Tagebuch

[Ilka-Maria]

Ich schlag es auf, das alte Buch,
und wende die vergilbten Seiten
und rieche Muff und Altgeruch,
bebildert von antiken Zeiten.

Ich stecke meine Nase rein
und fress die Zeilen mit den Augen,
doch was ich lese, macht mir Pein
und will zum Selbstwert nicht viel taugen.

Denn was mir in den Händen ruht,
das ist der Aufsatz meines Lebens,
da war nur wenig recht und gut,
die meiste Mühe war vergebens.

9. April 2014
© Ilka-Maria

[Thing]

und fress die Zeilen mit den Augen,

ist gut.
Besser fände ich

verschling die Zeilen mit den Augen.
Das nur nebenbei.
Da ich LI alles nachempfinden kann und den Text auch als Reflexion sehe -
traurig!
Deprimierend.
Hoffentlich nicht authentisch.

Thing

[Ilka-Maria]

"verschling die Zeilen" hätte den Rhythmus gesprengt.

Kurze Wörter sind in der Regel stärker als lange/längere Wörter. "Fressen" klingt kraftvoller (und auch gewalttätiger) als "verschlingen". Um zu fressen, muss gejagt werden, um zu verschlingen genügt Aas.

Ich liebe die kurzen und kraftvollen Wörter. Vor allem, wenn sie ohne Vorsilben auskommen. Es sind genau diese Wörter, welche die Poesie bereichern.

[Thing]

Wo Du recht hast, hast Du recht!

[gummibaum]

Hallo Ilka,

mir gefällt das rohe Wort "fress" besser. "Die Nase rein" liegt doch auf gleicher Ebene. Es wirkt auf mich als ironische Distanz, mit der über jdn. geschrieben wird, der sich gierig (und nicht nur heißhungrig) bis über die Ohren ins -wie sich dann zeigt - Ungenießbare hineinbohrt.

Ja, diese alten "Aufsätze". Manchmal sucht man darin eine Botschaft. Und stößt auf Mühen, die am Thema vorbeigingen.

Gern gelesen
gummibasum

[UdoFrentzen]

Stimme für 'fress'.
Im Deutschen sagt man z. B.:
"Friss das nicht in dich hinein."
Im Englischen sagt man z. B.:
'You'll have to eat your own words.'

[Perry]

mir gefällt das kurze "fress" auch besser als das lange "verschlingen", auch wenn letzteres im Kontext zu lesen besser passt. Alternativ könnte ich mir noch "schling" oder "tilg" vorstellen.
Was mich mehr stört ist das "antik", denn das passt nicht zur "kurzen" Erinnerung eines (eigenen) Tagebuches.
LG
Perry

[Thing]

Anregung:

Ich stecke meine Nase rein,
verschling die Zeilen mit den Augen,

[Ilka-Maria]

Vergesst alles, was mit "schlingen" bzw. "verschlingen" zu tun hat! Das ist kein Synonym für "fressen", sondern bedeutet, etwas gierig und hastig hinunterzuschlucken, wobei die Nahrung kaum zerkaut wird. Das Wort "schlucken" leitet sich von "schlingen" ab. "Verschlingen" entsprich in etwa dem englischen "to wolf down". Da geht es um wahren Hunger, wobei es dem Hungrigen völlig egal ist, woraus die Nahrung besteht und ob sie schmeckt, wenn nur der Bauch schnell voll wird. Das ist in meinem Gedicht aber nicht der Fall. Da "fressen die Augen" zwar auch mit einer gewissen Gier, aber sie entspricht eher der Begierde oder Neugier, denn das lyrische Ich ist sehr wohl am Inhalt dessen interessiert, was im Tagebuch geschrieben steht.

"Verschlingen" ist ein zu unkultiviertes und animalisches Wort, um hier einen Platz zu finden (wer käme auf die Idee zu sagen: "Ich habe dich zum Verschlingen gern"?). Außerdem suggeriert "verschlingen" keine Lesespannung, sondern ein gehetztes, flüchtiges Lesen.

Trotzdem danke, dass Ihr Euch so viele Gedanken gemacht habt.

LG
Ilka

[Thing]

Wie oft las ich:

"Er verschlang sie mit den Augen".
Deshalb glaubte ich, es böte sich hier an.

[Ilka-Maria]

Zitat von Thing

Wie oft las ich:

"Er verschlang sie mit den Augen".
Deshalb glaubte ich, es böte sich hier an.

Ja, das kenne ich auch, aber genau das ist diese animalische Gier, die hier - auf Menschen bezogen - eine sexuelle Komponente hat. Das ist Verlangen in reiner Form. In meinem Gedicht geht es jedoch um Neugier und gespanntes Interesse.

[Thing]

Ja, überlassen wir das Lesen (und Fressen) der Ratte!

[Ilka-Maria]

"Tagebuch einer Ratte" finde ich hübsch, das bringt mich auf Ideen.

[Thing]

Ich hatte die "Leseratte"-Assoziation.

[Ilka-Maria]

Zitat von Thing

Ich hatte die "Leseratte"-Assoziation.

Weiß ich doch! Bin ja selbst eine.

[Thing]

Eben!