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Alt 25.09.2008, 01:08   #1
Zebul
 
Dabei seit: 06/2008
Beiträge: 15


Standard Posthum - Eine Prager Geschichte

Posthum

Eine Prager Geschichte


Der müde Oktoberabend lugte mit violetten Augenrändern aus den runden Fensterscheiben der gegenüberliegenden Mansarde direkt in die dunkle Stube und irrte einige Male zwischen Lampe, Stuhl und dem hohen dämmernden Bücherregal hin und her bis er sich dazu entschloss, vor dem ebenfalls müden jungen Herrn K. auf einem offenen Buch zu landen. Mit einer zagen Bewegung klappte der Traumverlorene die gähnenden Seiten zu und blickte auf den Deckel: „Jaroslav Vrchlický.“ Er bemühte sich, dem Schauspiel seines verschlafenen Gesellen noch eine Weile zu folgen, wurde jedoch von der Pendüle, die ernstergeben mit ihren Zeigerbewegungen die Schreibversuche seiner Hand wie ein Metrum stündlich mit einem Klack überprüfte, zurückgeholt und wieder an seine Arbeit erinnert.

Er starrte aus dem frostigen Fenster: Es war Herbst. Die beschäftigten Leute auf den Straßen zwängten sich in ihre warmen Mäntel, in denen sie aufgeplustert mit aufgestülpten Hüten auf den Köpfen noch Einkäufe erledigten oder Bekannte trafen. In der Weite der Gassen, die sich ineinander dunkel zu verschlingen schienen, konnte man die noch ziellos Umherirrenden wie weggetriebene Bojen an der einen oder anderen Häuserbucht entdecken – und manchmal schien es so, als ob sie sich alle zu einer ungeheuren Woge auftürmten, um dann wieder bunt an den Häuserwänden zu zerschellen. Hier und da traten die lichtverkleideten Villen am Stadtrand mit ihren Erkern und Giebeln wie feine Herren aus der dichten Dämmerstunde und rauchten ihr allabendliches Schornsteinschwarz, während unter ihnen die zum Spalier angeordneten Straßenlampen den noch Bußetuenden den nebelverschneiten Weg bis zur Kirche wiesen.

Der junge Herr K. hatte in den letzten Wochen alle Mühseligkeiten, die der Herbst mit sich brachte, in sich aufgenommen, und nun war es ihm so, als ob er sich gesättigt und gesund in seinem Plumeau vergraben könne, um den nahenden Winter zu überstehn.
Nicht das er etwa oft krank oder gar anfällig für plötzlich hereinbrechende Wetterverhältnisse oder unangekündigte Besuche von nebenan war, jedoch wusste er, womit sich so mancher, der allein in einem Haus lebt – und wahrscheinlich auch noch lange allein in einem Haus leben muss – herumplagt, und das die Dinge, die sich sonst verwandt und erwärmend zeigen, auf einmal fremd und kalt und sich unbemerkt ähnlicher werden. Aber Herr K. hielt es sich anders mit den Bequemlichkeiten seiner näheren Umgebung. Er zog es vor die Zeit, die er nicht hier drinnen verbrachte, anderswo zu vergeuden. Und man konnte sagen, dass sich dieser Ausgleich rentierte: Abends besuchte er die Lesungen in den schummerigen Lokalen der Stadt und hörte, lauschte und fand sich in diesem Stimmenschwirren, in dem die Silben sich gegenseitig verschlangen, sich verflüchtigten oder sich leise wieder silbern zusammenrollten entweder willkommen oder – das war häufiger der Fall – als fremder Gast, dessen eigenartiges Verhalten zu Tisch nur von einer weit entfernten und unbekannten Kultur stammen könne, vor. Aber er lernte diese Abende kennen und lernte sie auch zu hassen und zu verabscheuen wann immer sie ihn an seine Kindheit zurückerinnerten, als sein Vater den Lesenden mit großen Händen gratulierte und er selbst, ruhig und verträumt, mit kleinen Augen die undurchdringbaren Dinge, die sich da abspielten, zu durchdringen versuchte.

Und jetzt saß er hier.
Er lächelte und sah sich wieder vor diese Wand gestellt, an der die Schatten seiner Kindheit geheimnisvoll vorübergingen.

„Nein!“ Er wollte dieses Stück Papier, welches von seiner Hand erwärmt, sich etwas nach oben wellte endlich zu den anderen geschriebenen Skizzen und Versen (gewiss noch dürftige Versuche und Anfänge) legen – doch da war nichts, womit er hätte anfangen können – nichts.

Wenn es regnete so war das kein Regen mehr, sondern nur noch Wasser, das die Scheiben spülte, und wenn die Sonne durch die Gardinen blinzelte und sich langsam vorwärts tastete so war das keine Sonne mehr, sondern ein gleißendes Licht, das sich den Kranken und Bettlägrigen im Fiebermorgen wie ein heißes Band um die stumpfen Stirnen spannt.
Das alles störte den jungen Herrn K. und er begann sich umzusehen: Bisher kamen nur der große schwarze Ofen und die hohen Wandschränke als Zeugen seines heranschleichenden Versagens in Betrachtung – und sie warteten schon mit ihrer stummen Gleichgültigkeit auf die ersten Worte.
Die Zeit floss mit jeder Sekunde zäher durch den Raum und es quälte ihn dabei zusehen zu müssen wie die Dinge um ihn herum größer und beständiger wurden.

Die Tage, die er bisher verbrachte, waren erfolglos und ohne nennenswerten Fortschritt sinnlos vorübergezogen wie das tägliche Geklapper und Geklirre der Kutschen auf dem grauen Pflaster... .Bis zum späten Vormittag kauerte er in seinem Bett, fühlte sich schlecht, unausgeschlafen und von seiner Schreibarbeit nicht ausgeschöpft. Spät erst stand er auf, aß eine Kleinigkeit, stapelte die Bücher und schob sie manchmal zu dicken Pfeilern zusammen, um zu sehen, auf welchen Bänden das Licht am Schönsten schimmerte.
Wenn ihn sein Vater jetzt so sähe, sein Vater, der berühmte Literat und Schriftsteller, der ihn, den jungen Herrn K., oft mit zu Lesungen oder Bücherrezensionen mitnahm, sein Vater, der die Anstrengungen verstand und die bequemen Visionen des Schriftstellerdaseins seines Sohnes immer mit Mahnung und zögerlicher Akzeptanz zügelte.

Und es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf: ...Herr K., ... Herr K... .

Er hätte alles dafür gegeben, dass etwas – und sei es auch nur das geringste – von seinem Vater auf ihn überging, und meinte diese seltenen Stunden in der grünen Stille (in der das Schlagen der Hufe draußen schwächer wurde) vernommen zu haben. Wie hatte er sich da sicher gefühlt: Die zittrige Hand führte die fast schon heilige Bewegung auf dem weißen Stück Papier so genau und so anschaulich aus. Und wie hatte er sich doch geirrt, als die Pendüle mit dem verschnörkelten Arm auf eine Eins zeigte, ihren heimtückischen Signalton von sich gab und die Stunden wie ein altes Weib am Webstuhl abzählte.

Draußen drängte sich die Nacht mit fremden Gebärden gegen das fröstelnde Fenster, als wolle sie an einem dunklen Ort Zuflucht finden, zu dem ihr ein noch dunkleres Leben leise, sehr leise Zutritt gewährte.

Der junge Herr K. sah auf. Ein Brief, den er schon gestern erhalten hatte, lag ungeöffnet auf seinem Schreibtisch und ruhte im Kuvert. Er konnte ihn noch nicht lesen, erst musste das Geschriebene auch wirklich geschrieben und überprüft und überarbeitet sein, bevor alles andere, alltägliche Pflichten und sonstige Erledigungen, folgen durften. Seinen Angewohnheiten ausweichend öffnete der neugierige K. den Brief und flog mit seinen Augen, als ob es sein eigener Text wäre, Korrektur und schauerte von den Worten, die er für sich hervorhob:

Mit Bedauern... mittags um Zwölf... Herr K. ... nach langer Krankheit... ... Beileid...

– er brauchte nicht weiterzulesen.
Alles stand fest.

Ganz langsam verengte sich seine Brust und schloss sich wie eine heiße Rüstung um seinen Körper, der ihn unter immer schwerer werdendem Gewicht nach unten zog, seine Finger krallten sich an die Schreibtischkante und pressten sich in das harte Holz – und er sank etwas tiefer in seinen Stuhl. Auf dem weißen Papier, worauf die Augen scharf herunter sahen, schien sich ein großer Fleck zu bilden, der mit einer dunkelblauen Corona von außen nach innen verbrannte und dann wieder verschwand.

Die Pendüle sank nun auch tiefer und ihre helle Stimme dröhnte dumpf und klanglos durch das Zimmer.

Alles war nun ernster und dichter um den Erstarrten geschart, als jemals zuvor. Ja – er fühlte sich von den Dingen verraten und hintergangen und immer wieder schaute er mit Entsetzen ihre Verschwiegenheit.
Jetzt ähnelten sie sich etwas mehr – und was war da...?
Der junge Herr K., dessen Hand noch immer das Papier anwärmte und das sich ungeachtet dieser Tatsachen immer noch nach oben wellte, nahm einen Stift und begann in stockenden Abständen zu schreiben:

„...Baum...“,
dann „...Wolke...“,
und schließlich
mit abbrechender Mi(e)ne:
„...Haus...“.




Der Tag kam und klopfte ermüdet und ermattet an der Haustür des jungen Herrn K. Dieser öffnete und der ängstlichen Angel bangte vor seiner Wiederkehr.

Er hatte wenig gefrühstückt und stieg, seinen Schal um seinen schmalen Hals gewickelt, mit schwankenden Schritten in die bereitstehende Kutsche. Als diese losfuhr, fiel ihm auf, dass sie vielleicht dutzende Male über ein Straßenloch oder eine verirrte Wurzel polterte und dabei blickte er auf seine Schuhe – sie drückten. Die Füße wippten leicht auf und plötzlich war er wieder in die große warme Stube seines Elternhauses gesetzt: Früher hatte er in dieser immer, bevor er in die Stadt ging, auf dem kleinen Schemel gehockt und seine dürren Beinchen ausgestreckt, die neuen Halbschuhe, groß und glänzend, angestaunt und geduldig gewartet bis sein Va... – er verstummte, der Kopf neigte sich zur Seite und die Straße erschütterte ein weiteres Mal die Kutsche, die auf dem langen Weg bis zur Kirche nur mühsam vorankam.

Die wenigen Bäume standen wie betende Mönche um die ohnmächtige Kirche und strichen mit ihren gespreizten knochigen Fingern von außen an die blinden Fensterrosen, sodass der junge Herr K. sie beim Eintreten in die Halle dauernd hörte und sich unsicher umsah.
Auf den langen Bänken, die sich bis zur Kanzel hin nach vorne stauten, saß schon längst niemand mehr. Die Monstranzen in der schwach beleuchteten Sakristei lagen wie abgeschlagene Sterne in einer Ecke, in der das Sonnenlicht sie nicht entdecken konnte und eine vergilbte Soutane schmiegte sich schmachtend an eine Fensternische. Die Kirche schien leer und verlassen – fast als hätte die Nacht das ganze Elend dieser Stadt mit einem Mal gepackt und in dieses Loch hineingeworfen, welches jeder Vorbeigehende wie eine seltene Krankheit mied.
Alle Kerzen, die jetzt noch brannten, drängten sich um den Katafalk, auf dem der blasse Körper lag. Der Tod hatte die letzten Züge in dieses kalksteinweiße Gesicht gemeißelt und der junge K. bestaunte das vollendete Machwerk des dunklen Bildhauers.

Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter und erblickte den überraschten Pfarrer.


„Ah, Herr K., Sie kommen spät.“
Erschrocken und verwundert stammelte K. nur Unverständliches:
„Wie? Guten Tag, ich dachte... die Kirche...ich wusste nicht, dass Sie... .“
Der Pfarrer fuhr fort:
„Musste ja so kommen... Sie sollten doch schon gestern im Hospiz sein... – Armer Tropf...wollte Sie doch noch sehen...
K. stutzte und schwitzte aufgeregt:
„Was...ich... ich... wusste nicht... konnte nicht... .“
„Musste ja so kommen, musste ja so kommen...“ – und im Fortgehen sprach der Pfarrer noch leise für sich, sodass es für sein Gegenüber kaum hörbar war: „... verschanzt sich die ganze Zeit, und jetzt auch noch das mit seinem Vater... musste ja so kommen, musste ja so kommen.“

Und als der junge Herr K. sich umwand, rief der Geistliche ihm zu:
„Und ihre letzten Worte? Wissen Sie die denn schon?“

Da begann der junge K. zu wanken und stolperte über die Treppenstufe auf den kalten steinernen Flur und sah den schwarz umsäumten Katafalk wie er sich pompös emporhob, aufzusteigen schien und zugleich den Schauenden mit seiner Mächtigkeit niederschmetterte, strafte und demütigte. Und auf ihm ruhte der tote Körper des Vaters und schien in seiner ernsten Haltung und seiner Gewissenhaftigkeit völlig unbeeindruckt von alledem zu sein.

Und... und – da war es wieder!

Es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf:
„Herr K.,... Herr K.,... der große Herr K.,... Guten Tag!... Großartig..., letzte Worte
– letzte Worte!“

Plötzlich wurde K. wütend und begann zu lachen und lachte laut und wurde lauter – er war nicht mehr der junge Herr K., sondern ein Verstoßener, der von der eigenen Familie verachtet wurde, ein Bettler, der vor den Toren einer reichen Stadt stand und nicht eingelassen werden konnte, ein Ausgesetzter, der sich dem Zug tausend anderer anschließen und ewig durch schon tausend Male bereiste Länder ziehen muss – Er war jetzt nicht mehr der junge Herr K., er war nur noch K. war er nur noch.

Und unter Tränen stürzte er aus der Kirche, riss sich den Schal vom Hals und rannte die ganze Straße bis zu seinem Haus, trat in die dunkle Stube, schleuderte die Pendüle auf den Boden, sodass sie in Stücke sprang, starrte gebannt auf das immer noch wartende Stück Papier und murmelte:

„Letzte Worte...Herr K.,... Großartig!“

Dann stieß er die Tür, die ihm sein Vater einst so mühevoll geöffnet hatte für immer zu. –
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