glaubte ich vom Gang weiter hinten ein Stöhnen zu hören. Aber ich war nicht sicher. Es gab auf der Etage vier Wohnungen, je eine links und rechts und je eine am Anfang und am Ende der Etage. Aus der hintersten Wohnung drangen Geräusche, aber dann hörte ich dazwischen wieder dieses seltsame Stöhnen. „Der Alte,“ dachte ich, ging zu seiner Tür und lauschte. Dann hörte ich das Stöhnen und Ächzen ganz deutlich. „Herr Klein,“ rief ich, „ist etwas passiert?“

„Hilfe,“ drang seine zerbrechliche Stimme durch die Tür. „Oh je, oh je ... ich kann nicht ...“

„Herr Klein, was ist passiert? Können Sie die Tür aufschließen?“

„Gleich ... ich bin gestürzt. Gleich ...“

Ich wartete. Aber außer einem verhaltenen Rumoren tat sich nichts.

„Herr Klein, ich bin noch da!“

„Ja ... ja ... gleich,“

„Kann ich Ihre Tochter anrufen, haben Sie die Nummer im Kopf?“

„Ach, die ist nicht zu Hause. Gleich!“

Ich stürzte die Treppe hinunter ins Erdgeschoß und klingelte beim ersten Nachbar – keiner da. Beim zweiten Nachbar – keiner da.

Wieder hinauf in den ersten Stock. Da ich kein Handy besaß, holte ich das schnurlose Festnetztelefon aus meinem Wohnzimmer und steckte es in die Jackentasche. Ein kurzer Blick auf das Fernsehgerät: Das Spiel stand 2:2 und roch nach Verlängerung. Dann stand ich wieder vor der Tür des Alten.

Ich kannte ihn seit fast dreizehn Jahren. Er wohnte zusammen mit seiner Frau bereits in dem Haus, bevor ich einzog, das Ehepaar gehörte zu den Ersteigentümern des Neubaus. Vor über zwei Jahren war seine Frau gestorben, seitdem lebte er allein. Seine Tochter sah jeden Tag nach ihm.

Trotz seiner sechsundachtzig Jahre und obwohl er wackelig auf den Beinen war, erledigte er immer noch die kleineren Einkäufe selbst und achtete darauf, stets sauber und adrett gekleidet zu sein.

Ich traute mich kaum, den Mund nochmal aufzumachen. Was, wenn sein letztes Stündlein gerade schlug – und ich wäre die Zeugin?

Aber irgend etwas mußte ich tun.

„Herr Klein? Schaffen Sie das, können Sie aufschließen?“

„Gleich!“

Dann, endlich, das Klacken von Metall an der Wohnungstür: Der Schlüsselbund! Aber ein Rutschen und Scharren. Verdammt! Er bekam den Schlüssel nicht gesteckt.

Ich wartete. Solange die Geräusche da waren, gab es Hoffnung. Mein bester Zeuge war das Arbeiten meines Herzmuskels. Sekunden später wußte ich: Der lieblichste Ton, den ein Ohr vernehmen kann, ist das Drehen eines Schlüssels im Schloß!

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und da saß mein alter Nachbar auf dem Boden des Flurs, völlig erschöpft und spindeldürr, eine handvoll Mensch ohne Kraft. Er trug nur ein Unterhemd und eine lange Unterhose – zu meiner Verwunderung aber Straßenschuhe. Und seine Unterarme waren beide bandagiert.

Ich quetschte mich durch den Türspalt und versuchte, ihn aufzurichten. „Ich kann nicht,“ sagte er, und ich begriff, daß er nicht nur kraftlos war, sondern auch Schmerzen hatte. „Vielleicht kann ein Nachbar helfen,“ schlug er vor.

Ich lief also wieder ins Parterre und klingelte an der Tür der neuen Nachbarn, einem Ehepaar, das vor einigen Wochen erst eingezogen war. Der Mann öffnete. „Können Sie mir helfen? Herr Klein, der Nachbar über Ihnen, ist gestürzt, und ich kann ihn allein nicht mehr auf die Beine bringen.“

„Wieso? Ist er denn wieder zu Hause? Der war doch schon heute vormittag gestürzt, und weil keiner in die Wohnung konnte, hatte ich die Feuerwehr gerufen. Die hatten ihn ins Krankenhaus gebracht.“

Wie sich herausstellte, hatten die Ärzte meinen alten Nachbarn untersucht, ihm Blut abgenommen und festgestellt, daß „alles in Ordnung“ sei. Auf sein Betreiben hin wurde er nach Hause entlassen. Gegen Altersschwäche gibt es nun einmal keine Medizin.

Mein neuer Mitbewohner, eine stämmiger, kräftiger Mann, half mir, Herrn Klein vom Boden zu heben und in Richtung Schlafzimmer zu geleiten. Aber kurz vor dem Ziel versagten dem Alten die Beine. Also schoben wir ihm einen Stuhl unter, damit er sich erst einmal ausruhen konnte.

„Kann ich jemanden anrufen?“ frage ich ihn.

„Im Wohnzimmer, da ist ein Buch mit Telefonnummern ... im Schrank.“

Ich riß Türen und Schubladen auf, konnte aber kein Buch finden. Dann fiel mein Blick auf den Eßtisch, und dort lag, neben einer Kaffeetasse und einem Gebiß, ein Telefonverzeichnis. Ich ging die Namen durch. „Heide?“ „Das ist meine Tochter, aber die ist heute abend nicht zu Hause.“ Also die Handy-Nummer. Keine Antwort. Vielleicht war sie ja doch schon wieder daheim. Festnetznummer – auch keine Antwort. „Wer ist Gerhard?“ „Den kann man vergessen.“ „Und Florian?“. Das ist der Sohn meiner Tochter.“ „Also Ihr Enkel?“ „Ja, mein Enkel. Aber der macht auch nix.“

Ich rief Florian an und hatte Erfolg.

Mein Nachbar aus dem Parterre durfte sich verkrümeln, und während wir auf Florian warteten, erzählte mein Alter vom Krieg – Frankreich, Italien, Verwundung, Gefangenschaft. Ja, eigentlich hatte er auch das Spiel sehen wollen. Es stehe 2:2, sagte ich ihm und fand nichts unwichtiger in der Welt, als diese beiden Ziffern mit dem Doppelpunkt in der Mitte.

Als Florian da war, bedankte er sich für meine Hilfe. Die Angelegenheit war ihm peinlich, aber was soll man mit einem Menschen machen, der Angst vor dem Tod hat und nicht in einem Krankenhaus bleiben will, weil „Krankenhaus“ und „Tod“ für ihn ein Synonym sind?

Ich ging in meine Wohnung, zog meine Winterjacke und die Schuhe aus, machte die Weinflasche auf und setzte mich mit einem gefüllten Glas vor das Fernsehgerät. Verlängerung. Die Entscheidung fiel drei Minuten vor Schluß. Kein Elfmeterschießen, die letzte Chance eines Underdog, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen. Wieder hatte der Stärkere gesiegt – wie im richtigen Leben.

Ich nahm das nur am Rande wahr, zu sehr war ich mit den Bildern des Abends beschäftigt. Bis sich ein Gedanke verfestigte, den ich nie für möglich gehalten hatte: Ich begann, meinen Abgang von dieser Welt zu planen.

26. Januar 2011
© Ilka-M.
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Alt 26.01.2011, 21:39   #2
Thing
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Halli Hallo, Ilka-Maria!

Abgesehen von ein paar Flüchtigkeitsfehlern ist alles sehr gut geschrieben.
Der Absatz mit dem Herzmuskel + Öffnen der Tür geht unter die Haut.
Aber der letzte Setz läßt einem den Atem stocken. Welche Intensität in den wenigen Worten!

Lob!

Thing
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Alt 27.01.2011, 15:42   #3
männlich Bullet
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Hi Ilka,

eine schöne kleine Geschichte hast du da geschrieben, die ich gerne gelesen habe. Besonders gefallen hat mir der nüchterne Stil, der die sich bei diesem Thema fast aufdrängende Rührseeligkeit gekonnt vermeidet.

Gruß
Bullet


PS: Was hast du gegen Schalke?

PPS: Zum Thema "Abgang planen": Wie wärs zum Finale der nächtsen oder übernächsten oder überbernächsten (je nach Lust und Laune) Fussball WM als Höhepunkt des Public Viewing. Das wär doch n Kracher, oder?
Bullet ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.01.2011, 16:11   #4
weiblich Ilka-Maria
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Vielen Dank, Bullet.

Die Geschichte ist übrigens keine Fiktion.

Ich habe nichts gegen Schalke, ganz im Gegenteil: Wenn meine Jungs letzte Woche gegen den Club nicht unnötigerweise versagt hätten, wäre ich am Dienstagabend auf dem Bieberer Berg gewesen und hätte von der Misere meines alten Nachbarn nichts mitbekommen. Es sollte wohl so sein.

Liebe Grüße
Ilka-M.

Geändert von Ilka-Maria (27.01.2011 um 18:47 Uhr) Grund: ohne
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Alt 27.01.2011, 17:00   #5
weiblich Aquaria
 
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Ich finde es geschickt, wie du den "gemütlichen Abend" mit Fußballspiel und Rotwein als Rahmen für das bittere Erlebnis mit dem Nachbarn benutzt. Was formal nur den Text einleitet und abschließt unterstreicht zusätzlich den Gegensatz zwischen Alltag und dem Entgleiten des Alltags, zwischen "mitten im Leben" und "am Ende des Lebens".

Gleichzeitig lassen sich aber Parallelen zwischen Erzählerin (du sagst ja, dass es eine faktuale Geschichte ist) und Nachbar ausmachen. Beide sind zumindest an diesem Abend allein. Und genauso, wie es der Erzählerin schwer fällt, jemanden zu erreichen, der dem Alten hilft, findet sie zunächst niemanden, der ihr hilft, die Situation zu meistern.

Also nur folgerichtig, dass ihr diese Parallelen am Ende auch selbst auffallen und dass sie, zwar zurück "mitten im Leben" bei Rotwein und Fußball, die Erfahrungen produktiv verarbeitet um den "Abgang von dieser Welt zu planen".

Ich verstehe diesen letzten Satz so, dass sie sich vielleicht überlegt, welche Möglichkeiten sie hat mit dem eigenem Alter umzugehen. In der Geschichte wirkt sie wie eine tatkräftige Person, die die Dinge selbst in die Hand nimmt (sie hätte ja auch einfach nen Krankenwagen anrufen können), also informiert sie sich jetzt vielleicht über Einrichtungen, Kosten ...um die Entscheidung über sich selbst nicht irgendwann anderen überlassen zu müssen.


Auf keinen Fall würde ich denken, dass sie einen Selbstmordversuch plant, o.ä.

Hinweise auf Rechtschreibfehler schenk ich mir mal
Aquaria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.01.2011, 17:21   #6
weiblich Ilka-Maria
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Da ist zuviel hineininterpretiert. Es war alles reiner Zufall, denn normalerweise fahre ich nicht am Abend los, um mir eine Flasche Rotwein zu besorgen. Die Parallelen sind nicht absichtlich angelegt. Ich weiß bis jetzt nicht, weshalb ich dieses Bedürfnis hatte, nochmal in den Supermarkt zu fahren, zumal ich in diesen Tagen mit einer heftigen Erkältung kämpfe.

Und doch: Mit dem Abgang ist Selbstmord gemeint - was denn sonst?

Gestern um die Mittagszeit kam die Ambulanz und hat den Alten abgeholt. Die Tochter und der Enkel standen auf dem Balkon und haben von dort aus zugesehen (!), wie er in das Auto verfrachtet wurde. Niemand hat ihn begleitet. Das hat mir den Rest gegeben.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.01.2011, 17:31   #7
weiblich Aquaria
 
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Zitat:
Und doch: Mit dem Abgang ist Selbstmord gemeint - was denn sonst?
Hm, mir ist das Motiv nicht klar, aber ehrlich gesagt will ich bei einem faktualen Text da auch nicht zu sehr dran rühren.

Habe ja schon geschrieben, wie ich es verstanden hatte.
Aquaria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.01.2011, 17:43   #8
weiblich Ilka-Maria
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Okay.

Übrigens: Man darf mich ruhig auf Rechtschreibfehler bzw. Tippfehler aufmerksam machen, dann kann ich das in meiner Datei ändern. Ich bin keineswegs perfekt. Leiden kann ich es bloß nicht, wenn jemand mit Sprache schlampig umgeht und das auch noch verteidigt.

Ein paar Fehler habe ich selbst schon gefunden.
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Alt 28.01.2011, 12:32   #9
Ex-Odiumediae
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Sehr gut geschrieben. Wie Bullet angemerkt hat, der nüchterne Stil, ohne moralisches Geseier gefällt mir sehr gut. Außerdem ist die Geschichte spannend geschrieben und wie man es von dir gewohnt ist, bedienst du dich einer präzisen Wortwahl, die deinem gesamten Stil gut ansteht. Außerdem bringt sie einen zum Nachdenken – und das ist das Wichtigste an Kurzgeschichten. Einen negativen Punkt vermag ich nicht zu finden.

Die Geschichte erinnert mich an eigene Pläne. Je mehr ich alte, einsame und hilflose Menschen beobachte, desto weniger will ich selbst alt oder hilflos werden. Ich habe mir mal das Ziel gesetzt, mir selbst mit Mitte fünzig den Rest zu geben, aber bis dahin, sollte ich das Alter überhaupt erleben, meinen größten Gelüsten Folge zu leisten.
Ex-Odiumediae ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.01.2011, 13:07   #10
weiblich Ilka-Maria
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Danke für den Kommentar.

Du hast noch Zeit (ich übrigens auch), und man kann nicht wissen, wie es einen trifft. Meine Mutter ist 81 und sorgt trotz einiger Wehwehchen noch immer für sich selbst und hält ihre (relativ große) Wohnung alleine in Ordnung.

Was ich meine, ist, daß man sich trotzdem rechtzeitig schlau machen kann, welche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, wenn es hart auf hart kommen sollte. ich sehe da als Beispiel Hannelore Kohl, die lange durchhielt, dann aber keinen Sinn mehr darin sah, sich täglich dem gleichen aussichtslosen Kampf zu stellen.

Lieben Gruß
Ilka-M.
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